Urteil
Gesetzliche Unfallversicherung - Hörgerät - Festbetrag - Mehrkosten für höherwertiges Hörgerät - ehrenamtliche Tätigkeit als Dirigent

Gericht:

LSG Rheinland-Pfalz


Aktenzeichen:

L 3 U 73/06


Urteil vom:

29.08.2006


Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 21.02.2006 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten im Berufungsverfahren.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten ein Anspruch des 1937 geborenen Klägers auf Erstattung von Kosten für seine Hörgeräteversorgung, die über den in der gesetzlichen Krankenversicherung geltenden Festbetrag hinausgehen.

Der Kläger war von Beruf Stellmacher und Schreinermeister. Seit 1995 besteht bei ihm eine Versorgung mit Hörhilfen.

Auf seinen Antrag vom Oktober 1995 erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 02.04.1996 bei dem Kläger eine Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) an und bewilligte eine Stützrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 15 v.H ...

Der Kläger ist seit mehr als 50 Jahren ehrenamtlich tätiges Mitglied im Blasorchester 1868 H /Ahr, das er seit mehr als 30 Jahren dirigiert. Seit mehr als 26 Jahren bildet der Kläger Nachwuchs des Blasorchesters aus.
Im November 2004 beantragte der Kläger bei der Beklagten die beidseitige Versorgung mit Hörgeräten der Bezeichnung AERO 211 AZ, Fabrikat: P. Nach dem Kostenvoranschlag der Fa. K Hörakustik, B, vom 19.11.2004 belief sich die Gesamtsumme für Hörgeräte einschließlich Nebenleistungen auf 2.633,70 EUR. Abzüglich des Festbetrages bei kassenärztlicher Versorgung in Höhe von 982,19 EUR verbliebe ein Betrag von 1.651,51 EUR.

Mit Schreiben vom 10.12.2004 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie die Kosten für die Hörgeräteversorgung im Rahmen der Festbeträge der Krankenkasse übernehmen werde, wenn neben der Rechnung auch die ohrenärztliche Verordnung einer Hörhilfe im Original übersandt werde. Mit Schreiben vom 09.03.2005 führte die Beklagte aus, der Kläger habe plausibel dargelegt, dass auf Grund seiner ehrenamtlichen Tätigkeit im Blasorchester 1868 H / Ahr Hörgeräte, die über die Festbeträge hinaus gingen, benötigt würden. Die Kosten hierfür könnten jedoch nicht übernommen werden. Die ehrenamtliche Tätigkeit falle in den privaten Bereich. Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 17.03.2005 ausgeführt hatte, er könne die Gründe nicht nachvollziehen, lehnte es die Beklagte mit Bescheid vom 07.04.2005 und Widerspruchsbescheid vom 28.06.2005 ab, die Kosten für die Neuversorgung mit Hörgeräten über die Festbeträge der Krankenkasse hinaus zu übernehmen. Eine Hörgeräteversorgung nach den Festbeträgen sei im Hinblick auf das Ausmaß der bei dem Kläger vorliegenden geringgradigen Hochtoninnenschwerhörigkeit ausreichend, um das Ziel der Heilbehandlung (Ausgleich der Hörminderung) zu erreichen. Bei der ehrenamtlichen Tätigkeit im Blasorchester handele es sich um ein privates Hobby. Die hierdurch verursachten Mehrkosten könnten nicht übernommen werden. Eine Erstattung nach § 39 SGB VII komme nicht in Betracht. Es handele sich bei den Mehrkosten für die Hörgeräte weder um eine besondere Härte noch um eine besondere Unterstützung im Sinne des § 39 Abs. 2 SGB VII.

Durch Urteil vom 21.02.2006 hat das Sozialgericht Koblenz (SG) die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 07.04.2005 in Gestalt der Widerspruchsbescheides vom 28.06.2005 verurteilt, dem Kläger die den in der gesetzlichen Krankenversicherung geltenden Festbetrag übersteigenden Kosten seiner selbst beschafften Hörgeräteversorgung (1.642,51 EUR) zu erstatten. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, in der gesetzlichen Unfallversicherung seien auch Leistungen zu gewähren, um die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu erreichen und sicher zu stellen. Auf entsprechende Leistungen bestehe ein Rechtsanspruch. Dieser könne bei dem Kläger nur durch die über den Festbetrag hinausgehende Versorgung sichergestellt werden. Vorliegend sei eine Ermessensreduzierung auf Null eingetreten, weil hierdurch seine berufsbedingte Hörbeeinträchtigung im Hinblick auf sein ehrenamtliches Engagement im Blasorchester am besten kompensiert werde. Die Beklagte habe auch nicht geltend gemacht, dass eine vergleichbar gute Hörverbesserung zu niedrigeren Kosten erzielt werden könnte.

Gegen das am 06.03.2006 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 03.04.2006 Berufung eingelegt.

Sie trägt vor, Sinn und Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung sei nicht, jede und jegliche Einschränkung im privaten Bereich eines Versicherten auszugleichen. Bei dem Hobby des Klägers handele es sich zudem um eine sehr spezielle private Tätigkeit, die über dies nur einen kleinen Teil seines Lebens in der Gemeinschaft umfasse. Die Teilhabe des Klägers am Alltäglichen, "normalen" Leben in der Gemeinschaft könne mit Hörgeräten nach den Festbeträgen gewährleistet werden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 21.02.2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der die getroffene Entscheidung für zutreffend hält, beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Prozessakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung gewesen.

Hinweis:

Fachbeiträge zum Thema finden Sie im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) unter:
http://www.reha-recht.de/fileadmin/download/foren/a/A_2007-2...

Rechtsweg:

SG Koblenz Urteil vom 21.02.2006 - S 1 U 220/05

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Der Kläger hat Anspruch auf die von ihm beantragte Hörgeräteversorgung, die über die Festbeträge hinausgeht, da bei ihm nur durch diese Versorgung das Rehabilitationsziel erreicht wird.

Dies hat das SG zutreffend festgestellt. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden erstinstanzlichen Entscheidungsgründe Bezug.

Im Berufungsverfahren haben sich keine Tatsachen ergeben, die eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Hilfsmittel sind nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB VII alle ärztlich verordneten Sachen, die den Erfolg der Heilbehandlung sichern oder die Folgen von Gesundheitsschäden mildern oder ausgleichen. Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte unter Beachtung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) Anspruch auf Heilbehandlung einschließlich Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft. Der Unfallversicherungsträger hat nach § 26 Abs. 2 Nr. 3 SGB VII frühzeitig Hilfen zur Bewältigung der Anforderungen des täglichen Lebens und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bereitzustellen. § 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX, der nach § 26 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Vorschrift des Neunten Buches Sozialgesetzbuch zu beachten ist, bestimmt, dass Leistungen zur Teilhabe die notwendigen Sozialleistungen umfassen, um unabhängig von der Ursache der Behinderung die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern. Maßgeblich für die Frage nach der Geeignetheit eines Mittels ist, ob die maßgeblichen Rehabilitationszwecke damit erreicht werden können. Eine Beschränkung auf Festbeträge nach § 31 Abs. 1 Satz 3 SGB VII ist damit bei Hilfsmitteln nur möglich, wenn das Ziel der Heilbehandlung mit Festbeträgen zu erreichen ist, was sich auch aus dem Verweis auf § 29 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ergibt. Maßgeblich bleibt der Grundsatz des § 26 SGB VII, dass die Heilbehandlung "mit allen geeigneten Mitteln zu erbringen ist" (vgl. hierzu Benz, in Hauck/Noftz, SGB VII, Kommentar, § 29, Rn. 4a). Für die gesetzliche Unfallversicherung gilt der Grundsatz einer optimalen Rehabilitation. Die Grenze ist allein die Geeignetheit des Mittels, sodass im Konfliktfall zwischen Qualität der medizinischen Versorgung und Kostenreduzierung im Regelfall der Qualität der medizinischen Versorgung Vorrang einzuräumen ist (vgl. hierzu auch Urteil des erkennenden Senats vom 11.10. 2005 - L 3 U 273/04).

Im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung kommt der sozialen Rehabilitation (Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) eine gleichberechtigte Bedeutung neben anderen Zielsetzungen zu. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX sind Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auch Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben umfassen nach § 58 Nr. 1 SGB VII Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nichtbehinderten Menschen sowie nach Nr. 2 des § 58 SGB VII Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen. Zu berücksichtigen ist damit jedenfalls auch der persönliche Lebensbereich des Versicherten, soweit er in die Gesellschaft hinein wirkt und die Tätigkeit auch unter Nichtbehinderten üblich ist.

Durch sein vielfältiges ehrenamtliches Engagement im Musikverein nimmt der Kläger eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe wahr, die über seine persönlichen Interessen hinausgeht und von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz ist. Ehrenamtliches Engagement in Musikvereinen ist auch bei nichtbehinderten Menschen üblich. Der Kläger betätigt sich im kulturellen Bereich. Der Kläger ist, wie sich aus dem vorgelegten Zeitungsausschnitt vom 05.01.2005 ergibt, seit mehr als 50 Jahren ehrenamtlich in einem Blasorchester engagiert. Er ist mehr als 30 Jahre Dirigent und bildet seit mehr als 26 Jahren Nachwuchs aus. Bereits hieraus ergibt sich ein hohes gesellschaftliches Engagement des Klägers, das sich auf das Leben in seiner Wohnortgemeinde auswirkt und offensichtlich einen erheblichen Anteil im Leben des Klägers einnimmt. Es handelt sich damit nicht um ein spezielles Hobby, dem nur untergeordnete Bedeutung zukommt.

Um die gesellschaftlich relevanten Funktionen in seinem Musikverein weiter ausüben zu können, bedarf der Kläger der von ihm begehrten Hörgeräteversorgung. Sie ist das allein geeignete Mittel.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R2586


Informationsstand: 23.02.2007

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