Urteil
Leistungen für ein persönliches Budget nach einstweiliger Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes

Gericht:

SG Gießen


Aktenzeichen:

S 18 SO 146/20 ER


Urteil vom:

29.10.2020


Der Antragsgegner wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, der Antragstellerin ab 04.10.2020 bis zum 31.08.2021 Leistungen für ein persönliches Budget gem. § 29 SGB IX in Höhe von monatlich 17.808,52 EUR abzüglich evtl. gewährter Leistungen der häuslichen Krankenpflege durch die Siemens Betriebskrankenkasse zu zahlen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Gründe:

Der zulässige Antrag hat Erfolg.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, sogenannte Regelungsanordnung. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt dabei neben dem Bestehen eines Anordnungsanspruches, das heißt eines materiellen Anspruchs auf die begehrte Leistung, auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes voraus. Ein solcher Anordnungsgrund besteht, wenn die Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Die tatsächlichen Voraussetzungen für das Bestehen eines Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes sind dabei nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung scheitert im vorliegenden Fall nicht daran, dass zwischen den Beteiligten eine Zielvereinbarung nach § 29 Abs. 4 SGB IX (noch nicht) geschlossen worden ist. Zwar handelt es sich bei der Zielvereinbarung nach § 29 Abs. 4 SGB IX grundsätzlich um eine materielle Voraussetzung für die Gewährung eines persönlichen Budgets (OVG Saarland, Beschluss vom 30.07.2019, 2 B 152/19). Jedoch wäre der vom Gesetzgeber gewollte Rechtsanspruch auf ein persönliches Budget weitgehend wertlos, wenn der Leistungsträger das Entstehen seiner Voraussetzungen nach Belieben dadurch verhindern könnte, dass es sich weigert mit dem Leistungsberechtigten eine Zielvereinbarung abzuschließen. Daher besteht für die Beteiligten eine Rechtspflicht zum Abschluss einer Zielvereinbarung, wenn die übrigen Voraussetzungen für die Bewilligung eines persönlichen Budgets, das heißt die Budgetfähigkeit der Leistung und der Antrag des Leistungsberechtigten, § 29 Abs. 1 SGB IX, vorliegen (Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII., 8. Auflage 2019 § 35a Rn. 75). Eine Ausnahme ist nur dann anzunehmen, wenn sich schon vor Abschluss der Zielvereinbarung abzeichnet, dass der Leistungsträger sie sofort wieder nach § 29 Abs. 4 Satz 4, 6 SGB IX kündigen könnte (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.03.2019, L 1 KR 58/19 B ER). Allerdings ist insoweit zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber dem Leistungsberechtigten einen Vertrauensvorschuss einräumt, in dem er die in § 29 Abs. 4 Satz 6 SGB IX genannten Umstände nicht als negative Tatbestandsvoraussetzungen für die Bewilligung eines persönlichen Budgets normiert, sondern sie nur als Kündigungsgründe ausgestaltet hat. Der Gesetzgeber mutet es also dem Leistungsträger grundsätzlich zu, die Zielvereinbarung zunächst abzuschließen und sie im Nachhinein wieder zu kündigen, wenn sich herausstellt, dass der Berechtigte seinen Teil des Vertrages nicht erfüllt. Der Abschluss der Zielvereinbarung kann daher nur dann verweigert werden, wenn offensichtlich auf der Hand liegt, dass der Berechtigte etwa die Nachweise zur Bedarfsdeckung und Qualitätssicherung nicht erbringen wird. Hierfür ist im vorliegenden Fall aber nichts ersichtlich. Namentlich kann aus dem Umstand, dass die Antragstellerin die Zielvereinbarung mit dem Antragsgegner aufgrund dessen Arbeitsüberlastung noch nicht abgeschlossen hat, nichts für die Antragstellerin Negatives in Bezug auf die Bedarfsdeckung und Qualitätssicherung abgeleitet werden.

Die Antragstellerin hat im vorliegenden Fall einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund in Bezug auf die tenorierte vorläufige Leistungsverpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung eines persönlichen Budgets monatlich glaubhaft gemacht.

Rechtsgrundlage für den Anspruch der Antragstellerin auf die Erbringungen von Leistungen in Form eines persönlichen Budgets ist § 29 SGB IX. Ein materieller Leistungsanspruch der Antragstellerin gegen den Antragsgegner auf diese Leistungen liegt dem Grunde nach unstreitig vor. Die Antragstellerin ist unstreitig schwerstbehindert; sie leidet an einer spinalen Muskelatrophie. Im Hinblick darauf benötigt sie eine 24-stündige Betreuung (vgl. zuletzt Ärztliche Bescheinigung des UKGM vom 26.06.2020). Im Streit ist lediglich die Höhe des der Antragstellerin zustehenden Budgetbetrages für eine 24 Stunden-Assistenz. Der Antragsgegner geht insoweit von einem Auszahlungsbetrag in Höhe von 12.782,50 EUR aus (Schriftsatz vom 27.10.2020). Demgegenüber bemisst die Antragstellerin die Kosten auf 17.808,52 EUR monatlich. Das erkennende Gericht hat diesbezüglich keine durchgreifenden Bedenken bezüglich der Ausgestaltung des von der Antragstellerin praktizierten Arbeitgebermodells und damit auch des Umfangs des von ihr beanspruchten persönlichen Budgets. Das erkennende Gericht orientiert sich diesbezüglich an den Angaben der Gewerkschaft Verdi (drei.60 "Tariflöhne sind für mich existenziell"), wonach eine 24-Stunden-Assistenz bei Tariflöhnen etwa 17.000,00 - 20.000,00 EUR im Monat kostet; Kosten wie Verwaltung und anderes, die bei den Trägern anfallen, nicht mitgerechnet. Insofern sind die von Antragstellerseite errechneten 17.808,52 EUR monatlich aus Sicht des Gerichts eine realistische Größenordnung. Dem Gericht ist eine umfassende Bedarfsfeststellung im Rahmen des Anordnungsanspruchs im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in angemessener Zeit nicht möglich mit der Folge, dass aufgrund dessen eine Folgenabwägung vorzunehmen ist. Die Antragstellerin ist wie bereits ausgeführt auf eine 24-Stunden-Assistenz angewiesen. Sie macht geltend, dass die auf Basis der Rechtsprechung vorgenommenen Berechnungen schlüssig und nachvollziehbar seien und der Stundenlohn tarifvertraglichen Regelungen entspreche. Erginge demgemäß die einstweilige Anordnung nicht, wäre die selbstbestimmte Lebensführung der Antragstellerin gefährdet. Demgegenüber gilt es zu bedenken, dass die Leistungsverpflichtung des Antragsgegners lediglich vorläufig erfolgt und somit dem Antragsgegner im Falle des Obsiegens in einem -eventuellen- Hauptsacheverfahren ein Erstattungsanspruch gegen die Antragstellerin zustünde. Auch wenn hinsichtlich der Realisierbarkeit desselben Zweifel angezeigt sein könnten, sind demgegenüber die der Antragstellerin drohenden Beeinträchtigungen ihres durch Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 GG geschützten Rechts als deutlich überwiegend anzusehen. Die zeitliche Begrenzung hatte zu erfolgen, weil sie sich aus dem von dem Antragsgegner übersandten Entwurf einer Zielvereinbarung mit Schriftsatz vom 09.09.2020 ergibt. Im Übrigen besteht nunmehr die Gelegenheit, um die für die Gewährung eines persönlichen Budgets erforderliche Zielvereinbarung endgültig schließen zu können.

Aus der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes folgt für die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen über den Eilrechtsschutz, dass die Anforderungen an die Glaubhaftmachung sowohl des Anordnungsanspruchs, gemessen an der drohenden Rechtsverletzung, nicht überspannt werden dürfen. Entsprechendes gilt auch für den Anordnungsgrund (BVerfG, 12.09.2016, 1 BvR 1630/16 sowie stattgebender Kammerbeschluss vom 14.03.2019, 1 BvR 169/19).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R8951


Informationsstand: 21.03.2022