Urteil
Versorgung mit einer zusätzlichen Orthesensitzschale durch die gesetzliche Krankenversicherung

Gericht:

LSG Niedersachsen-Bremen 4. Senat


Aktenzeichen:

L 4 KR 249/00


Urteil vom:

27.08.2002


Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft die Zweitversorgung mit einer Orthesensitzschale.

Der im September 1992 geborene Kläger leidet an einer Hirnfehlbildung mit Pachygyrie, Microcephalie, konsekutiver spastischer Tetraparese, symptomatischer Epilepsie, Hüftluxation links, wiederkehrenden obstruktiven Bronchitiden und Pneumonien. Im Jahre 1996 wurde der Kläger ua mit einer Orthesensitzschale nebst Untergestell versorgt. Mit Datum vom 3. Dezember 1998 verordnete das Kinderkrankenhaus E. eine weitere Orthesensitzschale Größe 6 mit Zubehör, Zimmeruntergestell und Tischplatte. Ein entsprechender Kostenvoranschlag der Firma F. Sanitätshäuser vom 7. Dezember 1998 wurde von der Beklagten mit dem Vermerk versehen, dass nur die Kosten für ein Untergestell mit Tischplatte, Armlehnen und Fußbank übernommen würden. Die Mutter des Klägers quittierte unter dem 23. Februar 1999 den Erhalt dieser Hilfsmittel. Mit Schreiben vom 28. Februar 1999 berief sich die Mutter des Klägers auf ein mit einer Mitarbeiterin der Beklagten geführtes Telefongespräch und legte gegen die Ablehnung der Zweitversorgung mit einer Orthesensitzschale Widerspruch ein. Mit weiterem Schreiben vom 25. Mai 1999 mahnte sie die Bearbeitung des Widerspruches an.

Mit Anhörungsschreiben vom 11. Juni 1999 teilte die Beklagte den Eltern des Klägers mit, dass zwar eine Mehrfachausstattung mit typengleichen Untergestellen für die Orthesensitzschale gewährt werde, eine Ausstattung mit einer weiteren Sitzschale im Falle des Klägers jedoch nicht erforderlich sei. Das Verwaltungsverfahren wurde von den Beteiligten nicht weitergeführt.

In der Zeit vom 11. November bis 8. Dezember 1999 war der Kläger im Kinderzentrum G. in stationärer Behandlung. In einem Schreiben vom 16. März 2000 erläuterte das Kinderzentrum, dass im Rahmen des stationären Aufenthaltes neben der Aktualisierung des Förderkonzeptes die Revision/Neuversorgung erforderlicher Hilfsmittel im Vordergrund gestanden habe. Man habe sich zur Neuversorgung mit Orthesensitzschalen entschlossen, wobei diese bei der Komplexität der bestehenden Mehrfachbehinderung individuell angefertigt worden seien, mit individuell angepasstem Abduktionskeil, Beinführung, Seitenbegrenzung, Haltesystemen, Kopfpolster, Fußbrettpolster, Sitzkeil und Skoliosepelotten. Die Sitzschalen würden sowohl im häuslichen Bereich, als auch in der betreuenden Kindertagesstätte des Klägers benötigt. Ein Transport der Orthesensitzschalen mit Untergestell sei nach dortiger Einschätzung nicht möglich. Aus diesem Grunde sei eine Zweitversorgung veranlasst und verordnet worden. Aus einem Schreiben der Firma H. vom 27. März 2000 ging hervor, dass der Kläger während seines Aufenthaltes im Kinderzentrum G. mit zwei Sitzschalen nach Maß versorgt worden sei, da die vorhandene Schale nicht mehr dem Größenwachstum des Kindes entsprochen habe. Da die Familie über zwei Untergestelle verfüge und das Kinderzentrum den ständigen Wechsel einer Schale zwischen Elternhaus und Kindergarten nicht für zweckmäßig gehalten habe, seien zwei Sitzschalen angefertigt und den Eltern mit nach Hause gegeben worden. Der technische Berater I. hielt in seinen Hilfsmittelberatungen vom 11. und 21. Januar 2000 gegenüber der Beklagten unter den bei dem Kläger gegebenen Umständen die Versorgung mit einer baugleichen Zweitausstattung der im häuslichen Bereich genutzten Sitzschale mit Untergestell für vertretbar. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) vertrat in einem Gutachten vom 21. Februar 2000 J. die Auffassung, dass die Versorgung des Klägers mit einer zweiten Sitzschale nicht nachvollziehbar sei, da sein Wachstum noch nicht abgeschlossen sei.

Mit Bescheid vom 23. März 2000 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für eine zweite Sitzschale für den Kläger ab. Nach dem gültigen Hilfsmittelkatalog komme eine Mehrfachausstattung lediglich für Fahr- bzw Untergestelle in besonderen Fällen in Betracht. Jedoch werde auch bei einer Mehrfachausstattung mit solchen Gestellen nicht die Erforderlichkeit einer Mehrfachausstattung mit weiteren Sitzschalen gesehen. Auch der Medizinische Dienst habe eine medizinische Notwendigkeit für die Versorgung mit einer zweiten Sitzschale nicht nachvollziehen können. Der gegen diesen Bescheid erhobene Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 18. Mai 2000, gestützt auf eine Hilfsmittelberatung des technischen Beraters I. vom 12. April 2000, zurück.

Mit seiner am 20. April 2000 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Die zweite Sitzschale sei für die Verwendung im Kindergarten bzw in der Schule erforderlich. Soweit sich die Beklagte auf das Hilfsmittelverzeichnis berufe, sei dieses rechtlich nicht verbindlich. Außerdem habe auch der technische Berater der Beklagten die zweite Schale für sinnvoll erachtet. Das Gebot der Wirtschaftlichkeit schränke das Erfordernis der Versorgung mit einem Hilfsmittel nicht ein. Es sei zu bedenken, dass die 13 kg schwere Sitzschale sich schwer transportieren lasse, zumal sie sehr unhandlich sei.

Das Sozialgericht Hannover hat die Klage durch Urteil vom 24. Oktober 2000 abgewiesen. Es fehle für die beanspruchte Versorgung mit einer zweiten Sitzschale an der Erforderlichkeit und damit auch an der Wirtschaftlichkeit, die nach den Bestimmungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu fordern seien. Der Transport der 13 kg schweren Sitzschale sei zumutbar und könne evtl auch mit üblichen Haushaltshilfen unschwer bewerkstelligt werden. Es sei ferner zu bedenken, dass die Versorgung mit Hilfsmitteln nur einem Basisausgleich diene, nicht aber der Freistellung von jeglicher durch die Krankheit oder Behinderung verbundenen Belastung.

Gegen dieses seinem Bevollmächtigten am 8. November 2000 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30. November 2000 rechtzeitig Berufung eingelegt. Er macht geltend, dass der Transport der Sitzschale praktisch nicht durchführbar sei. Auch sei von der technischen Ausstattung der Sitzschale und der Untergestelle eine dauernde Montage der Sitzschale nicht vorgesehen. Im Übrigen sei durch eine Ende Dezember 2000 eingetretene Veränderung im Schul- und Wohnumfeld des Klägers dieser auf eine Versorgung mit einer zweiten Sitzschale nunmehr nicht mehr angewiesen.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 24. Oktober 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 2000 aufzuheben,

2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger von den Kosten für die zweite Orthesen-Sitzschale freizustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung und die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Sie verweist ferner darauf, dass der Kläger bei der Beschaffung der zweiten Sitzschale den ablehnenden Bescheid vom 23. März 2000 nicht abgewartet habe. Es fehle demnach an der erforderlichen Kausalität zwischen den bei dem Kläger entstandenen Kosten und der ablehnenden Entscheidung. Nach der Rechtsprechung des BSG sei unter diesen Umständen eine Kostenerstattung schon aus Rechtsgründen nicht möglich.

Der Senat hat im Termin zur mündlichen Verhandlung zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes die Mutter des Klägers gehört und die Sitzschale nebst Untergestell in Augenschein genommen.

Wegen der Einzelheiten des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen.

Rechtsweg:

SG Hannover Urteil vom 24.10.2000 - S 11 KR 333/00

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die gem §§ 143 und 144 Abs 1 Ziff 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt, mithin zulässig.

Die erweist sich indessen als unbegründet.

Das SG und die Beklagte haben zutreffend entschieden, dass der Kläger die Versorgung mit einer zweiten individuell für ihn angefertigten Orthesensitzschale zu Lasten der Beklagten nicht beanspruchen kann.

Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers, der diesen Sitz bereits erhalten und in Gebrauch genommen hatte, sind §§ 33 Abs 1 Satz 1 und 2 Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V) iVm § 13 Abs 3 SGB V. § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V lautet wie folgt: Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.

Die nach § 13 Abs 3 Satz 1 erforderliche Kausalität zwischen der Leistungsablehnung durch die Beklagte und der dadurch für die selbstbeschaffte Leistung entstandenen Kosten für den Kläger ist gegeben. Zwar hat der Kläger bzw haben seine Eltern auf die Verordnung des Kinderzentrums G. vom 6. Dezember 1999 unter Berücksichtigung des Schreibens der Firma H. vom 27. März 2000 die zweite Sitzschale bereits während der stationären Behandlung im Kinderzentrum vom 11. November bis 8. Dezember 1999 beschafft bzw wurde diese dem Kläger unmittelbar nach der Behandlung im Januar 2000 nach Hause nachgeschickt. Dieser Beschaffung war aber bereits zuvor ein Verwaltungsverfahren vorausgegangen, das auf der Verordnung einer Orthesensitzschale Größe 6 durch das Kinderkrankenhaus E. vom 3. Dezember 1998 beruhte. Auf die Verordnung vom 3. Dezember 1998 hatte die Firma F. mit Kostenvoranschlag vom 7. Dezember 1998 auch eine zweite Orthesensitzschale der Größe 6 angeboten. Die Beklagte hatte auf diesen Kostenvoranschlag mit Vermerk vom 4. Februar 1999 dahingehend reagiert, dass nur die Kosten für ein Untergestell mit Tischplatte, Armlehnen und Fußbank übernommen würden. Aus dem Schreiben der Mutter des Klägers vom 28. Februar 1999 geht hervor, dass die Beklagte auch dem Kläger gegenüber die Zweitausstattung mit einer Sitzschale abgelehnt hatte. Mit Anhörungsschreiben vom 11. Juni 1999 hat die Beklagte den Eltern des Klägers gegenüber noch einmal ihre Rechtssauffassung ausführlich erläutert und dargelegt, dass eine Ausstattung mit einer weiteren Sitzschale im Falle des Klägers nicht erforderlich sei. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) ist ein Erstattungsanspruch nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte zwar im konkreten Fall nicht versucht hat, eine Sachleistung zu erlangen, von vornherein aber festgestanden hat, dass ihm diese Leistung verweigert werden würde (vgl SozR 2200 § 182 RVO Nr 86). Von einem derartigen Sachverhalt ist im vorliegenden Falle auszugehen, weil die Beklagte den Eltern des Klägers gegenüber bereits Ende 1998 bzw Anfang 1999 die Versorgung des Klägers mit einer zweiten Sitzschale abgelehnt hat. Die Selbstbeschaffung der zweiten Orthesensitzschale führt demnach nicht zu einem Ausschluss des Kostenerstattungsanspruches nach § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V.

Die Voraussetzungen des § 13 Abs 3 SGB V liegen aber deshalb nicht vor, weil der Kläger keinen Anspruch auf eine zweite Orthesensitzschale hat.

Nach § 33 Abs 1 Sätze 1 und 2 haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Der Anspruch umfasst auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch. Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung des BSG nur dann "erforderlich”, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Dazu gehören zum einen die körperlichen Grundfunktionen (Gehen, Stehen, Treppen steigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung) und zum anderen die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfasst. Maßstab ist stets der gesunde Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der kranke oder behinderte Mensch durch die medizinische Rehabilitation und mit Hilfe des von der Krankenkasse gelieferten Hilfsmittels wieder aufschließen soll (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 SGB V Nr 31, Seite 185 mwN).

Der Senat hat sich insbesondere unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht die Überzeugung bilden können, dass die Versorgung des Klägers mit einer zweiten Orthesensitzschale im vorgenannten Sinne als erforderlich angesehen werden kann. Die Grundbedürfnisse des Klägers sind durch die Versorgung mit einer Orthesensitzschale bereits unter Berücksichtigung der in der gesetzlichen Krankenversicherung zu beachtenden Grundsätze ausreichend abgedeckt. Eine zweite Sitzschale dient nicht seinem Grundbedürfnis auf Sitzen, sondern der Erleichterung der Pflege durch seine Mutter. Da der Kläger über zwei Untergestelle verfügt, von denen sich eines im häuslichen Umfeld und das andere im Bereich des Kindergartens bzw nachfolgend im Bereich der Schule befindet bzw befand, war es aufgrund der technischen Gegebenheiten möglich, die Orthesensitzschale - wenn auch mit gewissem Aufwand - vom Untergestell im häuslichen Umfeld zu lösen, um es sodann nach dem Transport im Kindergartenbereich bzw im Bereich der Schule wieder anzubringen. Der Senat hat sich im Verlaufe der Beweisaufnahme ein Bild darüber machen können, dass das Lösen der Sitzschale mit Hilfe des Klemmstiftes verhältnismäßig einfach möglich ist, während die Wiederanbringung mit gewissen Schwierigkeiten verbunden ist. Sie sind zumutbar und nehmen keinen besonderen Zeitaufwand in Anspruch. Das Gewicht der Sitzschale ist nicht als so gravierend einzuschätzen, als das nicht - wie das SG bereits ausgeführt hat - ein Transport mit üblichen Haushaltsmitteln möglich wäre.

Aus dem Vorbringen der Mutter des Klägers geht im Wesentlichen ebenfalls hervor, dass nicht Grundbedürfnisse des Klägers im Vordergrund für die Beschaffung der Orthesensitzschale standen. Vielmehr war maßgeblicher Gesichtspunkt für die Anschaffung die Erleichterung der Pflege des Klägers durch die Mutter. Es leuchtet ein, dass diese, zumal sie bereits gesundheitlich selbst angeschlagen ist, durch den Transport des ca 24 kg wiegenden Klägers (mit Stützkorsett) und der etwa 13 kg schweren Sitzschale erheblich gefordert wird. Hierbei handelt sich indessen um einen Gesichtspunkt, der nicht im Rahmen der Hilfsmittelgewährung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zu berücksichtigen wäre. Inwieweit eine Leistungsgewährung als Pflegehilfsmittel im Sinne des § 40 SGB XI durch die zuständige Pflegekasse in Betracht käme, kann der Senat im vorliegenden Verfahren nicht prüfen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen.

Referenznummer:

R/R4474


Informationsstand: 10.02.2010