Urteil
GPS-Alarm für geistig behinderten Menschen mit Weglauftendenz als Hilfsmittel

Gericht:

LSG Niedersachsen-Bremen 16. Senat


Aktenzeichen:

L 16 KR 182/18


Urteil vom:

17.09.2019


Leitsatz:

Eine GPS-Uhr mit Alarmfunktion ist ein von der Gesetzlichen Krankenversicherung zu leistendes Hilfsmittel des unmittelbaren Behinderungsausgleich, um bei einem geistig behinderten Heranwachsenden mit Weglauftendenz und Orientierungslosigkeit das Grundbedürfnis der Mobilität im Nahbereich zu ermöglichen.

Pressemitteilung:

(des LSG Celle-Bremen vom 21.10.2019)

Das LSG Celle-Bremen hat entschieden, dass eine fixierbare GPS-Uhr mit Alarmfunktion ein Hilfsmittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sein kann.

Zugrunde lag der Fall eines 19-jährigen Mannes. Er leidet an einem Down-Syndrom mit geistiger Behinderung und Weglauftendenz. Sein behandelnder Arzt beantragte bei der Krankenkasse eine GPS-Notfalluhr, die Alarm auslöst sobald er einen definierten Aufenthaltsbereich verlässt. Die Uhr sei erforderlich, da er sich durch Orientierungslosigkeit selbst gefährde und in der Tagesförderungsstätte nicht ständig beaufsichtigt werden könne. Herkömmliche Notrufsysteme habe er bislang eigenständig entfernt; dieses Gerät könne jedoch an seinem Handgelenk fixiert werden. Die Krankenkasse hielt die Uhr für kein Mittel des Behinderungsausgleichs. Nach ihrer Ansicht seien Mechanismen wie abgeschlossene Türen und ständige Begleitung vorrangig. Das Gerät erleichtere auch nicht die Pflege, sondern diene der Patientenüberwachung.

Das LSG Celle-Bremen hat der Klage stattgegeben.

Nach Auffassung des Landessozialgerichts ist das Gerät als spezielles Hilfsmittel für Behinderte zu bewerten. Dabei hat sich das LSG Celle-Bremen maßgeblich auf den neuen Behinderungsbegriff gestützt, der das Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe in den Vordergrund rückt. Durch das Gerät könnten die Folgen der geistigen Behinderung abgemildert werden indem Mobilität und Bewegungsfreiheit überhaupt erst ermöglicht würden. Anders als bei geistig gesunden Menschen sei in dieser Konstellation gerade keine Freiheitsentziehung zu sehen. Denn die Selbstbestimmung der räumlichen Freiheit sei zwar durch die digitale Überwachung eingeschränkt, jedoch erlaube es die Ortungsfunktion des GPS-Systems überhaupt erst einen gewissen Bewegungsradius zu eröffnen, der ohne Ausrüstung mit einem GPS-System verwehrt sei. Unter den gegebenen Umständen führe die am Handgelenk fixierte GPS-Überwachung zu einer Reduzierung der bestehenden Isolation und Freiheitsentziehung durch Wegsperren.

Wegen grundsätzlicher Bedeutung hat das LSG Celle-Bremen die Revision zugelassen.

Hinweis:

Einen Fachbeitrag zum Urteil finden Sie im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) unter:
https://www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/RehaRecht/Di...

Rechtsweg:

SG Oldenburg, Gerichtsbescheid vom 18.04.2018 - S 63 KR 363/15
BSG, Urteil vom 10.09.2020 - B 3 KR 15/19 R

Quelle:

Justizportal des Landes Niedersachsen

Tenor:

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts M. vom 18. April 2018 und der Bescheid der Beklagten vom 10. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. August 2015 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für eine Guard2me Uhr zu übernehmen.

Die Beklagte und die Beigeladene zu 2) tragen die außergerichtlichen Kosten des Klägers aus beiden Instanzen als Gesamtschuldner. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Versorgung mit einer Guard2me Uhr.

Der N. geborene Kläger leidet infolge eines als Trisomie 21 bezeichneten Gendefektes (auch als Down Syndrom bekannt) an einer stark ausgeprägten geistigen Behinderung, die mit Weglauftendenz und Orientierungslosigkeit einhergeht. Er ist mit Pflegegrad 5 eingestuft. Dem Kläger sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 % zuerkannt sowie die Merkzeichen H, B und G. Er lebt bei seiner Mutter. Der Kläger hat die Schule (Schule an der O.) beendet und besucht wochentäglich von 8.00 bis 13.00 Uhr die Tagesförderstätte P. in Q.. Er wird morgens von einem Fahrdienst abgeholt und mittags von einem Betreuer wieder nach Hause gebracht.

An einem Nachmittag in der Woche wird er nach dem Besuch der Förderstätte im Rahmen der Eingliederungshilfe bis gegen 16.00 Uhr in der R. GmbH, einer Einrichtung zur Entlastung von Familien mit behinderten Angehörigen, und an einem anderen Nachmittag drei Stunden von einem Mitarbeiter der Lebenshilfe betreut.

Im Februar beantragte der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Dr S., Klinikum T., bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine GPS Notfalluhr für den Kläger im Rahmen des § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Das beantragte Gerät mildere die Folgen der Gesundheitsschäden. Aufgrund seiner geistigen Behinderung infolge des Down Syndroms zeige der Kläger Weglauftendenzen. Er gefährde sich selbst und sei bereits zweimal orientierungslos aufgefunden worden. Die beantragte GPS-Notfalluhr sei in der Lage, Alarm zu schlagen, wenn sich der Kläger aus einem vorher begrenzten Areal entferne. Eine andere Art Notrufsystem werde von ihm nicht toleriert und eigenständig entfernt. Als Anlage wurde der Kostenvoranschlag für eine Guard2me Uhr zum Preis von 1.189,50 Euro beigefügt sowie die ärztliche Verordnung einer Guard2me Uhr vom 9. Februar 2015 vom Facharzt für Kinderheilkunde U.. In seiner Stellungnahme vom 2. März 2015 kam der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) zu der Beurteilung, dass es sich bei dem beantragten GPS System um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handele und sprach keine Empfehlung aus.

Mit Bescheid vom 10. März 2015 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme für die begehrte GPS-Uhr ab. Nach dem Gutachten des MDK handele es sich dabei um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Mit seinem Widerspruch wandte der Kläger ein, die Uhr diene mittels der GPS Funktion der jederzeitigen Auffindbarkeit von dementen oder verwirrten Personen und zitierte Passagen aus der Herstellerinformation. Er leide krankheitsbedingt unter Verwirrtheitszuständen mit Orientierungslosigkeit und Weglauftendenz. Gleichzeitig diene die Guard2me Uhr einer Pflegeerleichterung. Der Kläger müsse rund um die Uhr überwacht werden.

Sobald man ihn aus den Augen lasse, stelle er Dinge mit Gefahrenpotential an, wie den Herd oder den Ofen anmachen, die Badewanne einlaufen lassen oder das Haus zu verlassen. Er könne Gefahren nicht einschätzen und sich auch nicht richtig artikulieren. In seiner Stellungnahme vom 15. Mai 2015 stellte der MDK fest, dass es sich bei dem Guard2me System nicht um ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung handele, da es weder die Krankenbehandlung sichere, noch einer schon bestehenden Behinderung vorbeuge noch die Behinderung bei der Befriedung der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens ausgleiche. Zur Verhinderung des Gefahrenpotentials bei Weglauftendenz müssten zunächst andere Mechanismen ergriffen werden wie abgeschlossene Türen, ständige Begleitung bei Gängen außer
Haus. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. August 2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die beantragte GPS Uhr erfülle nicht die Voraussetzungen eines Hilfsmittels nach § 33 SGB V. Nur informationshalber sei anzumerken, dass gemäß den sozialmedizinischen Ausführungen im Gutachten des MDK vom 15. Mai 2015 auch eine Versorgung zu Lasten der Pflegeversicherung nicht in Betracht komme.

Der Kläger hat am 26. August 2015 Klage beim Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben und ergänzend vorgetragen, über die GPS Funktion könne der Kläger jederzeit lokalisiert und aufgefunden werden. Die GPS Uhr könne an seinem Handgelenk fixiert werden, so dass er diese nicht eigenständig entfernen könne. Anderer Geräte mit Ortungsfunktion habe er sich regelmäßig entledigt. Da seine Einsichts- und Orientierungsfähigkeit krankheitsbedingt stark eingeschränkt sei, diene die beantragte GPS Uhr dem Ausgleich der Folgen seiner geistigen Behinderung. Zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehöre ein Mindestmaß an Orientierungsfähigkeit sowie der Ausschluss von Selbstgefährdung und damit die eigene körperliche Integrität. Da sich der Katalog anerkannter Grundbedürfnisse lediglich auf körperliche Behinderungen beziehe, müsse er für geistige Behinderungen entsprechend erweitert werden.

Mit Beschluss vom 29. Juli 2016 hat das SG die Stadt Q. beigeladen (Beigeladene zu 1). Während des Klageverfahrens hat die Beigeladene zu 1) mit Bescheid vom 10. September 2015 eine Kostenübernahme für die Guard2me Uhr abgelehnt. Durch die beantragte Guard2me Uhr werde eine Teilhabe des Klägers am Leben in der Gemeinschaft weder gesichert noch ermöglicht. Insbesondere werde eine Teilnahme an Freizeitaktivitäten nicht durch den Einsatz der Uhr plötzlich möglich, da der Kläger trotzdem eine Begleitperson benötige, die ihn davon abhalte, Unfug anzustellen. Zudem sei es mit den herkömmlichen, wesentlich kostengünstigeren GPS Uhren ebenfalls möglich, den Aufenthaltsort des Klägers zu ermitteln.

Mit Beschluss vom 9. Januar 2017 hat das SG die Pflegekasse beigeladen (Beigeladene zu 2).
Sie hat die Auffassung vertreten, dass es sich bei der Guard2me Uhr nicht um ein Pflegehilfsmittel nach § 40 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) handele, weil die Patientenüberwachung und nicht die Erleichterung der Pflege im Sinne des § 40 Abs 1 SGB XI im Fokus stehe.

Mit Gerichtsbescheid vom 18. April 2018 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klage habe weder gegen die Beklagte noch gegen die Beigeladenen Erfolg. Ein Anspruch bestehe weder unter kranken- noch unter pflegeversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten. Ein Anspruch auf Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich, wozu die Guard2me Uhr zu rechnen sei, bestehe nach § 33 SGB V nur, soweit Grundbedürfnisse des täglichen Lebens betroffen seien.
Das sei hier jedoch nicht der Fall. Insbesondere ermögliche die begehrte GPS Uhr im Falle des Klägers nicht das Erschließen eines weiteren oder größeren Freiraums. Die Uhr solle ausschließlich dazu dienen, den Kläger leichter aufzufinden, wenn er weggelaufen sei. Da der Kläger selbst von der Funktion der Uhr somit nicht profitiere, könnte schon zweifelhaft sein, ob überhaupt ein Behinderungsausgleich vorliege. Auch in Bezug auf die geistige Behinderung des Klägers finde kein Ausgleich statt, denn die begehrte Guard2me Uhr gleiche weder seine mangelnde Orientierungsfähigkeit aus noch seine Tendenz zur Selbstgefährdung. Der Nutzen stelle sich auf Seiten der pflegenden Personen ein, da sie den Kläger besser überwachen und leichter auffinden könnten. Allerdings seien auch die Voraussetzungen für einen Anspruch nach § 40 Abs 1 SGB XI nicht erfüllt. Denn durch das Tragen der Guard2me Uhr finde keine Erleichterung der Pflege statt. Der Gesetzgeber wolle nicht jede Erleichterung der Pflege bezuschusst wissen, sondern den Leistungsanspruch ausdrücklich auf erhebliche Pflegeerleichterungen begrenzen. Daher müsse es sich um eine deutliche und spürbare Erleichterung handeln. Dazu müsse entweder der Zeitaufwand für häufig anfallende Hilfeleistungen abnehmen oder sich die erforderliche Kraftanstrengung der Pflegeperson signifikant verringern. Beide Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Das Auffinden des Klägers nach einem Weglaufversuch stelle keine Pflegeleistung dar; auch eine Gefahrensituation könne nicht verhindert werden. Die begehrte GPS Uhr ermögliche dem Kläger auch keine selbstständige Lebensführung, da sich die Funktionen der Guard2me Uhr nicht auf Lebensbetätigungen im häuslichen Bereich bezögen und der Kläger nicht unabhängiger von der Unterstützung durch Dritte werde. Schließlich scheide auch ein Anspruch gegen die Beigeladene zu 1) aus, denn der ablehnende Bescheid vom 10. September 2015 sei bestandskräftig geworden. Allein die Stellung eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X führe nicht zu einer Durchbrechung der Rechtskraft. Nach den vorstehenden Ausführungen lägen im Übrigen auch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen nicht vor.

Gegen den ihm am 20. April 2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 24. April 2018 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt und vorgetragen, auch die Folgen einer geistigen Behinderung könnten grundsätzlich gemäß § 33 SGB V ausgeglichen werden. Die geistige Behinderung des Klägers äußere sich ua in Orientierungslosigkeit und Weglauftendenz, deren Folgen deutlich abgemildert werden könnten. Folglich diene die Guard2me Uhr dem mittelbaren Behinderungsausgleich einer geistigen Behinderung.

Das betroffene Grundbedürfnis liege in der körperlichen Unversehrtheit des Klägers und der Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Durch das schnellere Auffinden des Klägers mit der GPS Uhr könnten Unfall- und sonstige Schadenshergänge kurzfristig vermieden werden. Aufgrund seiner kognitiven Defizite könne der Kläger eine Behindertenwerkstatt nicht sinnvoll aufsuchen. Er besuche die Tagesförderungsstätte wochentäglich von 8:30 bis 13:00; eine ganztägige Betreuung sei in der Einrichtung wegen der zu dünnen Personaldecke am Nachmittag nicht möglich. Ohne die begehrte GPS Uhr müsse der Kläger engmaschig überwacht werden, dh er müsse eingesperrt werden, damit er nicht weglaufen könne. Der Kläger werde im Straßenverkehr zu einer Gefahr für sich und andere.
Außerdem bestünde ein Anspruch auf die GPS Uhr nach §§ 14, 40 SGB XI als Pflegehilfsmittel. Die Erleichterung der Pflege könne sich auf die neuen gesetzlich definierten Pflegebereiche beziehen. Die ständige Hintergrundbeaufsichtigung des Klägers zum Weglaufschutz durch seine Mutter sei extrem kräftezehrend und belastend. Der Überprüfungsantrag sei von der Beigeladenen zu 2) bislang nicht beschieden worden.

Der Kläger hat seine Zeugnisse aus der 11. Jahrgangsstufe vorgelegt sowie die Stellungnahme der gemeinnützigen R. GmbH vom 4. September 2019, wonach sich seine Weglaufneigung besonders in Gruppen oder unübersichtlichen Situationen zeige. Zudem hat er die Stellungnahme des P. vom 26. August 2019 und den Entwicklungsbericht der Lebenshilfe vom 4. Juli 2018 beigebracht.


Der Kläger beantragt den Gerichtbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 18. April 2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. August 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,

den Kläger mit einer Guard2me Uhr zu versorgen.


Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids.


Die Beigeladene zu 2) beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladene zu 1) hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten sowie der Beigeladenen zu 1) Bezug genommen.


Enntscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Das Urteil des SG hält einer rechtlichen Überprüfung durch den Senat nicht stand; die Versorgung des Klägers mit der begehrten GPS Uhr mit Alarmfunktion ist zu Unrecht abgelehnt worden.


1. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs 1 und 4 SGG statthaft und zulässig. Sie ist auch begründet. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten in Gestalt des Widerspruchsbescheides erweist sich als rechtswidrig.


2. Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit der begehrten GPS Uhr als Hilfsmittel im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs.

a) Die Guard2me Uhr ist eine GPS Uhr mit Alarmfunktion, die ausgelöst wird bei Verlassen des zuvor definierten, einprogrammierten Bewegungsareals. Die Uhr kann am Arm des Klägers fixiert werden, so dass ein selbstständiges Abstreifen verhindert wird. Nach der Herstellerinformation ist die Guard2me Uhr speziell für Demenzkranke entwickelt worden, um deren Eigenständigkeit so lange wie möglich zu erhalten. Das System besteht aus einer Armbanduhr mit integrierter Ortung und SIM-Karte, sowie einem Webportal oder einer App für das Smartphone. Via GPS wird der genaue Aufenthaltsort des Trägers der Armbanduhr ermittelt und über das Mobilfunknetz an das Webportal übertragen. Die Besonderheit des Systems ist, dass auch eine Ortung innerhalb von Gebäuden möglich ist, sodass der Aufenthalt auch dort genau bestimmt werden kann, wo nur schwache oder keine GPS Signale empfangen werden. Zudem kann der Computer zur Einstellung einer Sicherheitszone (Sicherheits- oder Gefahrenzone) genutzt werden. Ein Alarm wird dann ausgelöst, wenn ein vorher festgelegter Radius, etwa die Wohnung oder das Pflegeheim verlassen wird (www.guard2me.com/presse).

b) Anspruchsgrundlage für die Versorgung mit der begehrten GPS Uhr ist § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Nach dieser Norm können Hilfsmittel drei unterschiedlichen Zielrichtungen dienen: der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung (1. Alt), dem Vorbeugen vor Behinderung (2. Alt) oder dem Behinderungsausgleich (3. Alt). Vorliegend kommt allein ein Anspruch nach der 3. Alternative im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs in Betracht.

aa) Dem Anspruch auf Versorgung mit einer GPS Uhr steht nicht entgegen, dass dieses im Hilfsmittelverzeichnis der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht aufgeführt ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) schon zur Rechtslage nach § 128 SGB V in der durch das Gesundheitsreformgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) begründeten und bis zur Außerkraftsetzung durch Art 1 Nr 94 des GKV-WSG zum 1. April 2007 insoweit im Wesentlichen unveränderten Fassung verkörpert das Hilfsmittelverzeichnis (HMV) keine abschließende, die Leistungspflicht der Kranken- und Pflegekassen im Sinne einer "Positivliste" beschränkende Regelung. Es handelt sich vielmehr um eine reine Auslegungs- und Orientierungshilfe für die medizinische Praxis und hat für die Gerichte nur die Qualität einer unverbindlichen Auslegungshilfe. Einerseits steht deshalb dem Leistungsbegehren eines Versicherten nicht entgegen, dass ein von ihm beanspruchtes Hilfsmittel (noch) nicht im HMV eingetragen ist. Andererseits vermag aus diesem Grund umgekehrt allein die Aufnahme eines Gegenstands in das HMV den Leistungsanspruch eines Versicherten nicht zu stützen, wenn sich die Aufnahmeentscheidung gemessen an den Voraussetzungen des § 33 SGB V als fehlerhaft darstellt. Anspruch auf Versorgung hat ein Versicherter ungeachtet der Fassung des HMV nur, wenn die beanspruchte Hilfe tatsächlich als Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs 1 S 1 SGB V zu qualifizieren ist (BSG vom 24. Januar 2013, B 3 KR 22/11 R mwN, juris Rn 13).

bb) Entgegen der Auffassung der Beklagten handelt es sich bei der beantragten GPS Uhr mit Alarmfunktion auch nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, der vollständig von der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgenommen wäre. Der Ausschluss betrifft nach § 33 Abs 1 S 1 SGB V, § 47 Abs 1 Nr 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der Fassung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) (BGBL I 3234) (§ entspricht § 31 Abs 1 Nr 3 SGB IX aF) nur solche Gegenstände, die als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens allgemein auch von Gesunden im täglichen Leben verwendet werden. Maßgeblich hierfür ist die jeweilige Zweckbestimmung, ausgehend von Funktion und Gestaltung des Gegenstands, wie er konkret beansprucht wird und beschaffen ist. Danach ist ein Gegenstand trotz geringer Verbreitung und trotz hohem Verkaufspreis als allgemeiner Gebrauchsgegenstand einzustufen, wenn er von der Konzeption her nicht vorwiegend für Kranke und Behinderte gedacht ist. Keine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind dagegen für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelte und so benutzte Gegenstände, selbst wenn sie - wie bei Brillen und Hörgeräten - millionenfach verbreitet sind.

Eine solche Anpassung an die speziellen Bedürfnisse hat das BSG für ein GPS-System für Blinde angenommen, weil es sich von den handelsüblichen Geräten zur Orientierung nicht behinderter Menschen deutlich unterscheidet. Das gilt schon für den Zweck, bei Fußwegen Angaben über den jeweiligen Standort und Hinweise auf nahegelegene Einkaufsmöglichkeiten und andere Orte von Interesse zu erhalten; eine solche technische Unterstützung benötigen Menschen ohne Sehbehinderung bei Wegen zu Fuß gerade nicht (BSG Urteil vom 25. Juni 2009, - B 3 KR 4/08 R, Rn 11).

Ebenso verhält es sich mit der streitgegenständlichen GPS Uhr mit Alarmfunktion für geistig behinderte Menschen mit Weglaufneigung. Die technische Unterstützung in Form der Alarmfunktion bei Verlassen eines definierten Bewegungsareals und permanenter Lokalisierbarkeit des Standortes benötigen Menschen ohne geistige Behinderung und Weglauftendenz nicht. Ausweislich der Herstellerbeschreibung ist die begehrte GPS Uhr mit Alarmfunktion nach Zweckbestimmung und Funktionsweise speziell für Demenzkranke entwickelt worden. Auch im Verlauf einer Demenzerkrankung kommt es unweigerlich zur Orientierungslosigkeit des Patienten und Weglauftendenzen, Symptome, die der Kläger infolge seiner geistigen Behinderung teilt. Kein gesunder Mensch bedarf eines am Arm fixierten GPS-Systems, das Alarm schlägt, wenn er ein Gebäude verlässt oder sich aus einem zuvor im Computer programmierten Bewegungsradius entfernt. Bei einem gesunden Menschen würde die Konzeption der Guard2me Uhr keine (hilfreiche) Unterstützung bewirken, sondern im Gegenteil eine Einschränkung bedeuten und unter Umständen grundgesetzlich geschützte Persönlichkeitsrechte verletzen, weil schon die ständige Lokalisierbarkeit des Standorts in die Nähe einer freiheitsentziehenden Maßnahme rücken würde.

cc) Die Krankenkasse hat für die mit der begehrten GPS Uhr angestrebten Gebrauchsvorteile aufzukommen, weil sie zum Ausgleich der Folgen der geistigen Behinderung des Klägers in dem Sinne erforderlich ist, als sie deren Auswirkungen im täglichen Leben zwar nicht beseitigt, aber jedenfalls abmildert und ihm damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens eröffnet. Bei dem hier anzunehmenden mittelbaren Behinderungsausgleich ersetzt das Hilfsmittel nicht die ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktionen - hier die Hirnfunktionsdefizite infolge des Down Syndroms - sondern gleicht nur die direkten und indirekten Behinderungsfolgen aus.

Damit bleibt der vom Regelfall abweichende Körper- und Geisteszustand als solcher trotz Einsatzes des Hilfsmittels im Wesentlichen unverändert. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung gleicht das Vorgehen beim Einsatz von Hilfsmitteln vielmehr hauptsächlich die Funktionsbeeinträchtigung aus oder ersetzt die beeinträchtigte Funktion, um dem Versicherten wieder eine vollständige oder zumindest weniger beeinträchtigte Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen. Es setzt mithin - selbst wenn es dem mittelbaren Behinderungsausgleich zuzurechnen ist - vorrangig erst an den Folgen des medizinisch dann häufig schon austherapierten regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands an und dient nicht (mehr) dessen Behandlung oder gar Wiederherstellung (BSG Urteil vom 15. März 2018, B 3 KR 18/17 R, juris, Rn 34). Diese Anknüpfungspunkte verkennt das SG, wenn es im Zuge einer Anspruchsablehnung argumentiert, dass durch die beanspruchte Guard2me Uhr kein Ausgleich der geistigen Behinderung - weder in Bezug auf die Orientierungslosigkeit noch auf die Selbstgefährdung - stattfinde.

Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG nur dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mindert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließens eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (stRechtspr, vgl. BSG, Urteil vom 15. März 2018, B 3 KR 12/17 R Rn 43 f mwN).

Betroffen von den Folgen der geistigen Behinderung ist im Falle des geistig behinderten Klägers das Grundbedürfnis auf Mobilität, das ohne die begehrte GPS Uhr mit Alarmfunktion faktisch aufgehoben ist. Räumlich bezieht sich das Grundbedürfnis im Bereich der Mobilität nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auf den Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Dazu ist der Versicherte nach Möglichkeit zu befähigen, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang an die Luft zu kommen oder um üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegende Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG, Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 4/08 R Rn 16). Dem Gegenstand nach besteht für den so definierten räumlichen Bewegungsradius Anspruch auf die im Einzelfall für den gebotenen Behinderungsausgleich ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch für eine Optimalversorgung (st Rspr zB BSG, Urteil vom 15. März 2018, B 3 KR 12/17 R, Rn 44). Dabei ist der Ausgleich nicht auf Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates beschränkt. Ob ein Hilfsmittel der Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse dient, beurteilt sich bei Blindheit oder Sehbehinderung nicht anders als die Beeinträchtigung des Bewegungsapparates (BSG Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 4/08 R, Rn 18 ).

Überträgt man die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Wesentlichen für den Ausgleich körperlicher Behinderungen entwickelten Maßstäbe auf die vorliegend in Rede stehende geistige Behinderung infolge des beim Kläger stark ausgeprägten Down Syndroms ist für die Versorgung mit der GPS Uhr an die Milderung der Folgen von Weglauftendenz, Orientierungslosigkeit und der Tendenz zu gefährdendem Verhalten anzuknüpfen. In der Vergangenheit musste der Kläger nach Weglaufversuchen polizeilich gesucht und aufgegriffen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass er ausweislich des Entwicklungsberichts der
Lebenshilfe unter massiven Artikulationsstörungen leidet (er spricht überwiegend Ein-Wort-Sätze bei stark eingeschränktem Wortschatz) und aufgrund mangelnder Einsichtsfähigkeit in keiner Weise verkehrstüchtig ist. Aufgrund des Gesamtbildes der geistigen Behinderung mit Weglauftendenz und Orientierungslosigkeit muss der Aufenthalt des Klägers streng überwacht werden, was in der Praxis dazu führt, dass sein Bewegungsradius auf verschlossene Räume beschränkt wird, kurz der Kläger wird jedenfalls zeitweise eingesperrt. Auch der MDK empfiehlt in seiner Stellungnahme vom 15. Mai 2015 als geeigneten Mechanismus gegen die Weglauftendenz abgeschlossene Türen, was ein Ein- oder Wegsperren bedeutet. Wegen des hohen Überwachungsaufwands kann der Kläger im P. - einer grundsätzlich geöffneten Einrichtung - auch nur halbtags betreut werden. Da eine engmaschige Überwachung des Klägers nicht immer gelingt, ist er mehrfach auf der Schaukel im offenen Außenbereich des Geländes aufgefunden worden, dessen Zugang ihm wegen seiner Weglauftendenz verwehrt ist. Auch zu Hause befindet sich der Kläger nach Empfangnahme durch die Mutter ausschließlich in einem verschlossenen Bereich. Da es dem Kläger dennoch gelingt, an Schlüssel zu kommen, ist die Haustür zusätzlich mit einer Kuhglocke gesichert. Dennoch kommt es zu Weglaufversuchen. Dass ein Einsperren des Klägers in erheblichem Umfang stattfindet, erklärt sich schon aus dem Umstand, dass weder die prinzipiell geöffnete Tageseinrichtung über eine entsprechende Personaldecke verfügt noch die Mutter, die auch ihren Haushalt bewirtschaften muss, mehr als eine Hintergrundbeaufsichtigung leisten kann. Damit ist das Grundbedürfnis des Klägers auf Mobilität im Nahbereich aus Sicherheitsgründen derzeit aufgehoben. Hinzukommt, dass das Einsprerren als die schärfste aller freiheitsentziehenden Maßnahmen zwangsläufig in die Isolation führt, und dem Kläger als Heranwachsendem jegliche Entwicklungsmöglichkeit für sein weiteres Leben abschneidet.

Die beanspruchte GPS Uhr mit Alarmfunktion kann dem Kläger Mobilität in einem gewissen Areal eröffnen, indem ein Bewegungsradius außerhalb von Gefahrenzonen räumlich definiert wird. Beim Verlassen des definierten Bewegungsradius wird zuverlässig Alarm ausgelöst, sodass Gefahrensituationen frühzeitig erkannt und weitgehend abgefangen werden können. Der Gebrauchsvorteil der GPS Uhr liegt darin, dem Kläger eine begrenzte räumliche - allerdings digital überwachte - Freiheit zu erschließen. Insofern geht die Auffassung des MDK fehl, darin eine Freiheitsentziehung zu sehen, weil Maßstab nicht die Bewegungsfreiheit eines gesunden Menschen sein kann, sondern nur die Isolation des ansonsten weggeschlossenen Klägers. Unter den gegebenen Umständen gibt es für ihn keine selbstbestimmte räumliche Freiheit, die durch digitale Überwachung eingeschränkt werden könnte, vielmehr erlaubt es die Ortungsfunktion des GPS-Systems überhaupt erst, dem geistig behinderten Kläger einen gewissen räumlichen Bewegungsradius bei abschätzbarem und damit vertretbarem Gefährdungspotential zu teil werden zu lassen. Damit ist das begehrte Hilfsmittel für den Kläger notwendig, zweckmäßig und unter Abwägung von Kosten und Nutzen wirtschaftlich (§ 12 Abs 1 SGB V).

Diese Betrachtung trägt auch dem neugefassten Behinderungsbegriff in § 2 SGB IX Rechnung. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist für den Versorgungsanspruch nach § 33 SGB V nunmehr zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber den Behinderungsbegriff in § 2 SGB IX neu gefasst hat und dabei dem Wechselwirkungsansatz noch mehr Gewicht beigemessen hat als nach bisher geltendem Recht. Danach kommt es nicht allein auf die wirklichen oder vermeintlichen gesundheitlichen Defizite an. Im Vordergrund stehen vielmehr das Ziel der Teilhabe (Partizipation) an den verschiedenen Lebensbereichen sowie die Stärkung der Möglichkeiten einer - hier nur in sehr engen Grenzen möglichen - Lebensplanung und -gestaltung unter Berücksichtigung des Sozialraums (BSG, Urteil vom 15. März 2018 aaO). Im Rahmen der danach verstärkt geforderten Partizipation ist zu berücksichtigen, dass der Kläger trotz seiner geistigen Retardierung und den damit einhergehenden Verhaltensauffälligkeiten durchaus Interesse an seiner Umwelt zeigt und Freude an neuen Erfahrungen und Eindrücken empfindet. Ausweislich seines Zeugnisses der 11. Klasse weckte ein Gartenprojekt seine Aufmerksamkeit, bei dem ihm kleine regelmäßige Dienste übertragen wurden, die einen gewissen Bewegungsradius voraussetzten. Auch bei Klassenfahrten und Spaziergängen beobachtete er Tiere und genoss die Natur. Ausweislich des Entwicklungsberichtes der Lebenshilfe interessiert er sich für Fahrzeuge, zB deren Wartung, und wünscht sich Teilhabe an Aktivitäten außerhalb der alltäglichen Abläufe. Derartige Aktivitäten und gemeinsame Erfahrungen sind ihm jedoch wegen befürchteter Gefahrensituationen derzeit weitestgehend verschlossen. So bestätigt auch der Betreuer der gemeinnützigen R. GmbH, der den Kläger an Nachmittagen in der Woche betreut, dessen Weglauftendenz besonders in Gruppen oder unübersichtlichen Situationen. Das führt zwangsläufig dazu, dass der Kläger zu Ausflügen oder besonderen Aktivitäten nicht mitgenommen wird. Damit wird ihm nicht nur eine Teilhabe verwehrt, gleichsam wird ihm die - wenn auch begrenzte - Chance auf eine günstige Verhaltensentwicklung und Integration genommen. Die Integration von Behinderten - und das gilt für geistig behinderte Menschen in gleichem Maße wie für Menschen mit körperlichen Handicaps - ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die im Rahmen der Möglichkeiten und unter Beachtung der Würde des geistig behinderten Menschen im Sozialraum zu erfüllen ist.

Die Ausrüstung des Klägers mit einer am Arm fixierten GPS Uhr mit Alarmfunktion gestaltet die Aufsicht bei Ausflügen und Aktivitäten verantwortbarer und erweitert und stärkt auf diese Weise auch seine Teilhabemöglichkeiten in verschiedenen Lebensbereichen. Dazu gehören auch der Nahbereich der Wohnung oder der Außenbereich des V.. Dabei verkennt der Senat jedoch nicht, dass die Ausrüstung mit der begehrten GPS Uhr eine engmaschige Betreuung/Überwachung des Klägers nicht ersetzen kann. Der Kläger bedarf weiterhin einer engen Betreuung. Es werden aber seine Teilhaberechte an Gruppenveranstaltungen gestärkt und das Verhalten eines noch jungen Menschen in der Gemeinschaft gleichsam trainiert.


3. Eine Sachleistungspflicht kann nicht auf § 40 Abs 1 S 1 SGB XI gestützt werden. Allerdings hat die Beklagte es als erstangegangener Versicherungsträger versäumt, auch in pflegeversicherungsrechtlicher Hinsicht abschließend zu entscheiden.

a) Trotz einer grundsätzlichen Leistungszuständigkeit der sozialen Pflegeversicherung ist ausnahmsweise die Krankenkasse und damit die Beklagte selbst - und nicht die bei ihr errichtete Pflegekasse (§ 46 Abs 1 S 2 SGB XI) - für die Versorgung mit einem Pflegehilfsmittel zuständig.

Nach § 40 Abs 5 S 1 SGB XI idF des Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) vom 22. Dezember 2011 (BGBl 2983) gilt nunmehr: Für Hilfsmittel und Pflegemittel, die sowohl den in § 23 und § 33 SGB V als auch den in Absatz 1 genannten Zwecken dienen können, prüft der Leistungsträger, bei dem die Leistung beantragt wird, ob ein Anspruch gegenüber der Krankenkasse oder der Pflegekasse besteht und entscheidet über die Bewilligung der Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel. Die Guard2me Uhr ist gleichzeitig ein dem mittelbaren Behinderungsausgleich zuzuordnendes Hilfsmittel nach § 33 SGB V und ein der selbstständigeren Lebensführung des Pflegebedürftigen zu dienen bestimmtes Pflegehilfsmittel nach § 40 Abs 1 S 1 Alt 2 SGB XI. Damit hatte die Beklagte die Pflicht, den Leistungsantrag sowohl in krankenversicherungsrechtlicher als auch in pflegeversicherungsrechtlicher Hinsicht zu prüfen und abschließend zu entscheiden (BSG Urteil vom 16. Juli 2014, - B 3 KR 1/14 R -, juris, Rn 46).

b) Vorliegend kommt die Guard2me Uhr als Pflegehilfsmittel nicht in Betracht. Nach § 40 Abs 1 S 1 SGB XI haben Pflegebedürftige Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbstständigere Lebensführung ermöglichen. Bei der begehrten GPS Uhr handelt es sich nicht um ein Pflegehilfsmittel im eigentlichen Sinne, weil die Patientenüberwachung im Fokus steht und nicht die Erleichterung der Pflege. Darauf hat die Beigeladenen zu 2) bereits zutreffend hingewiesen. Daran anknüpfend hat das SG plausibel ausgeführt, dass die Guard2me Uhr nach Funktion und Zielrichtung für die Pflegeperson weder den Zeitaufwand der häuslichen Pflege reduziert noch den zu leistenden Kraftaufwand signifikant verringert. Auch stellt die Suche nach dem Kläger infolge seiner Weglaufneigung keine Pflegeleistung im eigentlichen Sinne dar. Schließlich ist auch das Tatbestandsmerkmal einer selbstbestimmten Lebensführung nicht erfüllt. Zum einen ist für den Kläger aufgrund der ausgeprägten geistigen Defizite, die auch mit Verständigungsschwierigkeiten einhergehen, eine selbstständige Lebensführung auch bei Ausrüstung mit der begehrten GPS Uhr unmöglich. Er wird - wie sich bereits aus den vorstehenden Ausführungen ergibt - immer zusätzlich einer engmaschigen Betreuung bedürfen. Zum anderen ist die Zielrichtung eines Pflegehilfsmittels "zur selbstständigen Lebensführung" eine andere. § 40 SGB XI gehört innerhalb des Vierten Kapitels des SGB XI ("Leistungen der Pflegeversicherung") zu dessen Drittem Abschnitt ("Leistungen") und dort zum Ersten Teil, der mit "Leistungen bei häuslicher Pflege" überschrieben ist. Die Pflegemittel müssen dabei geeignet sein, den Bedürftigen in die Lage zu versetzen, möglichst lange in der häuslichen Umgebung bleiben zu können und vollstationäre Pflege zu vermeiden. Dies legt aber nach seinem Ansatz einen zu erwartenden Progress der Erkrankung des Versicherten zu Grunde und versucht (nur) die Eigenständigkeit des Betroffenen noch für einen gewissen Übergangszeitraum zu erhalten. Im Gegensatz dazu geht es bei dem Kläger nicht um ein fortschreitendes Leiden, sondern um die Abmilderung eines Zustands - einer geistigen Retardierung -, der austherapiert ist, aber nicht notwendig fortschreitet. Im Fokus steht die Teilhabe eines geistig behinderten Heranwachsenden - also eines noch jungen Menschen - an den verschiedenen Lebensbereichen durch Eröffnung einer - wenn auch digital überwachten Mobilität.


4. Ein Anspruch auf Kostenübernahme gegen die Beigeladene zu 1) kann sich auch nicht im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X ergeben, denn es ist weder ersichtlich, dass die Beigeladene zu 1) bei ihrem Ablehnungsbescheid von einer falschen Tatsachengrundlage ausgegangen ist, noch dass ihre Entscheidung rechtsfehlerhaft ist. Wie bereits ausgeführt, kann auch eine Ausrüstung mit der begehrten GPS Uhr keine selbstständige Teilhabe des Klägers am Leben in der Gemeinschaft bewirken, da die schweren geistigen Einschränkungen eine Selbstständigkeit schon im Grundsatz ausschließen. Ausweislich des Entwicklungsberichts der Lebenshilfe sind die Verständigungsmöglichkeiten des Klägers stark eingeschränkt auch zeigt er ausgeprägte Verhaltensauffälligkeiten. Mit diesen Einschränkungen ist eine selbstständige Teilhabe nicht darstellbar.


4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG, § 162 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) analog.

5. Der Senat lässt die Revision nach § 160 Abs 2 SGG zu, da dem Fall grundsätzliche Bedeutung zukommt und, soweit ersichtlich, die Frage eines Versorgungsanspruchs mit einer GPS Uhr mit Alarmfunktion bei geistiger Behinderung mit Weglauftendenz und Orientierungslosigkeit noch nicht Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidung war.

Referenznummer:

R/R8370


Informationsstand: 04.11.2019