Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Tandemfahrrad der Firma Hase der Marke Pino Steps.
Die am 3. Oktober 2003 geborene Klägerin leidet an einer zerebralen Mehrfachbehinderung als Zustand nach hypoxischer Enzephalopatie mit bilateraler Zerebralparese. Sie ist schwerbehindert. sie hat einen Grad der Behinderung von 100. Ihr wurden die Merkzeichen G, aG, B und H zuerkannt.
Die Klägerin ist nicht in der Lage, sich selbstständig mit Hilfe eines Rollators oder Therapiedreirads (auch mit Elektroantrieb) fortzubewegen.
Am 30. März 2017 beantragte die Klägerin durch Vorlage einer Verordnung ein Tandem der Firma Hase der Marke Pino Steps mit Zubehör.
Mit Schreiben vom 4. April 2011 teilte die Beklagte mit, dass der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) eingeschaltet worden sei. Man komme auf die Klägerin unaufgefordert zurück.
In einer Stellungnahme vom 19. April 2017 teilte der MDK der Beklagten mit, dass keine medizinische Indikation für das begehrte Tandem vorliege. Ein solches sei nicht Leistungsgegenstand der gesetzlichen Krankenversicherung (
GKV).
Mit Bescheid vom 16. Mai 2017 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Nach Ausführungen des MDK handele es sich bei dem Tandem nicht um ein anerkanntes Hilfsmittel im Sinne des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (
SGB V). Eine Kostenübernahme komme nicht in Betracht. Die fingierte Genehmigung nach
§ 13 Abs. 3a SGB V werde
gem. § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB X) aufgehoben. Vertrauensschutz sei nicht entstanden.
Hiergegen erhob die Klägerin am 30. Mai 2017 Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, dass es sich bei dem Tandem um ein Hilfsmittel und nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handele. Das Hilfsmittel sei zur Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums erforderlich. Im Sinne einer Erziehung zur Selbstständigkeit sei es erforderlich, dass Hilfsmittel vorhanden seien, mit denen es möglich sei, Dinge des täglichen Bedarfs einzukaufen. Darüber hinaus sei zu beachten, dass bei dem Tandem bezüglich der vorderen Kurbel (beim Sitz, der für die Klägerin vorgesehen ist) eine Arretierungsmöglichkeit bestehe.
Dies führe dazu, dass die Klägerin gezwungen sei, mitzutreten. Dies stelle eine Krankenbehandlung der Klägerin dar.
lm Gutachten vom 29. Juni 2017 führte der MDK aus, dass Tandems als Hilfsmittel zu Lasten der
GKV ausgeschlossen seien. Es ginge letztlich darum, dass ein gemeinsamer Familienausflug mit dem Fahrrad ermöglicht werden solle. Die Klägerin könne jedoch eigenständig nicht Fahrrad fahren. Es handele sich damit überwiegend über einen passiven Transport.
Mit Widerspruchsbescheid vom 2. November 2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs nur die Versorgung mit Hilfsmitteln zur Erfüllung eines Grundbedürfnisses geschuldet sei. Wenn, wie im vorliegenden Fall, das Tandem für Strecken, die über den Nahbereich hinausgehen, genutzt würden, handele es sich nicht um eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme, weshalb die Leistungspflicht der Beklagten ausgeschlossen sei. Die Bewegung mit dem Tandem stelle auch dann kein Grundbedürfnis dar, wenn es sich um die Teilnahme an Aktivitäten anderer Jugendlicher und damit um die Integration in Gruppen Gleichaltriger handele. Die Anwesenheit einer Begleitperson,
d. h. eines Erwachsenen, werden von Jugendlichen bei ihren Aktivitäten, bei denen sie Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von Erwachsenen beweisen wollten, üblicherweise nicht akzeptiert. Es zähle nicht zu den Grundbedürfnissen, gemeinsam Fahrradausflüge im Familienverbund zu unternehmen. Die Versorgung sei nicht erforderlich. Die Klägerin sei mit einem geeigneten Adaptivrollstuhl versorgt.
Am 14. November 2017 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus, dass die Beklagte die Versorgung mit dem Tandem bereits wegen des Eintritts der Genehmigungsfiktion nach § 13
Abs. 3a
SGB V schulde. Nach Eingang des Antrags bei der Beklagten am 30. März 2017 seien bis zum Bescheid am 16. Mai 2017 mehr als fünf Wochen vergangen. Die Rücknahme der Fiktion nach § 45
SGB X sei rechtswidrig. Darüber hinaus habe die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung mit dem Hilfsmittel sowohl unter dem Gesichtspunkt des mittelbaren Behinderungsausgleichs als auch unter dem Gesichtspunkt der Krankenbehandlung. Die Klägerin benötige wegen ihrer Muskelschwäche und den bei ihr vorliegenden Spastiken Bewegung. Das Tandem solle die Bewegungskoordination der Beine, den Bewegungs- und Haltungstonus der Muskulatur sowie der Gleichgewichtskoordination nachhaltig verbessern. Durch die Freilaufarretierung sei die Klägerin permanent zum aktiven Mitbewegen der Beine gezwungen. Hierdurch sei ein Therapieeffekt vorhanden. Dies ergebe sich auch dadurch, dass durch die gesteigerte Muskelaktivität es zu einem erhöhten Stoffwechsel komme, der die Dichte und die Mineralisierung der Knochenstruktur verbessere. Das Tandem sei erforderlich, um dem Grundbedürfnis, einen gewissen körperlichen und geistigen Freiraum zu befriedigen, zur Geltung zu verhelfen. Die Klägerin könne wegen ihrer Behinderung nie allein mit anderen Kindern auf der Straße Rad fahren.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 2017 verurteilt, der Klägerin 9.560,00 Euro zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf ihren Widerspruchsbescheid und die Ausführungen des MDK. Es handele sich bei dem Tandem nicht um ein Hilfsmittel im Sinne der
GKV. Das Tandem sei ein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Die Genehmigungsfiktion nach § 13
Abs. 3a
SGB V greife für Hilfsmittel im Rahmen des Behinderungsausgleichs nicht ein. lm Übrigen sei das Hilfsmittel keines, dass zur Krankenbehandlung medizinisch erforderlich sei.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Die Kammer hat auf Antrag der Klägerin
gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) den Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Neuroorthopädie,
Dr. T. K. Beweis erhoben.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen
Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage
gem. § 54
Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) statthafte Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 16. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Versorgung mit einem Tandem Pino Steps gegenüber der Beklagten.
Die Kammer kann hierbei offenlassen, ob sich ein solcher Anspruch aus formalrechtlichen Gründen wegen des Eintritts der Genehmigungsfiktion nach
§ 13 Abs. 3 a SGB V ergibt. Jedenfalls hat die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung mit dem Therapietandem im Rahmen des Behinderungsausgleichs
gem. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V.
Gemäß § 33
Abs. 1
S. 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach
§ 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Die Klägerin hat Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad gegenüber der Beklagten zum Ausgleich ihrer Behinderung (dazu unter 1.). Offenlassen kann die Kammer, ob der Anspruch auch unter dem Aspekt der Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung besteht (dazu unter 2.).
1. Bei der Prüfung eines Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich darf das zu befriedigende Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs nicht zu eng gefasst werden in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschließen. Dies folgt unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB lX insbesondere ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen, aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des
Art. 3
Abs. 3
S. 2
GG als Grundrecht und objektive Wertentscheidung in Verbindung mit dem Recht auf persönliche Mobilität nach
Art. 20 UN-Behindertenrechtskonvention (
BSG, Urteil vom 7. Mai 2020,
B 3 KR 7/19 R, Rn. 29, zitiert nach juris). Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, dass im Rahmen des Behinderungsausgleichs zu prüfen ist, ob der Nahbereich ohne ein Hilfsmittel nicht in zumutbarer und angemessener Weise erschlossen werden kann und insbesondere durch welche Ausführung der Leistung diese Erschließung des Nahbereichs für einen behinderten Menschen durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden kann. Dabei ist dem Wunsch und Wahlrecht des behinderten Menschen volle Wirkung zu verschaffen. Dies bedeutet auch, dass die Leistung den Leistungsberechtigten viel Raum zur eigenverantwortlichen Gestaltung der Lebensumstände lässt und die Selbstbestimmung fördert,
BSG, a. a. o., Rn. 30.
Nach diesen Maßstäben hat die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung mit dem Tandem unter Berücksichtigung des Behinderungsausgleichs. Anders als in der bisherigen Rechtsprechung des
BSG ergibt dies seine Unterscheidung zwischen Hilfsmitteln zum unmittelbaren und mittelbaren Behinderungsausgleichs zwar nicht vollständig auf, gleicht diese aber in den Rechtsfolgen an (
vgl. BSG, a. a. o., Rn. 27). Nach der jüngsten Rechtsprechung des
BSG ist es der Beklagten verwehrt, die Klägerin im vorliegenden Fall darauf zu verweisen, dass sie bereits mit einem Aktivrollstuhl versorgt ist. Zum Erreichten der Befriedigung des Grundbedürfnisses der persönlichen Mobilität der Klägerin ist dies nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall nicht ausreichend, sie auf einen Aktivrollstuhl zu verweisen. Erst durch die Verwendung des hier begehrten Tandems, bei dem die Klägerin auf dem vorderen Sitz durch den Erwachsenen zwar transportiert wird, sie jedoch wegen der Arretierungsfunktion (passiv) an der Erschließung der persönlichen Mobilität teilnimmt, wird dem Grundbedürfnis der Klägerin hinreichend Rechnung getragen. Dies gilt unter besonderer Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts des behinderten Menschen, namentlich im vorliegenden Fall der Klägerin. Das Tandem bietet auf diese Weise Vorteile gegenüber der Nutzung eines Rollstuhls oder dem bloß passiven Transport in einem Auto. Dabei ist auch in dem Blick zu nehmen, dass allein der Umstand, dass das Tandem neben der Erschließung des Nahbereichs auch Freizeitinteressen dienen kann, nicht die Erforderlichkeit des Hilfsmittels zur Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Mobilität ausschließt (
vgl. BSG,
a. a. O., Rn. 34). Auch die Tatsache, dass das Tandem über einen E-Antrieb verfügt, steht dem unter Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung des
BSG nicht (mehr) entgegen.
Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass es sich bei dem Tandem um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handele. Die Einordnung als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens hängt davon ab, ob ein Gegenstand bereits seiner Konzeption nach den Erfolg nach einer Krankenbehandlung sichern oder eine Behinderung ausgleichen soll oder - falls dies nicht so ist - den Bedürfnissen erkrankter oder behinderter Menschen jedenfalls besonders entgegenkommend und von gesunden, körperlich nicht beeinträchtigten Menschen praktisch nicht genutzt wird (
BSG, Urteil vom 29. April 2010, B 3 R 5/09 R, Rn. 16, zitiert nach juris). Was regelmäßig auch von Gesunden genutzt wird, fällt nicht in die Leistungspflicht der Krankenkassen, wobei es auf einen bestimmten prozentualen messbaren Verbreitungsgrad in der Bevölkerung oder einen Mindestpreis nicht ankommt (
BSG,
a. a. O.). Zwar ist sich die Kammer bewusst, dass das von der Klägerin begehrte Tandem Pino Steps der Firma Hase auf deren Homepage in einer Reise beworben wird, die den Eindruck vermitteln könnte, dass es sich um ein "Lifestyleprodukt" handelt. Jedoch ist die Kammer der Auffassung, dass die besonderen Vorzüge unter Berücksichtigung der besonderen Behinderung der Klägerin eben dieses Tandem im Einsatz als Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich den Ausschlag geben. Anders, als bei Standardtandems, ist es möglich, die Klägerin sicher auf dem vorderen Sitz anzuschnallen, und ihr so zu ermöglichen, dass Grundbedürfnis nach Mobilität zu erfüllen.
2. Die Kammer kann bei ihrer Entscheidung offenlassen, ob die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung mit dem Tandem unter Berücksichtigung von
§ 33 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 SGB V (Krankenbehandlung) hat. Es bestehen hieran jedoch erhebliche Zweifel.
Der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dient ein bewegliches sächliches Mittel nach der Rechtsprechung des
BSG, soweit es spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird, um zu ihrem Erfolg beizutragen (
BSG, Urteil vom 07. Oktober 2010,
B 3 KR 5/10 R, Rn. 21, zitiert nach juris). Ein weitergehender spezifischer Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung im Sinne von
§ 27 Abs. 1 SGB V kommt nur solchen Maßnahmen zur körperlichen Mobilisation zu, die in einem engen Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringung stehen und für die gezielte Versorgung im Sinne der Behandlungsziele des § 27
Abs. 1
S. 1
SGB V als erforderlich anzusehen sind (
BSG, a.a.O.). Davon ist bei einer Hilfe zur körperlichen Betätigung wie einem Therapiedreirad dann auszugehen, wenn der Versicherte aufgrund der Schwere der Erkrankung dauerhaft Anspruch auf Maßnahmen der physikalischen Therapie hat, die durch das beanspruchte Hilfsmittel unterstützte eigene körperliche Betätigung diese Therapie entweder wesentlich fördert oder die Behandlungsfrequenz in Folge der eigenen Betätigung geringer ausfallen kann und sich deshalb die Versorgung mit den Hilfsmitteln im Rahmen der Wahlmöglichkeit des Versicherten als wirtschaftlich darstellt (
BSG, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes bestehen Zweifel am Vorliegen eines Anspruchs auf das Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung. Zwar hat der im Rahmen des Gerichtsverfahrens nach § 109
SGG angehörte medizinische Sachverständige
Dr. K. bei Gesamtbetrachtung seiner Ausführungen darauf verwiesen, dass das Hilfsmittel zur Krankenbehandlung Potential bietet. Jedoch mangelt es im vorliegenden Fall an einem tatsächlichen Einsatz im Rahmen eines ärztlich verantworteten Therapieplans. Es ist nicht ersichtlich, in welcher Weise, verantwortet durch welchen Arzt, das Tandem im Rahmen einer Krankenbehandlung zum Einsatz gelangen soll. Auch die mündliche Verhandlung hat das Vorliegen eines solchen Therapieplans nicht ergeben.
3. Die Kostenentscheidung ergeht
gem. § 193
Abs. 1
SGG.