Urteil
Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl für die Kindertagesstätte

Gericht:

LSG Sachsen 9. Senat


Aktenzeichen:

L 9 KR 761/17


Urteil vom:

18.06.2020


Grundlage:

Tenor:

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts vom 16. Oktober 2017 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird zugelassen.

IV. Der Streitwert wird auf 3.227,42 EUR festgesetzt.

Rechtsweg:

SG Leipzig, Urteil vom 16.10.2017 - S 3 KR 589/16

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für eine Zweit-Versorgung eines Versicherten mit einem Therapiestuhl für die Kindertagesstätte.

Der 2013 geborene Versicherte ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet vorrangig an einer Chromosomenanomalie (Chromosom 6) mit komplexer Entwicklungsstörung, Verdacht auf (hyperkinetisch) dyskinetische Cerebralparese mit assoziierter Schluck- und Fütterungsstörung bei Hydrocephalus internus und stammbetonter Hypertonie. Vom Kläger erhält er im Rahmen einer ganzheitlichen Komplexleistung Eingliederungshilfe in Form von ganzheitlicher therapeutischer und heilpädagogischer Frühförderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) (Bescheid vom 20.04.2016). Dem lag u. a. der Bericht der Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche Z ..., Abteilung für Neuro- und Sozialpädiatrie (Sozialpädiatrisches Zentrum SPZ) vom 15.12.2015 zu Grunde, in welchem sowohl die Fortführung des aktuellen (häuslichen) Förderprogramms als auch der Besuch einer heilpädiatrischen Kindertagesstätte dringend empfohlen worden waren. Von der Beklagten wurde er u. a. mit einem Therapiestuhl für den häuslichen Bereich versorgt.

Am 22.03.2016 wurde für den Versicherten bei der Beklagten auf der Grundlage der Verordnung von Dr. Y ..., Assistenzarzt am SPZ, vom 15.03.2016 über einen Therapiestuhl "Nele" mit Kopfstütze, Therapietisch sowie Brust- und Beckenbegurtung und des Kostenvoranschlags der X ... über Gesamtkosten i. H. v. 3.227,42 EUR die Versorgung mit einem Therapiestuhl für die Kindertagesstätte beantragt. Am selben Tag leitete die Beklagte den Antrag zuständigkeitshalber an den Kläger weiter, da eine Zweitversorgung für Kinder unter drei Jahren nicht zum Leistungsspektrum der GKV gehöre. Nachdem der Kläger eine Stellungnahme von Dipl. Med. W ..., Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin im Gesundheitsamt des Klägers, eingeholt - und diese angesichts der generalisierten Schädigung des Versicherten die Notwendigkeit der Versorgung mit dem beantragten Therapiestuhl vom ersten Kindergartentag an bestätigt - hatte, bewilligte der Kläger dem Versicherten mit Bescheid vom 14.06.2016 die Übernahme der Kosten für das beantragte Hilfsmittel (und nahm am 31.08.2016 die Auszahlung des Zahlbetrages an die X ... vor). Mit Vertrag vom 01.07.2016 erfolgte die Aufnahme des Versicherten in die Kindertagesstätte V ... (die Eingewöhnung hatte bereits am 16.06.2016 begonnen).

Mit bei der Beklagten am 17.06.2016 eingegangenem Schreiben vom 15.06.2016 machte der Kläger einen Erstattungsanspruch nach § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) hinsichtlich der bewilligten und verauslagten Kosten für den Therapiestuhl geltend. Zur Begründung führte er aus, nach § 22 Abs. 2 und 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) i. V m. § 2 Abs. 3 des Sächsischen Gesetzes zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen (SächsKitaG) zielten die in den Kindertagesstätten durchgeführten Bildungs-, Erziehungs- und Fördermaßnahmen auch auf das Erreichen der Schulfähigkeit im Sinne einer Grundvoraussetzung für den Erwerb einer elementaren Schulbildung ab und dienten damit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens i. S. v. § 33 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), so dass für diese Leistung vorrangig die Beklagte zuständig sei.

Mit Schreiben vom 29.06.2016 und 06.07.2016 lehnte die Beklagte eine Erstattung der Kosten mit der Begründung ab, nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 03.11.2011 - B 3 KR 8/11 R) unterfalle der Besuch einer Kindereinrichtung nur insoweit den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, als dieser bei Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren im engeren Sinne das Hinführen zur Schulfähigkeit und die Vorbereitung auf den Erwerb eines elementaren Schulwissens beinhalte. Zum Verordnungs- bzw. Antragszeitpunkt im März 2016 sei der Versicherte jedoch erst rund zweieinhalb Jahre alt gewesen.

Am 25.10.2016 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Leipzig (SG) erhoben und geltend gemacht, das BSG habe in der angeführten Entscheidung lediglich eine Abgrenzung von Kindergarten und Kinderkrippe vorgenommen, nicht jedoch eine starre Altersgrenze mit Vollendung des dritten Lebensjahres eingeführt. Die vorliegend streitige Zweitversorgung für die Kindereinrichtung erfülle die Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung.

Die Beklagte ist dem erstinstanzlich entgegengetreten und hat ausgeführt, dem Kläger sei zwar beizupflichten, dass die Bildung des Menschen dem Grunde nach bereits mit seiner Geburt beginne. Die höchstrichterliche Rechtsprechung fordere jedoch einen engeren funktionalen Zusammenhang zur Schulbildung, der erst mit Vollendung des dritten Lebensjahres beginne.

Mit Urteil vom 16.10.2017 hat das SG der Klage stattgegeben, die Beklagte antragsgemäß zur Erstattung der vom Kläger verauslagten Kosten für die Zweitversorgung des Versicherten mit einem Therapiestuhl für die Kindereinrichtung verurteilt und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach der von den Beteiligten angeführten höchstrichterlichen Rechtsprechung stelle die Hinführung zur Schulfähigkeit beim Besuch einer vorschulischen Kindereinrichtung ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens dar und unterfalle somit dem Behinderungsausgleich bei der Versorgung mit Hilfsmitteln in der GKV nach § 33 Abs. 1 SGB V. Zu diesem Zweck sei die Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl für den Versicherten maßgeblich verordnet und beantragt worden. Unschädlich sei in diesem Zusammenhang, dass der Versicherte zum Zeitpunkt der Verordnung und Antragstellung das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt habe, da der Entscheidung des Bundessozialgerichts eine starre Altersgrenze nicht zu entnehmen sei. Überdies sei vorliegend zu berücksichtigen, dass beim Versicherten ein spezifischer Förderbedarf aufgrund eines Entwicklungsrückstandes bestanden habe, so dass es nach Auffassung der Kammer ohnehin geboten gewesen sei, dem diesem Entwicklungsrückstand gegenüberstehenden erweiterten Förderbedarf mit Auswirkungen auf den zeitlichen Umfang der für die Hinführung zur Schulfähigkeit notwendigen Maßnahmen Rechnung zu tragen und nicht schematisch an einer starren Altersgrenze festzuhalten.

Hiergegen richtet sich die Beklagte mit ihrer am 12.11.2017 eingelegten Berufung. Entgegen der Auffassung des SG sei auf die Vollendung des dritten Lebensjahres des Versicherten zum Zeitpunkt der Leistungserbringung durch den Kläger abzustellen.


Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Chemnitz (Leipzig?) vom 16. Oktober 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.


Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung waren die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Instanzen. Im Übrigen wird auf den gesamten Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten, Bezug genommen und verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zugelassene - und auch im Übrigen zulässige - Berufung der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Beklagte zur Erstattung der vom Kläger für die Zweitversorgung eines bei ihr Versicherten mit einem Therapiestuhl für die Kindereinrichtung verurteilt.

Rechtsgrundlage ist § 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX, welcher (in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung - a. F.) lautete: "Wird nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach Absatz 1 Satz 2 bis 4 festgestellt, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, erstattet dieser dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften." Diese Erstattungsregelung, die als "lex specialis" zu den allgemeinen Erstattungsansprüchen zwischen Sozialleistungsträgern nach den §§ 102 ff SGB X anzusehen ist und diese deshalb verdrängt (BSG, Urteil vom 26. Juni 2007 - B 1 KR 34/06 R -), ist hier einschlägig. Voraussetzung für einen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 S 1 SGB IX ist danach, dass der Versicherte die begehrte Leistung von der Beklagten nach den Vorschriften des SGB V als dem für den Bereich der GKV einschlägigen materiellen Recht beanspruchen konnte (§ 33 Abs. 1 SGB V) und die Beklagte den Leistungsantrag deshalb zu Unrecht an den Kläger weitergeleitet hat (§ 14 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX).

Diese materiellen Tatbestandsvoraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt, denn die Beklagte war für die Zweitversorgung des Versicherten mit einem Therapiestuhl nicht leistungspflichtig. Die Ausstattung des Versicherten mit dem bereits vorhandenen Therapiestuhl war zum mittelbaren Behinderungsausgleich im Bereich der Sitzfähigkeit zwar nicht ausreichend. Dem Grunde nach benötigte der Versicherte in der Kindertageseinrichtung daher unstreitig ebenfalls dieses Hilfsmittel. Dennoch ist dieser vorhandene Bedarf nicht vom Leistungsbereich des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfasst.

Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Die begehrte Zweitversorgung mit dem weiteren Therapiestuhl diente hier ersichtlich nicht der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung und auch nicht der Vorbeugung gegen eine drohende Behinderung, sondern allein dem Ausgleich der Folgen der seit Geburt vorhandenen Behinderung des Versicherten (3. Variante). Der Behinderungsausgleich nach der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst zwei Zielrichtungen (BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 7/10 R - juris Rn. 31 f.): Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem sogenannten unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts (siehe nur BSG, Urteil vom 25. Juni 2009 - B 3 KR 2/08 R - juris Rn. 18). Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (vgl. auch BSG, Urteil vom 16. September 2004 - B 3 KR 20/04 R - juris Rn. 12). Die Prüfung, ob mit der vorgesehenen Verwendung ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis (BSG, Urteil vom 25. Juni 2009 - B 3 KR 2/08 R - juris Rn. 18). Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen. Im Rahmen dieses sogenannten mittelbaren Behinderungsausgleichs geht es nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010 - B 3 KR 13/09 R - juris Rn. 18). Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist daher von der gesetzlichen Krankenversicherung nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (BSG, Urteil vom 10. März 2011 - B 3 KR 9/10 R - juris Rn. 13 ff.).

Vorliegend handelt es sich um einen Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs; für einen Anspruch nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung fehlt aber das Betroffensein eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens. Nach Auffassung des Senats gehört der Besuch der heilpädagogischen Kindertageseinrichtung V im vorliegenden Fall und damit auch die Versorgung des Versicherten mit dem streitgegenständlichen Therapiestuhl (zum Zeitpunkt der Antragstellung am 22.03.2016 und auch zum Zeitpunkt der Leistungsbewilligung durch den Kläger (Bescheid vom 14.06.2016) im Hinblick auf die Förderung der Schulfähigkeit nicht zu den Grundbedürfnissen des Versicherten im Sinne der medizinischen Rehabilitation, denn der Versicherte war zum Antrags- und Bewilligungszeitpunkt noch keine drei Jahre alt. Ein Anspruch auf Zweitversorgung nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V kommt jedoch erst ab Vollendung des dritten Lebensjahres in Betracht.

Der Senat folgt insoweit den Ausführungen des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 3. November 2011 (Az. B 3 KR 13/10 R). Hiernach kommt als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens bei dem Besuch einer Kindertagesstätte lediglich das Hinführen zur Schulfähigkeit in Betracht; abgesehen davon stellt der Besuch eines Kindergartens als solcher - nichts anderes kann nach Auffassung des Gerichts für den Besuch einer Kinderkrippe gelten - hingegen kein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens dar. Insoweit führt das BSG (a.a.O. Rn. 22) wörtlich aus:

"Den Besuch eines Kindergartens an sich sieht der erkennende Senat allerdings nicht als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens, weil dieser Besuch - anders als der Besuch einer Schule im Rahmen der Schulpflicht - vom Gesetzgeber bisher nicht als gesetzliche Pflicht ausgestaltet ist und den Eltern deshalb im Rahmen ihres Ermessens ein Wahlrecht zusteht, ob sie den Auftrag zur Erziehung und Bildung ihrer Kinder bis zum Erreichen der Schulpflicht allein wahrnehmen wollen oder sich der Hilfe der Kindergärten bedienen (§ 22 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 S 1 SGB VIII), wie es mittlerweile der Regelfall ist. Maßgeblich ist die Hinführung auf die Schulfähigkeit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens. Noch nicht der Schulpflicht unterliegende gehbehinderte Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren können demgemäß die Zweitausstattung mit einem weiteren Therapiestuhl auf Kosten der GKV erlangen, wenn der bereits vorhandene heimische Therapiestuhl wochentäglich nicht oder nur mit unzumutbarem Aufwand zum Kindergarten transportiert werden könnte und bei diesen Kindern deshalb die Förderung ihrer Schulfähigkeit sowie die Integration in den Kreis Gleichaltriger nicht gesichert wären."

Zwar besteht gemäß § 24 Abs. 2 S. 1 SGB VIII bereits für Kinder ab dem ersten Lebensjahr (bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres) ein Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in der Kindertagespflege, wobei der Förderauftrag gemäß § 22 Abs. 3 S. 1 SGB VIII Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes umfasst und sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes bezieht. Dieser allgemeine Bildungsauftrag der Krippen und Kindertagesstätten ist aber nicht gleichzusetzen mit dem gezielten "Hinführen zur Schulfähigkeit". Vielmehr erfordert ein "Hinführen zur Schulfähigkeit" - wie auch vom BSG (a.a.O., Rn. 20) ausgeführt - bereits elementare, maßgebende kognitive und soziale Kompetenzen, die sich soweit entwickelt haben müssen, dass hierauf pädagogisch Einfluss genommen werden kann. Das hat das BSG zutreffend frühestens ab Beginn des dritten Lebensjahres anerkannt. Denn erst im Alter von drei bis sechs Jahren entwickelt sich das Sozialverhalten im Sinne des Erlernens sozialer Grundregeln (z.B. Teilen, Ausdruck von Gefühlen). Erst mit dem vierten Lebensjahr beginnt auch die Orientierung zu Gleichaltrigen (BSG, a.a.O, Rn. 20, 22).

Dies deckt sich auch mit dem gesetzgeberischen Willen des Freistaates Sachsen, der die Schulvorbereitung den Trägern der Kindergärten, insbesondere im letzten Kindergartenjahr, zugewiesen hat. In § 2 Abs. 3 S. 1 bis 3 SächsKitaG heißt es hierzu ausdrücklich: "Die regelmäßige Gestaltung von Bildungsangeboten in Kindertageseinrichtungen hat dem Übergang in die Schule Rechnung zu tragen. Dazu wird im Kindergarten zur Schulvorbereitung, insbesondere im letzten Kindergartenjahr (Schulvorbereitungsjahr), vorrangig der Förderung und Ausprägung sprachlicher Kompetenzen, der Grob- und Feinmotorik, der Wahrnehmungsförderung und der Sinnesschulung Aufmerksamkeit geschenkt. In diese Vorbereitung sollen im letzten Kindergartenjahr die für den Einzugsbereich zuständigen Schulen einbezogen werden."

Für die Leistungspflicht der GKV kommt es daher entscheidend im Sinne einer generalisierenden Betrachtung auf den Besuch einer Kindereinrichtung frühestens "ab Vollendung des dritten Lebensjahres" an. Dies gilt unabhängig von Typ/Bezeichnung der Kindereinrichtung und auch vom krankheits- oder behinderungsbedingt ggf. erhöhten - individuellen Förderungsbedarf des jeweils betroffenen Kindes (BSG a. a. O. Rn. 21).

Für die Frage, ob die streitige Hilfsmittelversorgung bei einem Versicherten "ab Vollendung des dritten Lebensjahres" erfolgt, ist im Rahmen eines Kostenerstattungsanspruchs allein auf den Zeitpunkt der Selbstbeschaffung abzustellen. Einem Abstellen auf den Zeitpunkt der vertragsärztlichen Verordnung (hier: 15.03.2016) steht nach Auffassung des Senats entgegen, dass der Sachleistungsanspruch gegenüber der GKV nach § 33 Abs. 1 SGB V nicht zwingend eine vertragsärztliche Verordnung (§ 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB V) voraussetzt (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010 - B 3 KR 5/10 R - juris Rn. 24; vgl. auch die zum 01.01.2017 eingeführte Regelung in § 33 Abs. 5a SGB V) bzw. eine solche später nachgeholt werden kann. Einem Abstellen auf den Zeitpunkt der Rechnungsbegleichung (hier: 31.08.2016) steht entgegen, dass dieser im Rahmen eines Kostenerstattungsanspruchs (nach § 13 Abs. 3 SGB V) irrelevant ist (BSG a. a. O ... Rn. 10). Entgegen der Auffassung des SG ist auch nicht entscheidend, ob das Hilfsmittel "maßgeblich" für den Besuch einer Kindereinrichtung "ab Vollendung des dritten Lebensjahres" bestimmt ist. Zwar ist dem Recht der Hilfsmittelversorgung - mit Blick auf die in § 33 Abs. 1 SGB V geregelten Fallgruppen ("Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung", "Vorbeugung einer drohenden Behinderung" und "Behinderungsausgleich") - eine Differenzierung nach der Zwecksetzung und damit hinsichtlich des mit dem Einsatz des Hilfsmittels vorrangig verfolgten Ziels nicht fremd (vgl. BSG, Urteil vom 8. August 2019 - B 3 KR 21/18 R - juris Rn. 18, 20). Allerdings ist dieser Gedanke auf Fragen der altersabhängigen Differenzierung nach Auffassung des Senats nicht übertragbar. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass bei einer derartigen Verfahrensweise der Sachleistungs- bzw. Kostenerstattungsanspruch letztlich von der wertenden Betrachtung des Sachbearbeiters der Krankenkasse bzw. des Gerichts im Einzelfall - unter Berücksichtigung der bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres verbleibenden Zeit, ggf. auch unter Einbeziehung der Nutzungsdauer des betreffenden Hilfsmittels - abhinge, zum anderen, dass bei der Hilfsmittelversorgung mitunter strikte Altersgrenzen gelten (vgl. etwa § 33 Abs. 2 SGB V; vgl. auch die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Versorgung von Kindern/Jugendlichen in Abgrenzung zu Erwachsenen mit Mobilitätshilfen: BSG, Urteil vom 16. April 1998 - B 3 KR 9/97 R [Rollstuhl-Bike I], vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R [Rollstuhl-Bike II] und vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 12/10 R [Rollstuhl-Bike III] und B 3 KR 7/19 R [Rollstuhl-Bike IV]).

Abzustellen ist vielmehr auf den für die Beurteilung der maßgeblichen Sach- und Rechtslage bei einem Kostenerstattungsanspruch (etwa nach § 13 Abs. 3 SGB V) allgemein entscheidenden Zeitpunkt der Selbstbeschaffung (BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 3 KR 17/16 R - juris Rn. 16; Urteil vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 12/10 R - juris Rn. 8 [Rollstuhl-Bike III]). Dem rechtsverbindlichen Vertragsabschluss bzw. der Rechnungslegung als Vorgang der Selbstbeschaffung bei einem vom Versicherten gegenüber der Krankenkasse geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch entspricht vorliegend die - rechtsverbindliche - Leistungsbewilligung des Klägers (vgl. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a. F.) mit Bescheid vom 14.06.2016. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Versicherte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet. Dem SG ist zwar zuzugeben, dass angesichts der verbleibenden rund eineinhalb Monate bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des hiesigen Versicherten eine andere Zielsetzung als die der Gewährleistung des Besuchs der Kindereinrichtung (auch) ab Vollendung des dritten Lebensjahres nahezu ausscheidet. Auf diese besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls kommt es aus den dargelegten Gründen jedoch nicht an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Der Streitwert richtet sich nach der Höhe der streitgegenständlichen Forderung, § 197a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz (GKG).

Referenznummer:

R/R8643


Informationsstand: 14.09.2021