Urteil
Bewilligung einer Rollstuhltreppensteighilfe zur Erschließung des Nahbereichs - Leistungspflicht der Krankenversicherung

Gericht:

SG Düsseldorf 9. Kammer


Aktenzeichen:

S 9 KR 1019/12


Urteil vom:

13.06.2013


Grundlage:

Tenor:

Der Bescheid vom 05.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2012 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Rollstuhltreppensteighilfe zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Bewilligung einer Rollstuhltreppensteighilfe.

Bei dem 1933 geborenen Kläger wurde im Mai 2012 eine Unterschenkelamputation rechts durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt bestand bereits eine Amputation des linken Unterschenkels, so dass der Kläger sich mit einer Prothese bewegen konnte. Durch die zweite Amputation ist der Kläger nunmehr auf den Rollstuhl angewiesen und beantragte bei der Beklagten die Versorgung mit einer Treppensteighilfe. Die den Kläger behandelnden Ärzte N und B verordneten ihm ein Scalamobil.

Mit Bescheid vom 05.07.2012 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass eine Versorgung mit einer Treppensteighilfe nicht angezeigt sei und daher nicht bewilligt werden könne. Eine weitere Begründung erfolgte nicht.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und teilte mit:

Er sei durchgehend 24 Stunden auf fremde Hilfe angewiesen. Sein Lebensraum sei auf seine Wohnung beschränkt. Durch die zweite Amputation sei er auf den Rollstuhl angewiesen und könne seine Wohnung nicht verlassen. Die Wohnung liege im ersten Stock. Er sei dringend auf die Bewilligung der Treppensteighilfe angewiesen. Wenn ein Formfehler vorliege, weil das Hilfsmittel falsch bezeichnet worden sei, könne dies durch den Arzt korrigiert werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.10.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und begründete diesen wie folgt:

Grundsätzlich könne ein Versicherter der gesetzlichen Krankenversicherung ein Hilfsmittel gemäß § 33 SGB V beanspruchen, wenn dieses medizinisch notwendig sei, um im Einzelfall eine Behinderung auszugleichen.

Eine Treppensteighilfe sei insoweit als Hilfsmittel geeignet, eine Behinderung auszugleichen. Gleichwohl könne eine Bewilligung durch die Krankenkasse nicht erfolgen, weil das Bundessozialgericht (BSG) in einer Entscheidung aus dem Jahre 2010 (B 3 KR 13/09 R) mitgeteilt habe, dass ein dauerhaft gehunfähiger Versicherter keinen Anspruch auf eine Versorgung mit einer elektrisch betriebenen mobilen Treppensteighilfe für den Rollstuhl allein aufgrund seiner individuellen Wohnverhältnisse habe.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage.

Er trägt vor, dass er die Treppensteighilfe benötige, um sich den Nahbereich seiner Wohnung zu erschließen. Ohne Treppensteighilfe sei er auf Dauer in seiner Wohnung eingesperrt. Das Hilfsmittel werde benötigt, um an die frische Luft zu gelangen und Aktivitäten zusammen mit seiner Frau außerhalb der Wohnung wahrnehmen zu können.

Sofern die Beklagte auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts abstelle, sei diese vorliegend nicht einschlägig. In dem vom BSG zu entscheidenden Fall wollte die Klägerin mit der Treppensteighilfe versorgt werden, um den Garten des Wohnhauses aufsuchen zu können. Der Nahbereich der Wohnung habe der Klägerin bereits zur Verfügung gestanden. In diesem Zusammenhang habe das BSG entschieden, dass ein Anspruch, der allein den konkreten Wohnverhältnissen geschuldet sei, nicht bestehe.

Sofern die Beklagte aber der Ansicht sei, dass nicht sie, sondern ein anderer Leistungsträger die Treppensteighilfe bewilligen müsse, wäre sie verpflichtet gewesen, den Antrag weiterzuleiten. Es sei nunmehr Eile geboten. Die Beklagte sei verpflichtet, dem Kläger das Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 05.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm im Wege der Sachleistung (auch leihweise) eine Rollstuhltreppensteighilfe zur Verfügung zu stellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, ihre im Verwaltungsverfahren mitgeteilte Auffassung sei rechtmäßig und ergänzt ihren Vortrag dahingehend, dass es zwar richtig sei, dass sich der vom BSG entschiedene Fall von dem vorliegenden Fall unterscheide. Gleichwohl habe das BSG in seiner Entscheidung generelle Ausführungen zur Leistungspflicht der Beklagten gemacht und ausgeführt, dass es darauf ankomme, ob ein anderer Versicherter mit den gleichen körperlichen Behinderungen ebenfalls auf das Hilfsmittel angewiesen sei oder nicht. Ein anderer Versicherter mit den gleichen Behinderungen sei nicht unbedingt auf das Hilfsmittel angewiesen, wenn die Wohnung im Erdgeschoss liege oder ein Fahrstuhl zur Verfügung stehe, so dass der Kläger auf das Hilfsmittel wegen seiner individuellen Wohnsituation angewiesen sei. Dafür sei aber nicht die Krankenkasse, sondern entweder der Kläger in Eigenverantwortung oder ein anderer Sozialleistungsträger zuständig.

Die Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, den Antrag des Klägers an einen anderen Leistungsträger weiterzuleiten. Denn die Pflegekasse, die für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen zuständig sei, sei kein Rehabilitationsträger. Eine Weiterleitung an den Sozialhilfeträger sei nicht hilfreich, weil der Leistungsanspruch des § 31 SGB IX nicht weiterreiche, als der des § 33 SGB V, dass heißt besteht gegenüber der Krankenkasse kein Anspruch, besteht er auch nicht gegenüber dem Sozialhilfeträger. Sofern noch ein Anspruch auf Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft geprüft werden könne, scheide auch dieser Anspruch aus, weil die begehrte Treppensteighilfe von einem Dritten bedient werden müsse und ein Anspruch der Eingliederungshilfe nur bestehe, wenn der Behinderte das Hilfsmittel selbst bedienen könne.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakte vollinhaltlich Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Rechtsweg:

LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.9.2013 - L 1 KR 491/13
BSG, Urteil vom 16.07.2014 - B 3 KR 1/14 R

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger ist durch den Bescheid vom 05.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2012 in seinen Rechten im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert.

Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger eine Rollstuhltreppensteighilfe zur Verfügung zu stellen. Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Alt. Fünftes Buch des Sozialgesetzbuch - SGB V -. Gemäß § 33 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, wenn sie nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände von der Versorgung ausgeschlossen und im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Blick auf die Erforderlichkeit im Einzelfall nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet (BSG R-4 2500, § 33 Nr. 11, Randnummer 16).

Mit der Bereitstellung der mobilen Treppensteighilfe erfüllt die Beklagte den Anspruch des Klägers im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Alt. SGB V, um die beim Kläger vorliegende Behinderung auszugleichen. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Kläger ohne die Treppensteighilfe seine Wohnung nicht mehr verlassen kann. Denn der Kläger ist aufgrund der bei ihm vorliegenden Amputationen mit einem Rollstuhl versorgt und gehunfähig. Mit der Treppensteighilfe kann der Kläger - abgesehen von Krankentransporten - seine Wohnung verlassen.

Der in § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Alt. SGB V vorgesehene Behinderungsausgleich zielt zum einen auf den unmittelbaren Behinderungsausgleich und zum anderen auf den mittelbaren Behinderungsausgleich. Beim unmittelbaren Behinderungsausgleich geht es um den Ausgleich der ausgefallenen bzw. beeinträchtigten Körperfunktion z.B. durch Prothesen, mit denen das Gehen wieder ermöglicht wird. Zum mittelbaren Behinderungsausgleich können Hilfsmittel bewilligt werden, die die direkten Folgen oder indirekten Folgen ausgleichen (Rollstuhl/Treppensteighilfe). Unter Beachtung der ständigen Rechtsprechung des BSG ist die Gesetzliche Krankenversicherung im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs nur für den Basisausgleich zuständig, dass heißt der Versicherte soll in die Lage versetzt werden, ein selbständiges Leben führen zu können und die Anforderungen des Alltags meistern können (BSG aaO Rn. 18). Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist nach diesen Kriterien nur dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu diesen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSGE 93, 176; BSGE 91,60, 63). Unter Beachtung dieser ständigen Rechtsprechung des BSG ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig, dass der Kläger die Treppensteighilfe benötigt, um selbständig zu wohnen und sich gleichzeitig einen gewissen Freiraum zu schaffen, indem er die Möglichkeit erhält, seine Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft" zu kommen und die - üblicherweise - im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen. Obwohl demnach die grundsätzlichen Anforderungen an den mittelbaren Behinderungsausgleich erfüllt sind, verneint die Beklagte im konkreten Fall ihre Leistungspflicht mit dem Argument, das Hilfsmittel werde nur unter Beachtung der konkreten Wohnsituation des Klägers benötigt. In diesen Fällen habe das BSG in seiner Entscheidung vom 7.10.2010 (Az.: B 3 KR 13/09 R, juris) eine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung verneint.

Das BSG (aaO Rn. 29, 30) führt aus: "Soweit der Zugang zur Wohnung nur über eine Treppe im Hausflur (Treppenhaus) möglich ist, handelt es sich zwar durchaus um den allgemein üblichen durchschnittlichen Wohnstandard, gerade bei Mietshäusern. Nach dem vorstehend aufgezeigten Maßstab fällt indes die Leistungszuständigkeit für Hilfen bei der Bewältigung solcher Hürden nach dem geltenden Recht grundsätzlich nicht in den Verantwortungsbereich der GKV. Das vorstehende Ergebnis behält auch im Lichte des § 33 SGB I Bestand, dort heißt es: "Ist der Inhalt von Rechten und Pflichten nach Art und Umfang nicht im einzelnen bestimmt, sind bei der Ausgestaltung die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten und Verpflichteten, sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit sowie die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Dabei soll den Wünschen des Berechtigten oder Verpflichteten entsprochen werden, soweit sie angemessen sind." Auf diese Regelung kann sich die Klägerin bei der Auslegung des Leistungsrechts nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht stützen."

Diese Ausführungen des BSG zeigen, dass die Klägerin im dem vom BSG entschiedenen Fall keinen Anspruch auf eine Treppensteighilfe wegen der bei ihr vorliegenden konkreten Wohnsituation hatte. Das BSG hat aber in dieser Entscheidung immer wieder deutlich gemacht, dass die Klägerin sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln den Nahbereich erschließen kann. Hätte das BSG die Bewilligung einer Treppensteighilfe als Hilfsmittel von der Leistungspflicht generell ausschließen wollen, hätte es nicht in Randnummer 30 und Randnummer 14 seiner Entscheidung deutlich machen müssen, dass die Beklagte in jedem Fall eine Einzelfallprüfung vornehmen muss.

Vorliegend ergibt die Einzelfallprüfung, dass der Kläger die Treppensteighilfe beanspruchen kann, um sich damit den Nahbereich seiner Wohnung erschließen zu können.

Zur Überzeugung der Kammer kann der Kläger nicht darauf verwiesen werden, in eine Wohnung zu ziehen, die beispielsweise im Erdgeschoß liegt oder mit einem Fahrstuhl zu erreichen ist. Denn insoweit zeigen die Ausführungen des BSG (aaO Rn. 34), dass die Bemühungen, dass auch Behinderte sich den Nahbereich umfassend erschließen können, voranschreiten, aber noch nicht abgeschlossen sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

Referenznummer:

R/R6437


Informationsstand: 08.12.2014