Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 7. Kammer -
vom 27.04.2020 zuzulassen, wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 79,55 Euro festgesetzt.
I.
Die Beteiligten streiten über die Beihilfefähigkeit von Haltegriffen für Dusche und WCWand.
Der Kläger ist Bundesbeamter und mit einem Bemessungssatz von 50 % beihilfeberechtigt. Im August 2018 erlitt er einen Schlaganfall. Deswegen wurde er zunächst stationär in einer Klinik und anschließend stationär in einer Rehabilitationseinrichtung behandelt. Bei der Entlassung aus der Reha wurden ihm Haltegriffe für Dusche und WC ärztlich verordnet. Der Kläger erwarb im Oktober 2018 drei solche Haltegriffe für insgesamt 178 Euro. Sein Antrag auf Gewährung einer Beihilfe für diese Aufwendung wurde abgelehnt, der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Ob Hilfsmittel nach § 25 BBhV beihilfefähig seien, richte sich in erster Linie nach den Anlagen 11 und 12 zur BBhV. Anlage 11 zähle die beihilfefähigen Hilfsmittel auf, Anlage 12 die nicht beihilfefähigen. Haltegriffe seien weder in der einen noch in der anderen Anlage erwähnt. Nach einem rechtlich unverbindlichen, aber als Erläuterung zur BBhV dienenden "Hilfsmittelverzeichnis" des Finanzministeriums des Landes Rheinland-Pfalz seien Haltegriffe den nicht behilfefähigen Aufwendungen der allgemeinen Lebenshaltung (§ 25
Abs. 2 BBhV) zuzuordnen.
Auf die Klage des Klägers hat das Verwaltungsgericht die Ablehnungsbescheide und den Widerspruchsbescheid aufgehoben sowie die Beklagte verpflichtet, dem Kläger Behilfeleistungen in Höhe von 79,55 Euro zu bewilligen. Die Haltegriffe seien nach § 25
Abs. 1 BBhV in der im Zeitpunkt der Aufwendungen geltenden Fassung beihilfefähig, weil sie ärztlich verordnet wurden und zum (mittelbaren) Behinderungsausgleich erforderlich seien. Der Kläger leide infolge des Schlaganfalls an Schwindelanfällen. Die Haltegriffe seien erforderlich, um diese körperliche Funktionsbeeinträchtigung bei der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens (elementare Körperpflege) auszugleichen. Sie seien mit den in Anlage 11 zur BBhV unter Ziff. 1.16 und 1.18 aufgeführten Hilfsmitteln "Aufrichteschlaufen" und "Aufrichtegestelle" vergleichbar. Die Beihilfefähigkeit sei nicht nach § 25
Abs. 2
Nr. 1 c) BBhV ausgeschlossen. Es handle sich nicht um Aufwendungen der allgemeinen Lebenshaltung. Haltegriffe für Dusche, Bad und WC würden für Personen hergestellt, die krankheits- oder behinderungsbedingt darauf angewiesen seien, und ganz überwiegend von solchen Personen benutzt. Das Hilfsmittelverzeichnis des Finanzministeriums des Landes Rheinland-Pfalz sei - wie die Beklagte selbst einräume - nicht verbindlich. Unter Berücksichtigung des Bemessungssatzes des Klägers und der in der BBhV vorgesehenen Selbstbehalte ergebe sich der tenorierte Beihilfeanspruch.
Die Beklagte begehrt die Zulassung der Berufung gegen das Urteil.
II.
Der auf den Zulassungsgrund des § 124
Abs. 2
Nr. 1
VwGO gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils liegen nicht vor
bzw. sind nicht dargelegt.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines Urteils im Sinne des § 124
Abs. 2
Nr. 1
VwGO sind dann begründet, wenn ein einzelner die angefochtene Entscheidung tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (
vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 22.05.2017 - 1 LA 306/15, juris Rn. 10;
BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03, BVerfGE 110, 77 [83]; Beschl. v. 08.12.2009 - 2 BvR 758/07, BVerfGE 125, 104 [140]). Das gelingt dem
Zulassungsvorbringen nicht.
1. Die Beklagte macht ohne Erfolg geltend, die Haltegriffe seien der "allgemeinen Lebenshaltung" im Sinne des § 25
Abs. 2
Nr. 1 c) BBhV zuzuordnen.
Die Beklagte teilt in der Begründung des Zulassungsantrags die vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten allgemeinen Maßstäbe, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu
§ 33 Abs. 1 SGB V ergeben. Demnach sind nicht der allgemeinen Lebenshaltung zuzuordnen Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt und hergestellt werden und von diesem Personenkreis ausschließlich oder ganz überwiegend benutzt werden. Ist dies der Fall, ist es unschädlich, dass der Gegenstand millionenfach verbreitet ist (
vgl. BSG, Urt. v. 16.04.1998 - 3 B KR 9/97 R, juris Rn. 15).
Es gelingt dem Zulassungsantrag nicht, die Annahme des angefochtenen Urteils schlüssig in Frage zu stellen, dass Haltegriffe für Dusche, Bad und WC dazu hergestellt und überwiegend verwendet werden, dass Menschen, bei denen dies wegen Krankheit oder
Behinderung erforderlich ist, sich daran festhalten können, um Stürze zu vermeiden. Soweit die Beklagte vorträgt, dass Haltegriffe in jedem Baumarkt erhältlich und auch in Hotelzimmern inzwischen häufig vorhanden seien, geht dies an den anzuwendenden
Maßstäben vorbei. Auf den Verbreitungsgrad eines Hilfsmittels kommt es - wie vorstehend ausgeführt - gerade nicht an, um zu bestimmen, ob es der allgemeinen Lebenshaltung zuzuordnen oder beihilfefähig ist. Des Weiteren trägt die Beklagte vor, Haltegriffe seien in den Badezimmern älterer Menschen inzwischen Standard und Alter sei weder eine Krankheit noch eine Behinderung im Sinne der BBhV. Insoweit ist der Beklagten zuzugeben, dass Haltegriffe im Sanitärbereich sicherlich auch von Menschen verwendet
werden, die "nur" alt sind, ohne krank oder behindert zu sein. Die Beklagte legt indes keine Indizien (
z.B. statistische Daten) vor, die darauf hindeuten, dass dies der überwiegende Nutzerkreis ist. Der Kläger selbst war zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen
Aufwendungen erst 61 Jahre alt und hatte eine Krankheit (Schlaganfall) erlitten. Die Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, auf die sich die Beklagte bezieht, um ihre Behauptung, Haltegriffe seien bei älteren Menschen "Standard", zu
belegen, hat daraus jedenfalls gerade nicht den Schluss gezogen, sie seien der allgemeinen Lebenshaltung zuzuordnen. Es hat vielmehr entschieden, dass Haltegriffe für krankheits- oder behinderungsbedingt darauf angewiesene Menschen ein von den
gesetzlichen Krankenkassen zu bewilligendes Hilfsmittel im Sinne des § 33
Abs. 1
SGB V darstellen (
LSG NW, Beschl. v. 16.10.2008 -
L 16 B 60/08 KR, juris Leitsatz 1 und Rn. 12). Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass
z.B. auch § 18a
Abs. 2 OrthV Haltegriffe unter dem Oberbegriff "behindertengerechte Ausstattungen" zu den Hilfsmitteln zählt, die vom Leistungsumfang des BVG umfasst sind, soweit der Betroffene auf sie angewiesen ist.
2. Der Vortrag der Beklagten, die Beihilfefestsetzungsstelle habe ohne weitere Ermittlungen die Notwendigkeit der Haltegriffe im Sinne des § 6
Abs. 1 Satz 1 BBhV in der damals gültigen Fassung (entspricht § 6
Abs. 3 Satz 1 BBhV in der heute gültigen Fassung)
verneinen dürfen, obwohl diese dem Kläger ärztlich verordnet worden waren, überzeugt nicht. Jedenfalls ergibt sich eine solche Befugnis nicht aus dem von der Beklagten diesbezüglich allein angeführten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom
22.08.2018 - 5 B 3/18, juris. Das Bundesverwaltungsgericht betont dort, dass bei der Prüfung der medizinischen Notwendigkeit von Aufwendungen regelmäßig der Beurteilung des verordnenden Arztes zu folgen sein wird, weil dieser über die erforderliche Sachkunde verfügt (
BVerwG, aaO., Rn. 9). Allerdings dürfe die Festsetzungsstelle in Zweifelsfällen nach weiterer Sachverhaltsaufklärung (
z.B. durch Einholung eines Gutachtens) die Notwendigkeit trotz einer ärztlichen Verordnung verneinen (
BVerwG, aaO., Rn. 10). Die von der Beklagten für sich reklamierte Befugnis, ohne weitere Sachverhaltsaufklärung von der Einschätzung des verordnenden Arztes
bzw. der verordnenden Ärztin abzuweichen, ergibt sich daraus gerade nicht.
3. Das Zulassungsvorbringen stellt die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Haltegriffe seien zum (mittelbaren) Ausgleich einer Behinderung des Klägers erforderlich gewesen (§ 25
Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 BBhV), nicht in Frage. Das Verwaltungsgericht hat dies mit der Begründung angenommen, die Haltegriffe ermöglichten es dem Kläger, trotz seiner Schwindelanfälle seine elementare Körperpflege zu betreiben und damit ein Grundbedürfnis des alltäglichen Lebens zu befriedigen. Die Beklagte stellt die allgemeinen
Maßstäbe, die das Verwaltungsgericht für das Vorliegen eines mittelbaren Behinderungsausgleichs aufgestellt hat, in ihrem Zulassungsvorbringen nicht in Frage. Sie wendet sich lediglich gegen deren Anwendung im Einzelfall.
Soweit sie vorträgt, der Kläger habe nicht behauptet, dass er ohne die Haltegriffe seiner elementaren Körperpflege nicht oder nur schwer nachgehen könne, trifft dies nicht zu. Auf
S. 3 im dritten Absatz der Klageschrift hatte der Kläger vorgetragen: "Der Kläger leidet an Schwindelanfällen, die insbesondere bei Toilettengängen oder beim Duschen verstärkt anfallen und die dazu führen können, dass der Kläger stürzt. Es besteht mithin eine erhebliche Unfallgefahr, die behinderungsbedingt ist und zwingend ausgeglichen werden muss."
Ohne Erfolg wendet die Beklagte ein, es erscheine angesichts der Ausführungen im Entlassungsbericht der Reha-Einrichtung vom 17.10.2018 "unwahrscheinlich", dass der Kläger zur elementaren Körperpflege auf die Haltegriffe angewiesen sei. Dass der Bericht
dem Kläger bescheinigt, nach Abschluss der stationären Reha ein sicherer und ausdauernder Fußgänger und Fahrradfahrer zu sein, sowie zur weiteren Verbesserung seine Reintegration in einen Sportverein empfiehlt, führt nicht zwingend zu dem Schluss,
der Kläger könne gefahrlos ohne Haltegriffe duschen und zur Toilette gehen. Die Beklagte selbst zitiert auch eine andere Stelle des Entlassungsberichts, wonach der Kläger damals immer noch "leichte Defizite im Bereich der Ausdauer und der Koordination" aufwies. In dem Entlassungsbericht wird unter Ziff. 9.4. (Hilfsmittel) ausdrücklich die Verordnung von Haltegriffen für Dusche und Toilette erwähnt. Will die Beklagte von dieser ärztlichen Einschätzung abweichen, hätte sie - wie oben unter Ziff. 2 ausgeführt - den Sachverhalt weiter aufklären müssen.
4. Entgegen der Auffassung der Beklagten schließt auch die Systematik der Anlagen 11 (beihilfefähige Hilfsmittel) und 12 (nicht beihilfefähige Hilfsmittel) zur BBhV eine Beihilfefähigkeit der Haltegriffe nicht aus.
Haltegriffe sind weder in Anlage 11 zur BBhV ausdrücklich als beihilfefähig aufgeführt noch wird ihre Beihilfefähigkeit durch Anlage 12 zur BBhV ausdrücklich ausgeschlossen. Das Verwaltungsgericht hat sie als mit den in Ziff. 1.16 und 1.18 der Anlage 11 aufgezählten
"Aufrichteschlaufen" und "Aufstehgestellen" vergleichbar und damit als nach § 25
Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 a.E. BBhV beihilfefähig angesehen. Die Beklagte trägt hiergegen vor, Aufrichteschlaufen und Aufstehgestelle dienten dazu, sich nach oben zu ziehen, was bei Haltegriffen nicht der Fall sei. Dies mag zutreffen. Das Zulassungsvorbringen erläutert aber nicht einmal ansatzweise, inwiefern dieser Unterschied es vor dem Hintergrund der Zielsetzung von § 25 BBhV und Anlage 11 ausschließt, beides als miteinander vergleichbar anzusehen. Das Verwaltungsgericht hat nicht behauptet, Haltegriffe seien "Aufrichteschlaufen" oder "Aufstehgestelle", sondern nur, dass sie mit diesen vergleichbar seien. Dies beinhaltet notwendigerweise das Zugestehen gewisser Unterschiede.
Ebenso stellt der Hinweis, dass "Toilettenhilfen" nach Ziff. 20.5. der Anlage 11 zur BBhV nur bei Schwerbehinderten beihilfefähig sind, das angefochtene Urteil nicht schlüssig in Frage. Wieso die vorliegend streitgegenständlichen Haltegriffe mehr mit einer
"Toilettenhilfe" als mit "Aufrichteschlaufen" vergleichbar sein sollen, erläutert die Begründung des Zulassungsantrags nicht.
Nicht schlüssig ist das Argument der Beklagten, der Verordnungsgeber hätte Haltegriffe in die Anlage 11 zur BBhV aufgenommen, wenn er sie für beihilfefähig hielte. Dabei wird verkannt, dass Anlage 11 nicht abschließend ist (
vgl. § 25
Abs. 4 Satz 1 BBhV). Jedenfalls hat der Verordnungsgeber Haltegriffe auch nicht in die Aufzählung der nicht beihilfefähigen Hilfsmittel nach Anlage 12 zur BBhV aufgenommen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154
Abs. 2
VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47
Abs. 1, 3, § 52
Abs. 3 Satz 1 GKG.