Urteil
Kein Anspruch auf Versorgung mit dreirädrigem Fahrrad

Gericht:

LSG Sachsen


Aktenzeichen:

L 1 KR 79/05


Urteil vom:

05.04.2006


I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 28. Juli 2005 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Rechtsweg:

SG Dresden Urteil vom 28.07.2005 - S 18 KR 974/04

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines dreirädrigen Fahrrads als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die 1956 geborene Klägerin ist bei der Beklagten versichert. Sie leidet an Ballenhohlfüßen nach Klumpfuß-Operation und an einer im September 2003 sowie August 2004 endoprothetisch versorgten Dysplasiekoxarthrose.

Mit Schreiben vom 13.04.2004 beantragte die Klägerin bei der Beklagten ein dreirädriges Fahrrad mit Gesundheitssattel als "Invalidenhilfsgerät". Das tägliche Fahrradfahren sei für den Muskelaufbau und die Verbesserung der Lebensqualität unerlässlich. Aufgrund ihrer Klumpfüße habe sie nicht das richtige Gefühl für die Pedale; die Gefahr, umzukippen und sich zu verletzen, sei mit einem zweirädrigen Fahrrad zu groß. Gerade für Behinderte sei es wichtig, weiterhin am aktiven und sportlichen Leben teilzunehmen. Die Klägerin legte einen Entlassungsbericht des Orthopädischen Zentrums M R vom 15.01.2004 ( Dr. B1, Dr. E1) über die Anschlussheilbehandlung nach der ersten Hüftoperation vor. Aufgrund der durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme habe sich die Gehstrecke auf 2.000 m und die Gehdauer auf 90 min erhöhen lassen. Es werde die Fortführung einer intensiven krankengymnastischen Behandlung zur weiteren Dehnung und Kräftigung der hüftgelenkstabilisierenden Muskulatur empfohlen.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 25.05.2004 (Dr. H1) ein. Mit der im Entlassungsbericht des Orthopädischen Zentrums M R angegebenen Gehstrecke und -dauer bestehe eine ausreichende Gehfähigkeit für die alltäglichen Verrichtungen im Rahmen der Grundbedürfnisse. Die Versorgung mit einem dreirädrigen Fahrrad sei medizinisch nicht notwendig. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 07.06.2004 die Übernahme der Kosten für ein dreirädriges Fahrrad ab.

Am 11.06.2004 hat die Klägerin die bereits beim Sozialgericht Dresden (SG) wegen medizinischer Fußpflege anhängige Klage Akz: S 18 KR 186/ 02 um den Antrag auf Kostenübernahme für ein dreirädriges Fahrrad erweitert. Zugleich hat sie mit Schreiben vom 11.06.2004 bei der Beklagten Widerspruch eingelegt.

Die Beklagte hat Stellungnahmen des MDK vom 22.06.2004 (Dr. H1) und 29.06.2004 (Dr. H2) eingeholt, wonach ein Dreirad primär der Fortbewegung diene; für den kontinuierlichen Muskelaufbau stünden andere, zielgerichtetere und wirtschaftlichere Mittel, wie krankengymnastische Übungsbehandlung, Heilmitteltherapie, Rehabilitationssport und Funktionstraining zur Verfügung.
Das SG hat mit Beschluss vom 04.08.2004 die Klage auf Übernahme der Kosten für ein Therapiedreirad abgetrennt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31.08.2004 hat die Beklagte den Widerspruch zurückge-wiesen. Der Antrag der Klägerin könne bereits mangels ärztlicher Verordnung keinen Erfolg haben. Auch seien Therapiedreiräder im Hilfsmittelverzeichnis nur für Kinder vorgesehen. Zudem bestehe für die alltäglichen Verrichtungen im Rahmen der Grundbedürfnisse eine ausreichende Gehfähigkeit. Das Therapierad sei für den Muskelaufbau nicht geeignet. Ein Therapierad diene vorrangig der Fortbewegung in der Freizeit. Das Zurücklegen längerer Wegstrecken zähle jedoch nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens.

Die Klägerin hat ihre Klage mit der Begründung weiter aufrecht erhalten, sie könne nur kurze Strecken am Stück laufen. Die Benutzung eines herkömmlichen Fahrrads überschreite die Belastungsgrenzen ihrer operierten Hüften.

Dem SG haben vorgelegen: - eine Epikrise des Klinikums H vom 15.09.2004 (Dr. L1, Dr. R1, Dr. T1 ) über die zweite Hüftoperation; - ein Entlassungsbericht der Klinik am T. W. vom 15.10.2004 (Dipl.-Med. M1, G1, K1) über die Anschlussheilbehandlung nach der zweiten Hüftoperation, wonach eine Gehdauer von einer halben Stunde erreicht worden sei; empfohlen werde ein Gehtraining; - ein Attest der Klinik am T. W. vom 19.10.2004 (Dipl.-Med. M1), wonach die Klägerin aufgrund ihrer Klumpfüße keinen ausreichend sicheren Halt auf einem normalen Fahrrad habe; zur sicheren selbständigen Mobilisierung und gleichzeitig zur Unfallprophylaxe werde dringend die Benutzung eines dreirädrigen Fahrrads empfohlen.

Mit Urteil vom 28.07.2005 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Versorgung mit dem beantragten Therapiedreirad nebst Gesundheitssattel. Denn dieses sei weder zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung noch zum Behinderungsausgleich erforderlich. Die Benutzung des Dreirads sei nicht Teil der Krankenbehandlung. Es sei der Klägerin nicht ärztlich verordnet worden. Der Entlassungsbericht des Orthopädischen Zentrums R empfehle lediglich krankengymnastische Behandlung. Fahrradfahren sei jedoch keine Krankengymnastik und ersetze diese auch nicht. Ohne Zweifel sei die aktive Fortbewegung zur Förderung und Erhaltung der Gesundheit sinnvoll. Allein dadurch werde sie aber nicht zu einem Teil der Krankenbehandlung. Das Therapiedreirad sei auch nicht zum Ausgleich der Behinderung erforderlich. Die Versorgung mit Hilfsmitteln sei nur dann Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie der Sicherstellung eines allgemeinen Grundbedürfnisses diene. Dies sei beim Fahrradfahren nicht der Fall. Zwar sei die Bewegungsfreiheit ein Grundbedürfnis, doch sei dabei nur auf diejenigen Entfernungen abzustellen, die ein Gesunder zu Fuß zurücklege. Um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft zu kommen oder die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, sei die Klägerin nicht auf das Fahrrad angewiesen.

Mit ihrer am 18.08.2005 beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegten Berufung macht die Klägerin geltend, die Benutzung eines dreirädrigen Fahrrads werde ihr auf lange Sicht ein erträgliches Leben mit beiden künstlichen Hüftgelenken ermöglichen und der Beklagten viele Kosten sparen. Die wichtigsten Aspekte für das dreirädrige Fahrrad seien: Schonung der Gelenke, Sicherheit und Selbständigkeit, physisches und psychisches Durchhalten, kontrollierte Stärkung der Herz-Kreislauf-Funktionen, Balancesicherheit und Training der Stütz- und Gleichgewichtsreaktionen, Koordinationsförderung zwischen Armen und Beinen sowie zwischen linker und rechter Körperhälfte, Unterstützung krankengymnastischer Behandlungen, Muskeltraining ( grobmotorisch), Stimulation der Sinne, Kostenersparnis für eine zu frühe Operation der künstlichen Hüften. Die Gesunderhaltung eines Menschen sollte immer im Vordergrund stehen. Sie benötige das dreirädrige Fahrrad, um zu medizinisch notwendigen Behandlungen (Arztbesuche, Physiotherapie) und in die Geschäftsstelle der Beklagten zu gelangen, sowie für die Sicherstellung der Grundbedürfnisse. Sie wohne am Stadtrand von H; ihre Einkaufsmöglichkeit liege aber am anderen Ende der Stadt. Mit dem dreirädrigen Fahrrad könnte sie Einkäufe selbst erledigen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 28. Juli 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 7. Juni 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. August 2004 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin mit einem dreirädrigen Fahrrad nebst Gesundheitssattel zu versorgen.


Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.


Das von der Klägerin begehrte Fahrrad gehöre zu den Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens. Die gesetzliche Krankenversicherung habe bei Verlust der Gehfähigkeit grundsätzlich nur für einen Basisausgleich zu sorgen. Hierzu zähle nicht das Zurücklegen von Wegstrecken jeder Art und Länge. Bei der Klägerin liege keine Gehunfähigkeit vor. In ihrem Wohnumfeld befinde sich eine Bushaltestelle in etwa 150 m Entfernung. Behindertengerecht ausgestattete Busse verkehrten von dort zu allen größeren Kaufhäusern, Arztpraxen usw. Des Weiteren befinde sich um Umkreis von 100 m um die Wohnung der Klägerin ein Bäcker, ein Friseur und ein Zeitungsladen.

Die Klägerin hat ein podologisches Gutachten der medizinischen Fußpflegerin S1 vom 30.04.2005 - dem SG in dem Verfahren S 18 KR 186/02 erstattet - sowie eine Verordnung des Orthopäden Dipl.-Med. G2 vom 04.10.2005 über ein "Dreifahrrad" vorgelegt. Der Senat hat bei dem Orthopäden Dipl.-Med. G2 einen Befundbericht vom November 2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 03. 03.2006 eingeholt.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge vorgelegen. Hierauf und auf die in der Gerichtsakte enthaltenen Schriftsätze der Beteiligten sowie den übrigen Akteninhalt wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte in Abwesenheit des Klägerin verhandeln und entscheiden, da diese ordnungsgemäß zum Termin geladen und auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 124 Abs. 1, 126, 153 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz ( SGG)). Anstelle der Entscheidung nach Lage der Akten konnte der Senat - wie geschehen - auch nach mündlicher Verhandlung entscheiden.

Die Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 07.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.08. 2004 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung mit einem dreirädrigen Fahrrad nebst Gesundheitssattel.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung vom 01.01.2004 haben Versicherte gegen ihre Krankenkasse Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzel-fall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V durch Rechtsverordnung ausgeschlossen sind.

Das von der Klägerin begehrte dreirädrige Fahrrad ist nicht zur Sicherung des Erfolges einer Krankenbehandlung erforderlich. Die erste Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V betrifft lediglich solche Gegenstände, die auf Grund ihrer Hilfsmitteleigenschaft spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt werden, um zu ihrem Erfolg beizutragen (siehe nur Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 16.09.2004 - B 3 KR 19/03 R - BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7, jeweils Rn. 11).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Zwar hat die Klägerin im Berufungsverfahren eine ärztliche Verordnung des Orthopäden Dipl.-Med. G2 vom 04.10.2005 über ein Dreifahrrad vorgelegt. Hierzu hat Dipl.-Med. G2 in einer Stellungnahme vom 03.03.2006 ausgeführt, die Verordnung des Dreifahrrads sei zur Verbesserung der Mobilität der Klägerin im Hinblick auf Einkaufen und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erfolgt. Daraus ergibt sich, dass mit der Verordnung des dreirädrigen Fahrrads keine therapeutische Zielsetzung im Rahmen einer ärztlich verantworteten Krankenbehandlung verfolgt wurde. Etwas anderes lässt sich auch nicht den anderen ärztlichen Bescheinigungen und Berichten entnehmen. In dem Entlassungsbericht des Orthopädischen Zentrums M R vom 15.01.2004 wird nach der ersten Hüftoperation die Fortführung einer intensiven krankengymnastischen Behandlung zur weiteren Dehnung und Kräftigung der hüftgelenkstabilisierenden Muskulatur empfohlen. Von einem dreirädrigen Fahrrad ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Wie das SG zutreffend angemerkt hat, ist Fahrradfahren keine Krankengymnastik und ersetzt diese auch nicht. Dies gilt entsprechend für das in dem Entlassungsbericht der Klinik am T. W. vom 15.10.2004 nach der zweiten Hüftoperation empfohlene Gehtraining. Soweit Dipl.- Med. M1 von der Klinik am T W darüber hinaus in einem Attest vom 19.10.2004 zur sicheren selbständigen Mobilisierung und gleichzeitig zur Unfallprophylaxe dringend die Benutzung eines dreirädrigen Fahrrads empfohlen hat, ist ebenfalls keine therapeutische Zielsetzung im Rahmen einer ärztlich verantworteten Krankenbehandlung erkennbar. Denn diese Empfehlung wurde im Hinblick auf Sicherheitsaspekte ausgesprochen - weil die Klägerin aufgrund ihrer Klumpfüße kei-nen ausreichend sicheren Halt auf einem normalen Fahrrad hat -, nicht aber im Hinblick auf die weitere Therapie nach der Anschlussheilbehandlung. Hierfür genügte vielmehr, wie aus dem auch von Dipl.-Med. M1 unterzeichneten Entlassungsbericht vom 15.10.2004 hervorgeht, das Gehtraining. Eine therapeutische Zielsetzung lässt sich schließlich auch nicht daraus ableiten, dass das dreirädrige Fahrrad von der Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen (auch) dazu dienen soll, Wege zu Ärzten oder Therapeuten zurücklegen zu können. Denn insoweit geht es um die Frage eines Behinderungsausgleichs, der von der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfasst wird (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.2004 - B 3 KR 19/03 R - BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7, jeweils Rn. 11).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den von der Klägerin für die Versorgung mit einem dreirädrigen Fahrrad aufgezählten Gründen. Zwar handelt es sich bei der Schonung der Gelenke, dem physischen und psychischen Durchhalten, der kontrollierten Stärkung der Herz-Kreislauf-Funktionen, der Balancesicherheit sowie dem Training der Stütz- und Gleichgewichtsreaktionen, der Koordinationsförderung zwischen Armen und Beinen sowie zwischen linker und rechter Körperhälfte, der Unterstützung krankengymnastischer Be-handlungen und dem grobmotorischen Muskeltraining sicherlich um gesundheitliche Aspekte. Doch wird die Benutzung eines dreirädrigen Fahrrads nicht dadurch Teil der Kran-kenbehandlung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, dass das Radfahren der Gesund-heit förderlich ist. Voraussetzung wäre hierfür vielmehr, dass das dreirädrige Fahrrad im Rahmen einer ärztlich verantworteten Behandlung eingesetzt wird, um zu ihrem Erfolg beizutragen. Dies ist aber nicht der Fall.

Das dreirädrige Fahrrad ist auch nicht erforderlich, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen. Eine drohende Behinderung im Sinne der zweiten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V liegt dann vor, wenn nach ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis eine Behinderung zu erwarten ist (Schäfer, in Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, § 2 Rn. 15; differenzierend zu § 2 SGB IX Welti, in: Lachwitz/Schellhorn/Welti, SGB IX, § 2 Rn. 34 f.; Götze, in: Hauck/Noftz, SGB IX, Stand: April 2003, § 2 Rn. 13 f.; Höfler, in: Kasseler Kommentar, Stand: Dezember 2004, § 33 Rn. 10; Seewald, in: Kasseler Kommentar, Stand: Erstfassung, § 10 SGB I Rn. 10). Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass ein dreirädriges Fahrrad in diesem Sinne zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung erforderlich ist. Die Behinderungen, unter denen die Klägerin aufgrund ihrer Krankheiten - der Ballenhohlfüße nach Klumpfuß-Operation und der endoprothetisch versorgten Dysplasiekoxarthrose - leidet, drohen nicht, sondern sind bereits eingetreten. Insoweit kann es lediglich um einen Behinderungsausgleich im Sinne der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V gehen. Hinweise auf eine drohende, d. h. konkret absehbare Verschlimmerung der Koxarthrose, insbesondere im Sinne einer Auslockerung der künstlichen Hüftgelenke, bestehen nicht. Einem Unfall bei Benutzung eines normalen zweirädrigen Fahrrads mag zwar die Gefahr einer weiteren Behinderung innewohnen. Doch ist diese nicht in der Weise wahrscheinlich, dass von einer drohenden Behinderung gesprochen werden könnte. Die Unfallprophylaxe, von der auch Dipl.-Med. M1 in seinem Attest vom 19.10.2004 spricht, soll weit im Vorfeld einer drohenden Behinderung ansetzen.

Auch für den Ausgleich einer Behinderung ist das dreirädrige Fahrrad nicht erforderlich. Gegenstand des Behinderungsausgleichs im Sinne der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen dienen (BSG, Urteil vom 17.Januar 1996 - 3 RK 16/95 - SozR 3-2500 Nummer. 20 S. 106; Urteil vom 17. Januar 1996 - 3 RK 38/94 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 18 S. 88). Der Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst jedoch auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen ( BSG, Urteil vom 16.09. 2004 - B 3 KR 19/03 R - BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7, jeweils Rn. 12). Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkun-gen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, (elementare) Körperpflegen, selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums im Nahbereich der Wohnung und das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen (siehe nur BSG, Urteil vom 16.09.2004 - B 3 KR 19/03 R - BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7, jeweils Rn. 12; Urteil vom 26. 03.2003 - B 3 KR 23/02 R - BSGE 91, 60 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 3, jeweils Rn. 9).

Die Klägerin leidet an Ballenhohlfüßen nach Klumpfuß-Operation und an einer endoprothetisch versorgten Dysplasiekoxarthrose. Sie kann zwar noch gehen. Gehstrecke und -dauer unterliegen jedoch Einschränkungen. Während ihr im Entlassungsbericht des Orthopädischen Zentrums M R vom 15.01.2004 nach der ersten Hüftoperation noch eine Gehstrecke von 2.000 m und eine Gehdauer von 90 min attestiert wurde, war in dem Entlassungsbericht der Klinik am T W vom 15.10.2004 nach der zweiten Hüftoperation nur noch von einer Gehdauer von einer halben Stunde die Rede. Nach Einschätzung des behandelnden Orthopäden Dipl.-Med. G2 hat sich nach der Implantation künstlicher Hüftgelenke die Gehstrecke auf maximal 500 m bei Benutzung einer Unterarmstütze erhöht. Auch wenn die Einschätzungen nicht unerheblich voneinander abweichen, so stimmen sie doch darin überein, dass die Klägerin seit den Hüftoperationen in der Lage ist, zumindest Gehstrecken von 500 m zurückzulegen. Dagegen ist ihr die Benutzung eines normalen (zweirädrigen) Fahrrads aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar. Der Benutzung eines solchen Fahrrads stehen bereits die Ballenhohlfüße nach Klumpfuß-Operation entgegen, wie sowohl von Dipl.-Med. M1 in einem Attest vom 19.10.2004 als auch von Dipl.-Med. G2 in einer Stellungnahme vom 03.03.2006 hervorgehoben wird. Aufgrund dieser Fußdeformationen hat die Klägerin auf einem normalen Fahrrad keinen ausreichend sicheren Halt.

Damit sind im Falle der Klägerin das elementare Grundbedürfnis der Bewegungsfreiheit, das bei Gesunden insbesondere durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens und Stehens sichergestellt wird (vergleiche Bundessozialgericht, Urteil vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R - SozR 3- 2500 § 33 Nr. 31 S. 185 ff.), und das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums" betroffen, das die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst (vgl. BSG, Urteil vom 07.03.1990 - 3 RK 15/89 - BSGE 66, 245, 246 = SozR 3-2500 § 33 Nr. 1) . Diese Grundbedürfnisse hat die Rechtsprechung immer nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichzie-hens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden verstanden (siehe nur BSG, Urteil vom 26.03.2003 - B 3 KR 26/02 R - BSGE 91, 60 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 3, jeweils Rn. 11; Urteil vom 26. März 2003 - B 3 KR 26/02 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 2 Rn. 7). Dabei hat die Rechtsprechung zunächst auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder zu Fuß zurücklegt (Bundessozialgericht, Urteil vom 08.Juni 1994 -
3/1 RK 13/93 - SozR 3- 2500 § 33 Nr. 7 S. 27). Später wurde dies auf die Fähigkeit präzisiert, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG, Urteil vom 16.09. 1999 - B 3 KR 8/98 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 31 S. 187). Soweit überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind stets zusätzliche qualitative Momente verlangt worden. So wurden nicht etwa diejenigen Entfernungen als Maßstab genommen, die ein Jugendlicher mit dem Fahrrad zurücklegt; die Notwendigkeit der Versorgung eines Jugendlichen mit einem Rollstuhl-Bike und eines Kindes mit einem Dreirad ergab sich nicht aus der rein quantitativen Erweiterung des Bewegungsradius, sondern aus dem Gesichtspunkt der Integration behinderter Jugendlicher in das Lebensumfeld nichtbehinderter Gleichaltriger während ihrer jugendlichen Entwicklungsphase ( vgl. BSG, Urteil vom 16.04.1998 - B 3 KR 9/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 S. 153; Urteil vom 23. 07.2002 - B 3 KR 3/02 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 S. 256). Maßgeblich ist damit - wie es § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ausdrücklich verlangt - auf die Erforderlichkeit "im Einzelfall" abgestellt worden (BSG, Urteil vom 10.11.2005 - B 3 KR 31/ 04 R - veröffentlicht in juris; Urteil vom 16.09. 2004 - B 3 KR 15/ 04 R - veröffentlicht in juris). Die Zuordnung bestimmter Betätigungen zu den Grundbedürfnissen hängt deshalb von individuell unterschiedlichen Faktoren ab; dies kann das Alter eines Versicherten sein ( BSG, Urteil vom 16.04. 1998 - B 3 KR 9/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 S. 158), die Förderung des Integrationsprozesses (BSG, Urteil vom 23.07.2002 - B 3 KR 3/ 02 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 S. 258 ff.), die Schwere einer Behinderung (BSG, Urteil vom 24.01.1990 - 3/8 RK 16/87 - NJW 1991, 1564 f. ) oder die Notwendigkeit medizinischer Intensivbehandlung (BSG, Urteil vom 16. 09.2004 - B 3 KR 15/04 R - veröffentlicht in juris), die die Individualität eines Lebenssachverhalts ausmachen.

Gemessen an diesen Maßstäben ist die Versorgung der Klägerin mit einem dreirädrigen Fahrrad zum Behinderungsausgleich nicht erforderlich. Sie benötigt dieses nicht, um sich den Nahbereich zu erschließen. Trotz ihrer Behinderung kann die Klägerin noch Wegstrecken von zumindest 500 m zu Fuß zurücklegen. Damit ist sie nicht nur in der Lage, sich in der eigenen Wohnung und im Nahbereich außerhalb der Wohnung zu bewegen. Vielmehr reicht ihr Gehvermögen auch noch dafür aus, die Wohnung zu verlassen, um unter Zuhilfenahme öffentlicher Verkehrsmittel die Alltagsgeschäfte zu erledigen, d.h. insbesondere Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs einzukaufen.

Zwar lässt sich mit den Besonderheiten des Wohnortes und -gebietes ein Anspruch auf ein Hilfsmittel zum Ausgleich von Gehbehinderungen nicht begründen (BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 31 S. 187; Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R - veröffentlicht in juris). Daher ist es ohne Belang, wenn im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte gerade nicht im Nahbereich der Wohnung liegen und daher für die Erledigung dieser Alltagsgeschäfte längere Strecken zurückzulegen sind, die die Kräfte des Behinderten übersteigen. Insoweit ist eine abstrakte Betrachtungsweise geboten, die allein auf die typischerweise für das Erledigen von Alltagsgeschäften erforderlichen Entfernungen abstellt.

Im Hinblick auf das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V) kann das konkrete Wohnumfeld jedoch dann nicht außer Betracht bleiben, wenn der Versicherte aufgrund der Besonderheiten seines Wohnortes und -gebietes mit seinem Gehvermögen in der Lage ist, die Stellen der Alltagsgeschäfte zu erreichen. Denn die Versorgung mit Hilfsmitteln, die der Versicherte zum Behinderungsausgleich nicht benötigt, kann er nicht beanspruchen. Angesichts der konkreten Situation ihres individuellen Wohnumfelds - hierbei greift der Senat auf die Ermittlungen der Beklagten zurück und macht diese sich zu eigen - ist es der Klägerin unter Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel möglich, die Alltagsgeschäfte zu erledigen. Zwar hat sie vorgebracht, sie wohne am Stadtrand, ihre Einkaufsmöglichkeit liege aber am anderen Ende der Stadt. Doch befindet sich in etwa 150 m Entfernung von ihrer Wohnung eine Bushaltestelle. Von dort aus verkehren behindertengerecht ausgestattete Busse zu allen größeren Kaufhäusern. Außerdem befindet sich im Umkreis von 100 m um ihre Wohnung ein Bäcker, ein Friseur und ein Zeitungsladen. Damit ist es der Klägerin, die noch Wegstrecken von zumindest 500 m zu Fuß zurücklegen kann, trotz ihrer Behinderung noch möglich, die Alltagsgeschäfte zu erledigen. Eines dreirädrigen Fahrrades bedarf sie ebensowenig, um Arztbesuche und andere medizinisch notwendigen Behandlungen wahrnehmen zu können. Denn auch diese Stellen kann sie angesichts der Situation ihres konkreten Wohnumfeldes trotz ihrer Behinderung unter Zuhilfenahme öffentlicher Verkehrsmittel erreichen.

Zu keiner anderen Beurteilung führt es, dass die Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustandes ein normales zweirädriges Fahrrad nicht benutzen sollte. Denn das Radfahren zählt nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 9/98 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 32 S. 192; Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R - veröffentlicht in juris; Urteil vom 26.03.2003 - B 3 KR 26/02 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 2 Rn. 8). Folglich hat die Rechtsprechung die Ausrüstung eines Rollstuhls mit einer fahrradgleichen mechanischen Zugvorrichtung (Rollstuhlbike) bei einem Erwachsenen nicht als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt (BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 31). Dass ein Jugendlicher dagegen die Versorgung mit einem Rollstuhlbike beanspruchen kann (BSG, Urteil vom 16.04.1998 - B 3 KR 9/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 27), beruht - wie bereits dargelegt wurde - auf anderen Erwägungen. Freizeitbeschäftigungen wie Radfahren, Wandern, Dauerlauf, Ausflüge oder Ähnliches, die das "Stimulieren aller Sinne", die "Erfahrung von Geschwindigkeit und Raum", das "Erleben physischen und psychischen Durchhaltens" sowie das "Gewinnen von Sicherheit und Selbstbewusstsein" mit sich bringen, gehören nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens und führen daher nicht zu einem Anspruch auf ein Hilfsmittel, mit dem diese Beschäftigungen kompensiert werden könnten (BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 9/98 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 32 S. 192 f.; Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 31 S. 186 f.). In der Rechtsprechung sind daher Fahrradausflüge nur in einem einzigen Fall als wesentlich angesehen worden, weil eine ganz außergewöhnliche Bewegungseinschränkung vorlag und in der konkreten Familiensituation des minderjährigen Versicherten den gemeinsamen Fahrradausflügen eine große Bedeutung zukam (BSG, Urteil vom 13.05. 1998 - B 8 KN 13/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 28 S. 163 f.). Diese Entscheidung ist jedoch ein Ausnahmefall geblieben (BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R - veröffentlicht in juris).

Da die Klägerin keinen Anspruch auf Versorgung mit einem dreirädrigen Fahrrad hat, hat sie erst recht keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Gesundheitssattel.

Eine andere Betrachtungsweise ist auch nicht im Lichte von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundge-setz (GG) geboten. Gegen das dort verbriefte verfassungsrechtliche Verbot der Benachtei-ligung behinderter Menschen, verstößt die in der Rechtsprechung des BSG entwickelte Begrenzung der Leistungsverpflichtung der gesetzlichen Krankenversicherung im Hilfs-mittelbereich nicht. Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergeben sich keine weitergehenden An-sprüche bei der Hilfsmittelversorgung (vgl. BSG, Urteil vom 26. 03.2003 - B 3 KR 23/02 R - BSGE 91, 60 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 3, jeweils Rn. 15).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R2681


Informationsstand: 30.05.2007