Urteil
Sozialhilfe - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - einmaliger Bedarf - Brille als therapeutisches Gerät - Austausch der Brillengläser als Reparatur - Abgrenzung zur Neuanschaffung

Gericht:

BSG 8. Senat


Aktenzeichen:

B 8 SO 13/18 R


Urteil vom:

18.07.2019


Grundlage:

Leitsatz:

Die Kosten für den Ersatz von Brillengläsern sind dann keine Reparaturkosten, sondern als Neuanschaffung aus dem Regelsatz zu zahlen, wenn der Austausch wesentlich ursächlich wegen einer Änderung der Sehstärke erfolgt.

Terminvorschau:

Der beklagte Sozialhilfeträger lehnte den Antrag des Klägers auf zuschussweise Übernahme der Kosten für die Reparatur (Austausch) der nach seinen Angaben stumpf gewordenen Gläser seiner Fernbrille als einmaligen Bedarf ab; die Klage ist in beiden Instanzen ohne Erfolg geblieben. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG u.a. ausgeführt, es könne offen bleiben, ob es sich bei einer Brille um ein therapeutisches Gerät handle. Jedenfalls werde keine Reparatur beansprucht, weil die Brille nicht in den vorherigen, intakten Zustand zurückversetzt werde, sondern das vorhandene Brillengestell mit neuen, seinem zwischenzeitlich verschlechterten Sehvermögen entsprechenden Gläsern ausgestattet werden solle. Dies sei als Neuanschaffung einer Brille anzusehen, die im Gegensatz zur Reparatur aus dem Regelsatz zu zahlen sei.

Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Die gleichzeitige Anpassung der zu ersetzenden Brillengläser an das verschlechterte Sehvermögen mache aus der Reparatur keine Neuanschaffung.

Rechtsweg:

SG Reutlingen, Urteil vom 02.05.2017 - S 2 SO 717/15
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2017 - L 7 SO 2037/17

Quelle:

Rechtsprechung im Internet

Tenor:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Oktober 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit ist noch die Erstattung von 76 Euro für den Ersatz von Brillengläsern für eine Fernbrille.

Der Kläger ist 1943 geboren und bezieht ergänzend zu seiner Altersrente und unregelmäßig anfallenden Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

Seinen Antrag auf Übernahme der Kosten seiner Brillenreparatur(en) in Höhe von 128 Euro mit der Begründung, die Gläser seiner Weitsichtbrille seien stumpf und müssten ersetzt werden, zudem sei aus seiner Lesebrille ein Glas herausgefallen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 18.8.2014; Widerspruchsbescheid vom 18.3.2015). Die Klage ist in beiden Instanzen ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts (SG) Reutlingen vom 2.5.2017; Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 19.10.2017). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben, ob es sich bei einer Brille um ein therapeutisches Gerät handele. Denn jedenfalls liege eine Reparatur nicht vor. Die behandelnde Augenärztin habe die Verordnung einer neuen Sehhilfe für medizinisch indiziert gehalten, weil sich die Sehstärke rechts um 0,5 Dioptrien (dpt) und links um 0,75 dpt verschlechtert habe. Der Kläger begehre deshalb nicht, dass seine Brillen wieder in den vorherigen, intakten Zustand zurückversetzt, sondern, dass die vorhandenen Brillengestelle mit neuen, seinem zwischenzeitlich verschlechterten Sehvermögen entsprechenden Gläsern ausgestattet würden. Eine darlehensweise Leistung habe der Kläger kategorisch abgelehnt.

Mit seiner Revision, die er wegen des zwischenzeitlich erfolgten Ersatzes der Brillengläser für die Fernbrille auf die Erstattung von 76 Euro beschränkt hat, rügt der Kläger die Verletzung des § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII. Bei einer Brille handele es sich um ein therapeutisches Gerät im Sinne der Norm. Diese sei durch den Austausch der Gläser seiner Fernbrille auch repariert und nicht eine neue Sehhilfe angeschafft worden. Die ursprünglichen Gläser seien stumpf gewesen und hätten ausgetauscht werden müssen. Es könne nicht danach differenziert werden, ob lediglich ein Glas wegen seines nicht mehr funktionsfähigen Zustands ausgetauscht werden müsse oder ob ein Austausch zweier Gläser erfolge.


Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Oktober 2017 und des Sozialgerichts Reutlingen vom 2. Mai 2017 abzuändern sowie den Bescheid vom 18. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. März 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 76 Euro zu zahlen.


Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe:

Die Revision des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§§ 165 Satz 1, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) ist unbegründet (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 18.8.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.3.2015 (§ 95 SGG), mit dem es die Beklagte abgelehnt hatte, Kosten für den Austausch von Brillengläsern für zwei Brillen in Höhe von 128 Euro zu zahlen. Nachdem der Kläger zwischenzeitlich Brillengläser ausschließlich für seine Fernbrille selbst beschafft und Kosten hierfür in Höhe von 76 Euro aufgebracht hat, macht er nur noch die Erstattung dieser Kosten im Wege einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage geltend (§ 54 Abs. 1, 4 SGG). Des vom Kläger im schriftlichen Verfahren gestellten Hilfsantrags auf Zurückverweisung der Sache an das LSG bedurfte es nicht, weil eine Zurückverweisung auch ohne Antrag erfolgen kann, wenn eine Entscheidung in der Sache untunlich ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Dem Kläger steht ein Zahlungsanspruch gegen die Beklagte jedoch nicht zu, weil es sich beim Austausch seiner Brillengläser nicht um eine bloße Reparatur handelte. Als Grundlage für den allein geltend gemachten Anspruch auf zuschussweise Erstattung der Kosten gegen die nach Feststellungen des LSG zum Landesrecht iVm §§ 97, 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII örtlich und sachlich zuständige Beklagte kommt nur § 42 Nr. 2 SGB XII (in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 20.12.2012 - BGBl I 2783) iVm § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII (in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 - BGBl I 453) in Betracht. Der Kläger hat den Gegenstand des Verfahrens auf die Gewährung eines einmaligen Bedarfs zulässigerweise beschränkt, denn insoweit handelt es sich um einen vom Anspruch auf Grundsicherungsleistungen abtrennbaren Streitgegenstand (BSG vom 9.6.2011 - B 8 SO 3/10 R - mwN).

Nach § 42 Nr. 2 iVm § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII werden Leistungen für Anschaffung und Reparaturen von orthopädischen Schuhen, Reparaturen von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen sowie die Miete von therapeutischen Geräten gesondert, d.h. zusätzlich zum Regelbedarf, erbracht. Dass es sich bei einer Brille um ein therapeutisches Gerät handelt, ist für die mit § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII wortlautgleiche Regelung des § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) bereits entschieden (BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 4/17 R - SozR 4-4200 § 24 Nr. 7).

Dem schließt sich der Senat für das SGB XII an. Besonderheiten des Rechts der Sozialhilfe, die bei der Anwendung des § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII eine andere rechtliche Bewertung rechtfertigen könnten, bestehen nicht; im Gegenteil ist der Gesetzgeber sowohl im SGB II als auch im SGB XII von denselben systematisch-inhaltlichen Erwägungen zur Zuordnung bestimmter Bedarfe zum Regelbedarf einerseits bzw. zu den Sonderbedarfen nach § 24 SGB II und § 31 SGB XII andererseits ausgegangen (vgl. BT-Drucks 17/3404 S 103, 124). Der Sonderbedarf des § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII (wie der des § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II) ist durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 (BGBl I 453) zum 1.1.2011 als Konsequenz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr. 12) eingeführt worden. In der Gesetzesbegründung ist darauf abgestellt worden, dass die Verbrauchsausgaben für die Anschaffung (Eigenanteile) und Reparaturen von orthopädischen Schuhen, Reparaturen von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen sowie die Miete von therapeutischen Geräten künftig nicht mehr für den Regelbedarf berücksichtigt werden sollten, da diese Ausgaben nur selten anfielen. Dies führe in der Konsequenz bei der Durchschnittsbildung in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zu geringen Beträgen, die zwar allen Leistungsberechtigten zugute kämen. Im Bedarfsfall fielen jedoch relativ hohe Ausgaben hierfür an, die aus dem in den Regelbedarf eingerechneten Betrag nicht gedeckt werden könnten. Weiterhin vom Regelbedarf erfasst bleiben sollten jedoch Kosten für die Brille, die nicht Reparaturkosten seien, also beispielsweise die Kosten für die Anschaffung einer Brille (vgl. dazu auch BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 4/17 R - SozR 4-4200 § 24 Nr. 7 RdNr. 20).

Aufwendungen für die Reparatur einer Brille sind daher nicht aus dem Regelbedarf, sondern als einmaliger Bedarf zuschussweise (vgl dazu nur Blüggel in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 24 RdNr. 89; Becker in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 37 RdNr. 11) im Wege einer gebundenen Entscheidung ("werden gesondert erbracht") nach § 42 Nr. 2 iVm § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII zu zahlen (zur Frage der hier nicht im Streit stehenden darlehensweisen Leistungserbringung nach § 37 SGB XII vgl. Senatsurteil vom 18.7.2019 - B 8 SO 4/18 R).

Um die Reparatur einer Brille handelt sich beim hier zur Beurteilung stehenden Austausch der Gläser allerdings nicht, sondern um eine Neuanschaffung, die aus dem Regelsatz zu bestreiten ist. Dabei ist zur Abgrenzung von Reparatur und Neuanschaffung im Ausgangspunkt weder auf die entstehenden Kosten abzustellen (§ 31 Abs. 3 SGB XII sieht eine finanzielle Obergrenze für die Bedarfe nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII auch nicht vor), noch darauf, ob nur ein oder beide Gläser beschädigt sind und deshalb ausgetauscht werden müssen. Denn in jedem dieser Fälle wird die defekte Brille grundsätzlich nur in den funktionsfähigen, defektfreien Zustand zurückversetzt, in dem sie vor Schadenseintritt war, also repariert. Zwar handelt es sich bei Brillengläsern um jeweils wesentliche Teile der Brille, sodass deren teilweiser Ersatz (anstelle einer technisch nicht möglichen oder zu aufwändigen "Glasreparatur") denknotwendig auch dazu führt, dass wesentliche Teile der Brille "neu" sind. Dies beruht aber letztlich nur auf der geringeren technischen Komplexität einer Brille verglichen mit anderem therapeutischem Gerät, rechtfertigt aber keine Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII auf maximal ein Brillenglas. Jede andere, einengende Sichtweise würde dem gesetzgeberischen Konzept, das Reparaturbedarfe ohne sachliche oder betragsmäßige Begrenzung den Sonderbedarfen zugewiesen hat, widersprechen.

Damit weicht der Senat nicht von der Rechtsprechung des für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen 14. Senats ab, der in der oben genannten Entscheidung ausgeführt hat, eine Reparatur sei u.a. zu verneinen, wenn ein Austausch von beiden Gläsern stattfinde, z.B. wegen veränderter Sehstärke. Nach dem dargestellten Sinn und Zweck des § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII ist diese Abgrenzung von Reparatur und Neuanschaffung nämlich dahingehend zu präzisieren, dass der Ersatz eines oder beider Gläser dann nicht als Reparatur anzusehen ist, wenn dieser wesentlich ursächlich aus Gründen der Anpassung an eine geänderte Sehstärke medizinisch indiziert ist. Denn dann ist das bloße Zurückversetzen der Brille in einen funktionsfähigen Zustand, also eine Reparatur durch Ersatz der beschädigten Gläser in der früheren Stärke, ein untaugliches Mittel, weil diese Maßnahme objektiv nicht geeignet ist, die Sehbeeinträchtigung auszugleichen.

Für die Beurteilung der wesentlichen Ursächlichkeit ist, wenn - wie hier - neben der Beschädigung eines oder beider Brillengläser (Kratzer, Gläsereintrübung) zugleich eine relevante Veränderung der Sehstärke vorliegt, auf die Kriterien des § 12 Abs. 4 Satz 2 der Hilfsmittel-Richtlinie in der hier maßgeblichen Neufassung vom 21.12.2011/15.3.2012, in Kraft getreten am 1.4.2012, abzustellen. Danach besteht nach Vollendung des 14. Lebensjahrs ein Anspruch auf Neuversorgung mit einer Sehhilfe, wenn sich die Refraktionswerte um mindestens 0,5 dpt geändert haben; eine Änderung der Refraktionswerte um 0,5 dpt liegt auch dann vor, wenn der Refraktionswert für das eine Auge um 0,25 dpt zugenommen und der für das andere Auge um 0,25 dpt abgenommen hat. In diesen Fällen, in denen - auch - die ärztliche Verordnung neuer Brillengläser geboten ist, ist typisierend davon auszugehen, dass die Versorgung mit neuen Brillengläsern wesentlich ursächlich wegen der geänderten Sehstärke erforderlich ist, d.h. die Kosten für die neuen Brillengläser - wie im Fall einer unbeschädigten Brille - aus dem Regelbedarf, ggf. durch Inanspruchnahme eines Darlehens (§ 37 Abs. 1 SGB XII; vgl. dazu auch Senatsurteil vom heutigen Tag im Verfahren B 8 SO 4/18 R) zu decken sind.

So liegt der Fall hier. Nach dem anzulegenden typisierenden Maßstab ist nicht von einem wesentlich ursächlich auf einer Beschädigung beruhenden Gläseraustausch, sondern von einer Neuanschaffung einer Brille auszugehen. Während für das Sehen in der Ferne im Jahr 2008 rechts 1,75 dpt und links 1,5 dpt festgestellt worden sind, belief sich die Sehstärke des Klägers im Jahr 2014 auf rechts und links je 2,25 dpt. Auf dieser Grundlage hat die behandelnde Augenärztin eine neue Sehhilfe verordnet, weil auf beiden Augen Änderungen der Refraktionswerte um mindestens 0,5 dpt eingetreten sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R8400


Informationsstand: 01.04.2020