Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten eines Telefonsenders für Hörbehinderte (Telefonlichtanlage) i.H.v. 139,00
EUR.
Unter dem 19.12.2014 stellte der Arzt
Dr. W. dem 1966 geborenen Beigeladenen, Mitglied der Beklagten, eine Verordnung/Bescheinigung zur Hilfsmittelversorgung aus. Darin heißt es, bei dem Beigeladenen bestehe eine beidseitige hochgradige Schwerhörigkeit. Ein Rauchmelder mit Koppelung zur Lichtsignalanlage sei indiziert. Die Kostenübernahme durch die Krankenkasse werde befürwortet.
Mit bei der Beklagten am gleichen Tag eingegangenem Kostenvoranschlag vom 19.12.20114 beantragte die Firma I.
GmbH für den Beigeladenen (unter Vorlage der Bescheinigung des
Dr. W. vom 19.12.2014) die Gewährung eines Rauchmelders, eines Türklingelsenders einer Batterieblinklampe (Blitzlampe) und eines Telefonsenders; ein Telefonsender erkennt das Klingeln des Telefons und sendet ein Funksignal an alle angeschlossenen Empfänger, etwa an eine Blitzlampe. Die Kosten des Telefonsenders betrugen 139,00
EUR.
Die Beklagte gewährte dem Beigeladenen die beantragten Hilfsmittel mit Ausnahme des Telefonsenders. Insoweit leitete sie den Leistungsantrag mit Schreiben vom 30.12.2014 an den Kläger weiter. Dieser sei zuständiger Leistungsträger für die Gewährung des Telefonsenders. Das Telefonieren gehöre nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, deren Befriedigung die gesetzliche Krankenversicherung (
GKV) sicherstellen müsse. Mit Schreiben (ebenfalls) vom 30.12.2014 teilte die Beklagte dem Beigeladenen die Weiterleitung des Leistungsantrags mit.
Mit an den Beigeladenen gerichtetem Bescheid vom 20.01.2015 übernahm der Kläger die Kosten des Telefonsenders. Man sei als zweitangegangener Leistungsträger für die Entscheidung über den Leistungsantrag zuständig (
§ 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch,
SGB IX), werde aber von der Beklagten Kostenerstattung verlangen. Bei dem Telefonsender handele es sich um ein von der
GKV zu gewährendes Hilfsmittel
i.S.d. § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V). Sollte der Sozialhilfeträger nach Maßgabe des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (
SGB XII) doch zur Gewährung des Hilfsmittels verpflichtet sein, müssten noch die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Beigeladenen geprüft werden; dazu würden
ggf. die notwendigen Angaben angefordert.
Mit Schreiben (ebenfalls) vom 20.01.2015 meldete der Kläger bei der Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch (§§ 102
ff. Sozialgesetzbuch Zehntes Buch,
SGB X) an. Telefonsender würden regelmäßig von den Krankenkassen als Hilfsmittel der
GKV gewährt.
Mit Schreiben vom 10.02.2015 lehnte die Beklagte die Erstattung der Kosten des Telefonsenders ab. Mit Schreiben vom 09.03.2015 machte der Kläger erneut Kostenerstattung geltend, was die Beklagte mit Schreiben vom 26.03.2015 wiederum ablehnte; Telefonsender dienten dem mittelbaren Behinderungsausgleich und seien von der
GKV nicht zu gewähren.
Am 15.04.2015 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG). Der hochgradig schwerhörige Beigeladene sei zum Erkennen von Telefonanrufen und damit zur telefonischen Kommunikation mit anderen Menschen, einem von der
GKV zu befriedigenden Grundbedürfnis, auf den Telefonsender angewiesen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (
BSG, Urteil vom 29.04.2010, -
B 3 KR 5/09 R -, in juris) sei eine Lichtsignalanlage für Hörbehinderte zum Behinderungsausgleich erforderlich, wobei nicht danach unterschieden werde, ob das Lichtsignal das Läuten einer Türklingel oder eines Telefons anzeige (
BSG, a.a.O.
Rdnr. 14). Das
BSG sehe das Telefonieren damit auch als Grundbedürfnis an (
vgl. auch SG Hamburg, Urteil vom 13.09.2011, - S 28 KR 1752/10 -, vorgelegt, und
LSG Hamburg, Urteil vom 27.09.2012, -
L 1 KR 147/11 -, in juris).
Die Beklagte trat der Klage entgegen. Blitzlampen in Verbindung mit Türklingelsendern ermöglichten dem Hörbehinderten das Erkennen unangekündigter Besuche (etwa durch Paketzusteller). Hierfür sei die
GKV im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs zuständig. Die Kommunikation mit Hilfe des Telefons sei für das Grundbedürfnis nach selbstständiger Lebensführung und nach Kommunikation mit anderen Menschen aber nicht erforderlich, stelle vielmehr eine Kommunikationsmöglichkeit nur für bestimmte Lebenssituationen dar. Der Beigeladene sei in der Mobilität und Sprechfähigkeit nicht eingeschränkt und erwerbstätig. Vereinsamung drohe ihm daher auch ohne Kommunikation mit Hilfe des Telefons nicht.
Mit Urteil vom 22.01.2016 verurteilte das SG die Beklagte, dem Kläger die Kosten des dem Beigeladenen gewährten Telefonsenders i.H.v. 139,00
EUR zu erstatten. Die Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Zur Begründung führte das SG aus, die Klage sei begründet; der Kläger habe Anspruch auf Erstattung der Kosten des dem Beigeladenen gewährten Telefonsenders aus § 104
Abs. 1
SGB X. Nach näherer Maßgabe dieser Vorschrift sei derjenige Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Leistungsberechtigte (hier: der Beigeladene) vorrangig einen Anspruch habe oder gehabt habe, wenn die Sozialleistung durch einen nachrangig verpflichteten Leistungsträger erbracht worden sei. Nachrangig verpflichtet sei ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Hier sei die Beklagte vorrangig leistungspflichtig gewesen. Das folge aus
§ 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3 SGB V i.V.m. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach hätten Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich seien, (u.a.) um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach
§ 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen seien. Der Telefonsender stelle ein Hilfsmittel dar, das die beidseitige hochgradige Schwerhörigkeit des Beigeladenen zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar ausgleichen solle. Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich würden von der
GKV gewährt, wenn sie die Auswirkung der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigten oder milderten und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens beträfen. Zu diesen Grundbedürfnissen gehörten u.a. das Hören sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, was auch die Aufnahme von Informationen und die Kommunikation mit anderen Menschen umfasse (
vgl. BSG, Urteile vom 29.04.2010, -
B 3 KR 5/09 R -, und vom 18.06.2014, -
B 3 KR 8/13 R -, beide in juris); hierfür sei der Telefonsender erforderlich. Das selbstständige Kommunizieren mit anderen Menschen stelle ein Grundbedürfnis dar; es habe die passive Erreichbarkeit des Versicherten für spontane Telefonanrufe zum Gegenstand. Dafür sei notwendig, dass das für Gesunde hörbare Telefonsignal in ein für den hörbehinderten Beigeladenen wahrnehmbares optisches Signal umgewandelt werde (so auch SG Hamburg, Urteil vom 13.09.2011, - S 28 KR 1752/10 -). Der Telefonsender sei kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, zumal Lichtsignalanlagen der in Rede stehenden Art unter
Nr. 16.99.09.0077 im
GKV-Hilfsmittelverzeichnis geführt würden. Der Telefonsender sei auch ein beweglicher Gegenstand
i.S.d. § 31 Abs. 1 SGB IX. Er könne bei einem Wohnungswechsel ohne weiteres ausgebaut und mit vertretbarem Aufwand in einer neuen Wohnung wiederverwendet werden.
Gegen das ihr am 10.03.2016 zugestellte Urteil hat die Beklagte am (Montag, dem) 11.04.2016 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, der Telefonsender sei kein Hilfsmittel der
GKV. Die Nutzung eines Telefons diene regelmäßig nicht dem mittelbaren Ausgleich des behinderungsbedingt ein-geschränkten Grundbedürfnisses nach Kommunikation, sondern ermögliche die Kommunikation mit anderen Menschen nur in bestimmten Lebenssituationen. Das Telefonieren, auch mit Hilfe eines optischen Signalsenders, befriedige besondere private, berufliche oder gesellschaftliche Bedürfnisse, gehöre jedoch nicht zu den elementaren Lebensbetätigungen (
vgl. auch etwa
LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 30.05.2007, -
L 6 KR 4/06 -;
LSG Hessen, Urteil vom 12.04.2007, -
L 1 KR 219/05-;
LSG Sachsen, Urteil vom 17.10.2007, -
L 1 KR 18/06 -, alle in juris). Die Kommunikation durch Telefonieren sei auch keine zwingende Voraussetzung für eine selbstständige Lebensführung. Anderes gelte für einen (von ihr auch gewährten) Türklingelsender oder einen mit einem Wecker verbundenen Sender. Der Beigeladene sei erwerbstätig und in seiner Mobilität und Sprechfähigkeit nicht eingeschränkt. Die Gefahr der Vereinsamung bestehe daher nicht, da die Kommunikation mit anderen Menschen auch ohne Nutzung des Telefons gewährleistet sei. Der Telefonsender könne allenfalls als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gemäß
§§ 53 und
54 SGB XII i. V. m.
§§ 26 und
55 SGB IX gewährt werden; leistungspflichtig sei dann aber der Kläger als Träger der Sozialhilfe.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 22.01.2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
diie Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil und bekräftigt sein bisheriges Vorbringen. Die von der Beklagen angeführte
LSG-Rechtsprechung habe andere Fallgestaltungen zum Gegenstand (
GPS-System für blinde Versicherte, Bildtelefon für gehörlose Versicherte). Hier gehe es nicht um die Art und Weise der Kommunikation (über Bildtelefon oder Webcam), sondern um die Wahrnehmung der Telefonklingel.
Mit Beschluss vom 20.03.2018 hat der Senat den Beigeladenen zum Verfahren beigeladen. Er hat sich zur Sache nicht geäußert und Anträge nicht gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Senatsentscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153
Abs. 1, 124
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des SG und des Senats Bezug genommen.
Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§§ 153
Abs. 1, 124
Abs. 2
SGG).
Die Berufung der Beklagten ist gemäß §§ 143, 144
SGG statthaft. Streitgegenstand ist die Erstattung der Kosten eines Telefonsenders, die der Kläger mit an den Beigeladenen gerichtetem Bescheid vom 20.01.2015 übernommen hat. Der Erstattungsbetrag (139,00
EUR) erreicht zwar nicht den Beschwerdewert des § 144
Abs. 1 Satz 1
Nr. 2
SGG (10.000
EUR), jedoch hat das SG die Berufung in seinem Urteil zugelassen. Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und daher auch im Übrigen gemäß § 151
SGG zulässig.
Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Der Senat teilt die Rechtsauffassung des SG und nimmt auf die zutreffenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils Bezug (§ 153
Abs. 2
SGG). Ergänzend sei angemerkt:
Das SG hat in seinem Urteil die (den Beteiligten auch geläufigen) Rechtsgrundsätze dargelegt, die für die Hilfsmittelversorgung gesetzlich Versicherter nach Maßgabe des
§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V gelten. Ausschlaggebend ist danach im Hinblick auf den hier (unstreitig) in Rede stehenden mittelbaren Behinderungsausgleich, ob der Telefonsender der Befriedigung des Grundbedürfnisses des hörbehinderten Menschen nach Kommunikation mit anderen Menschen dient. Das Grundbedürfnis nach Kommunikation mit anderen Menschen umfasst die passive Erreichbarkeit durch Menschen aus dem Bereich der Außenwelt für Besuche, und zwar auch für nicht angemeldete, spontane Besuche (
BSG, Urteil vom 29.04.2010, -
B 3 KR 5/09 R -, in juris
Rdnr. 15); deshalb muss die Krankenkasse dem Hörbehinderten
ggf. einen Türklingelsender als Hilfsmittel der
GKV gewähren, damit er das für Gesunde hörbare Türklingelgeräusch (als Lichtsignal) wahrnehmen kann (
BSG, a.a.O.). Nach Auffassung des Senats umfasst das Grundbedürfnis nach Kommunikation mit anderen Menschen nicht nur die passive Erreichbarkeit für (spontane) Besuchskontakte mit anderen Menschen (als reale Kontakte im Sinne des "Besuchtwerdenkönnens"), sondern auch die passive Erreichbarkeit für (spontane) Telefonkontakte mit anderen Menschen (als virtuelle Kontakte im Sinne des "Angerufenwerdenkönnens"). Dass sich die Lebenssituation, in der die Kommunikation des Hörbehinderten mit anderen Menschen stattfindet, bei (spontanen) Besuchskontakten anders darstellt als bei (spontanen) Telefonkontakten, ist nicht ausschlaggebend. Das
BSG hat im genannten Urteil vom 29.04.2010 zwar nur über die Gewährung eines Türklingelsenders als Hilfsmittel der
GKV entschieden, gleichwohl aber auch das "Läuten des Telefons"
bzw. dessen Umwandlung in optische Signale (durch einen Telefonsender) als Beispiel für einen mittelbaren (Hör-)Behinderungsausgleich durch die
GKV angeführt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a
Abs. 1 Satz 1
SGG i.V.m. § 154
Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO). Es entspricht nicht der Billigkeit, der Beklagten auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, da dieser (insbesondere) Sachanträge nicht gestellt und damit kein Prozessrisiko übernommen hat.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52
Abs. 3 Gerichtskostengesetz (GKG).
Der Senat lässt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu (§ 160
Abs. 2
Nr. 1
SGG).