Urteil
Kostenvoranschläge für Orthesen oder Prothese und Unterlassung von (Zwischen-) Mitteilungen an Versicherte

Gericht:

SG Düsseldorf 8. Kammer


Aktenzeichen:

S 8 KR 69/06 ER


Urteil vom:

19.06.2006


Tenor:

Der Antragsgegnerin wird bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren untersagt, - die Genehmigung von Kostenvoranschlägen von Mitgliedern der Antragstellerin über Orthesen oder Prothesen vom Abschluss einer Preisvereinbarung abhängig zu machen und - den Mitgliedern der Antragstellerin eine anderweitige Auftragsvergabe für den Fall anzukündigen, dass kein Einzelvertrag unterbreitet wird, und - ihre Versicherten dahingehend zu informieren, dass eine Bewilligung des Hilfsmittel-Angebotes eines Mitglieds der Antragstellerin mangels Preisvereinbarung noch vom Ergebnis einer entsprechenden Kontaktaufnahme abhänge. Der Antragsgegnerin werden die Verfahrenskosten auferlegt.

Tatbestand:

Die Antragstellerin begehrt die Unterlassung von Anschreiben an ihre Mitglieder, mit denen die Antragsgegnerin die Bearbeitung von Kostenvoranschlägen vom Abschluss eines Einzelpreisvertrages abhängig macht sowie die Unterlassung von entsprechenden (Zwischen-) Mitteilungen an die Versicherten.

Die Antragstellerin ist die für ihre als Mitglieder organisierten Orthopädie-Mechaniker zuständige Handwerksinnung. Sie hatte mit den vier übrigen Innungen des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) mit der Antragsgegnerin und den anderen Primärkassen NRW den Rahmenvertrag vom 10.11.1993 geschlossen. Nach der Kündigung dieses Vertrages seitens der Antragsgegnerin zum 31.12.2001 und während eines hinsichtlich der zu Grunde liegenden Streitfrage anhängigen Rechtsstreits haben die Beteiligten am 21.02.2002 eine Vereinbarung (sog. Vergleichsvertrag - VV - ) dahingehend getroffen, dass "die Abrechnungsmodalitäten und Preisvereinbarungen gemäß dem Rahmenvertrag von 1993 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in den anhängigen gerichtlichen Verfahren bezogen auf die von einer Ausschreibung nicht erfassten Hilfsmittel weiter gelten". Seit Februar/März 2006 wurden der Antragstellerin Fälle bekannt, in denen die Antragsgegnerin näher bezeichnete Schreiben an Mitglieder der Antragstellerin und an ihre Versicherten als Reaktion auf eingereichte Kostenvoranschläge zur Versorgung mit Orthesen und Prothesen versandt hat. Auf den Inhalt der der Antragsschrift beigefügten Schreiben vom 24.02., 03·03. und 01.03.2006 wird Bezug genommen.

Nach einem kurzen Schriftwechsel mit der Antragsgegnerin reichte die Antragstellerin beim Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ein, mit der sie die Unterlassung der zitierten Anschreiben begehrt. Die Versendung der Schreiben verstoße gegen die im Rahmenvertrag (RV) getroffenen Vereinbarungen, insbesondere gegen bereits bestehende Preisvereinbarungen, da die Antragsgegnerin die Genehmigung eines Kostenvoranschlags vom Abschluss eines vom RV abweichenden Einzelvertrages abhängig mache. Insoweit weist sie auch auf § 6 Abs. 3 RV hin. Auch nachdem die Antragsgegnerin nach dem Einreichen des Antrags auf einstweilige Anordnung abgeänderte Musterschreiben vorgelegt hat, macht sie einen andauernden Vertragsverstoß der Antragsgegnerin geltend. Entgegen der rahmenvertraglichen - weiter geltenden - Regelung würden Kostenvoranschläge nur bearbeitet, wenn ein Einzelvertrag abgeschlossen wird. Dieses sei rechtswidrig und verletze sowohl Rechte der Mitglieder der Antragstellerin als auch den Vertrag mit der Antragstellerin selber.

Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich,

1. der Antragsgegnerin bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu untersagen, an Mitglieder der Antragstellerin Schreiben mit dem aus Blatt 2, 3 und 4 der Gerichtsakte ersichtlichen Inhalt zu versenden,

2. der Antragsgegnerin bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu untersagen,

a) die Genehmigung von Kostenvoranschlägen, die Mitglieder der Antragstellerin für Versorgungen von Patienten mit Orthesen (Produktgruppe 23) einreichen, von dem Abschluss einer Preisvereinbarung abhängig zu machen, die von den rahmenvertraglichen Vereinbarungen der Antragstellerin mit der Antragsgegnerin abweicht,

b) in diesen Fällen Mitgliedern der Antragstellerin anzudrohen, Aufträge anderweitig zu vergeben, wenn das anbietende Mitglied der Antragstellerin kein Angebot zum Abschluss eines Einzelvertrages unterbreitet,

c) die Genehmigung von Kostenvoranschlägen, die Mitglieder der Antragstellerin für Versorgungen der Versicherten mit Prothesen (Produktgruppe 24) einreichen, vom Abschluss eines Rahmenvertrages und einer Preisvereinbarung abhängig zu machen, die von den rahmenvertraglichen Vereinbarungen der Antragstellerin mit der Antragsgegnerin abweicht,

d) ihren Versicherten gegenüber zu behaupten, dass zwischen Innungsmitgliedern der Antragstellerin und der Antragsgegnerin in bestimmten Produktsegmenten keine Verträge bestehen, es sei denn, es ginge um wiederverwertbare Hilfsmittel.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 13.03.2006 zurückzuweisen.

Sie hält den Antrag sowohl für unzulässig als auch für unbegründet. Zunächst könne die Antragstellerin kein eigenes Recht gelten machen. Darüber hinaus fehle es am Anordnungsgrund, da weder eine offensichtliche Rechtswidrigkeit bestehe noch bei der gebotenen Interessenabwägung das erforderliche Eilbedürfnis. Es fehle ebenso am Anordnungsanspruch. Die Antragsgegnerin sei nicht gehindert, Kostenvoranschläge in Einzelfällen abzulehnen. Ein Anspruch des Versicherten auf Versorgung durch einen zugelassenen Leistungserbringer seiner Wahl bestehe nach der BSG-Rechtsprechung (Urteil vom 23.01.2003 - B 3 KR 7/02 R - ) lediglich dann, wenn über die Einzelheiten der Versorgung also insbesondere über die Abgabepreise eine vertragliche Vereinbarung mit dem Lieferanten bestehe. Solange es keine vertragliche Preisvereinbarung für das konkrete Hilfsmittel mit dem konkreten Leistungserbringer gebe, sei der Krankenversicherungsträger nicht gehindert, einen Kostenvoranschlag abzulehnen und den Versicherten an einen Leistungserbringer zu verweisen, mit dem eine individuelle vertragliche Vereinbarung bereits geschlossen worden ist. So werde bei einem konkreten Versorgungsfall mit einem nicht preisvereinbarten Hilfsmittel das Angebot des Leistungserbringers, welcher die Versorgung vornehmen möchte, "zum Anlass genommen", diesen um ein Angebot auch über den konkreten Fall hinaus für zukünftige Fälle zu bitten. So seien bereits zahlreiche für beide Parteien günstige bilaterale Preisvereinbarungen in der Vergangenheit getroffen worden. Die Antragsgegnerin betont, dass sie die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens ausschließlich für die nicht bereits im gekündigten Rahmenvertrag preisvereinbarten Hilfsmittel reklamiere. Bei allen preisvereinbarten Hilfsmitteln halte sie sich auf der Grundlage des Vergleichsvertrages an die geltenden Preise. Unter Vorlage der entsprechenden Dienstanweisung hat sie vorgetragen, dass sie dafür Sorge getragen habe, dass die beanstandeten Schreiben in diesen Fälle keine Verwendung finden.

Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze und Unterlagen der Beteiligten Bezug genommen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Antragstellerin als Vertragsbeteiligte eigene Rechte geltend machen kann, während der Ausgangs-RV "nur" für die zugelassenen Meisterbetriebe des Orthopädie-Mechaniker- und Bandagisten-Handwerks sowie die Innungsmitglieder gilt (§ 2 RV). Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist die Antragstellerin als Handwerksinnung berechtigt, die Interessen ihrer Mitglieder auch im gerichtlichen Verfahren in Prozessstandschaft zu verfolgen (BSG, Urteil vom 24.11.2004 - B 3 KR 16/03 R - , Rn. 12, in: USK 2004-82, SozR 4-2500 § 36 Nr. 1).

Der Antrag ist auch begründet.

Bereits aus der Formulierung des Antrags zu 1., der Bezugnahme auf § 6 Abs. 3 RV und dem Vorbringen im Schriftsatz der Antragstellerin vom 30.05.2006, dass das Abhängigmachen der Bearbeitung von Kostenvoranschlägen vom Abschluss von Einzelverträgen rechtswidrig sei, ergibt sich, dass die Antragstellerin die Unterlassung entsprechender Schreiben nicht nur für den Fall von bereits preisvereinbarten Hilfsmitteln, sondern auch für den Fall von nicht preisvereinbarten Hilfsmitteln geltend macht. Dies hat sie mit Schriftsatz vom 02.06.2006 auf richterliche Nachfrage auch nochmal klargestellt.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) können einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind insoweit glaubhaft zu machen, vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO). Das einstweilige Rechtsschutzverfahren dient vorläufigen Regelungen. Nur wenn dies zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d. h. wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Sache spricht, weil dem Rechtsschutzsuchenden ein bestimmter Anspruch zusteht, ist ausnahmsweise der Vorwegnahme der Hauptsache, wie sie hier von der Antragstellerin begehrt wird, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zulässig.

Vorliegend sind für den Antrag im obigen Sinne Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund gegeben. Es spricht ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache und darüber hinaus ist das Interesse der Antragsgegnerin an der Verbindung zwischen der Genehmigung eines Kostenvoranschlages und dem begehrten Ziel einer Vertragsvereinbarung bei nicht preisvereinbarten Hilfsmitteln geringer zu bewerten als die diesbezüglich betroffene Berufsfreiheit der Mitglieder der Antragstellerin.

Auch nach der geänderten Praxis der Antragsgegnerin, die beanstandeten Schreiben nur noch in Fällen von nicht preisvereinbarten Hilfsmitteln in der im Wortlaut abgeänderten Fassung (Blatt 139 GA) zu versenden, macht sie die Bearbeitung eines Kostenvoranschlags von einer zuvor zu treffenden Preisvereinbarung abhängig. Dies ergibt sich daraus, dass eine Genehmigung des vorliegenden Kostenvoranschlags ohne Preisvereinbarung außer Betracht bleibt ("wegen fehlender Preisvereinbarung nicht vorgesehen") und im Falle der Nichtvorlage eines Angebots der Auftrag anderweitig vergeben werden soll.

Diese Vorgehensweise stellt einen unzulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit und das Recht am eigenen Gewerbebetrieb der Mitglieder der Antragstellerin dar, aus der ein entsprechender Unterlassungsanspruch resultiert, §§ 1004, 823 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), Art. 12 des Grundgesetzes (GG). Für diesen Eingriff fehlt es an einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage. So sieht § 127 Abs. 2 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) in der seit dem 01.01.2004 geltenden Fassung eine Preisvereinbarung nicht als unverzichtbare Voraussetzung für die Inanspruchnahme eines Leistungserbringers zur Sachleistung vor. Denn gemäß § 127 Abs. 2 Satz 1 "können" Krankenkassen Verträge mit einzelnen Leistungserbringern schließen (auch in den Fällen, in denen kein Vertrag mit Landesverbänden gemäß § 127 Abs. 1 SGB V besteht - Krauskopf, § 127 SGB V, Rn. 4 - ). Vor allem gibt § 33 Abs. 2 SGB V seit dem 01.01.2004 zur Wahrung des Wirtschaftlichkeitsgrundsatzes ein konkretes Procedere vor, dass die von der Antragsgegnerin favorisierten Handhabung nicht vorsieht. Vielmehr lässt § 33 Abs. 2 SGB V dem Versicherten das vollständige Wahlrecht hinsichtlich des von ihm in Anspruch genommenen Leistungserbringers. Der Krankenkasse wird zur Wahrung der Wirtschaftlichkeit das Recht und die Pflicht eingeräumt, die Bewilligung der Kostenübernahme auf den Durchschnittspreis des unteren Preisdrittels (§ 127 Abs. 3 SGB V) zu beschränken und Versicherten über die durchschnittlichen Preise des unteren Preisdrittels sowie auf Nachfrage über Leistungserbringer, die Hilfsmittel zum Durchschnittspreis oder zu einem niedrigeren Preis abgeben, zu informieren, § 127 Abs. 3 SGB V. Die Frage nach der Pflicht zu einer öffentlichen Ausschreibung gemäß § 127 Abs. 2 Satz 2 SGB V kann dahingestellt bleiben. Unter Berücksichtigung dieser seit dem 01.01.2004 geltenden Rechtslage erscheinen die von der Antragsgegnerin in Bezug genommenen Ausführungen des Bundessozialgerichts in seiner Entscheidung vom 23.01.2003 - B 3 KR 7/02 - nicht mehr maßgeblich (sofern sie so fast ausnahmslos bzw. konsequent, wie von der Antragsgegnerin geltend gemacht, vom 3. Senat des BSG gemeint gewesen sein sollten; andererseits hatte der 3. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 10.07.1996 - 3 RK 27/95 - hinsichtlich der Forderung von Preisvereinbarungen - im Rahmen der Zulassung - im Sinne der Berufsfreiheit Zurückhaltung gefordert).

Aus dem Verbot für die Antragsgegnerin, die Schreiben mit dem beanstandeten Inhalt zu versenden, folgt auch ein entsprechendes Verbot, hiermit inhaltlich übereinstimmende Schreiben an die Versicherten zu versenden, da deren Inhalt unter Berücksichtigung der gebotenen Unterlassung falsch wäre.

Unter Berücksichtigung der dargelegten Gesetzeslage kann dahingestellt bleiben, ob das von der Antragstellerin geltend gemachte Recht darüber hinaus aus § 6 Abs. 3 RV i. V. m. dem Vergleichsvertrag folgt. Gemäß § 6 Abs. 3 RV ist es den Mitgliedern der Antragstellerin möglich, Kostenvoranschläge einzureichen, ohne dass eine Preisvereinbarung bestehen muss. Diese Regelung befindet sich innerhalb des Abschnitts "Vergütung" der Leistung (§ 6) und könnte damit von der Vergleichsvereinbarung mitumfasst sein. Ob es sich letztendlich aber um eine Abrechnungsmodalität oder Vergütungsregelung im Sinne des Vergleichsvertrages handelt, kann aus den ausgeführten Gründen dahingestellt bleiben.

Da die von der Antragsgegnerin vorgenommene Verbindung zwischen der Prüfung eines Kostenvoranschlags und dem Abschluss einer einstweiligen Preisvereinbarung in jedem Fall unzulässig erscheint, kann dahingestellt bleiben, ob solche Schreiben auch in Fällen der preisvereinbarten Hilfsmittel noch versandt worden sind oder nicht. Die Antragstellerin ist insofern den Nachweis schuldig geblieben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG i. V. m. § 154 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Auf die entsprechenden Einwände der Antragsgegnerin hin wird klargestellt, dass die tenorierte Untersagung keine zwangsläufige Genehmigung von Kostenvoranschlägen zur Folge hat, aber die Bearbeitung und ggf. Genehmigung nicht wegen einer fehlenden Preisvereinbarung abgelehnt werden darf. Es bleibt der Antragsgegnerin unbenommen, unabhängig von eingereichten Kostenvoranschlägen, wenn auch "anlässlich" solcher, in gesetzesgemäßer Weise Einzelvereinbarungen mit den Mitgliedern der Antragstellerin zu schließen.

Referenznummer:

R/R4468


Informationsstand: 09.02.2010