Urteil
Feststellung von Leistungsansprüchen einer bei der beklagten Pflegekasse Versicherten nach § 43a SGB XI

Gericht:

BSG


Aktenzeichen:

B 3 P 3/20 R


Urteil vom:

11.11.2021


Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 2019 - L 5 P 11/19 - aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Rechtsweg:

SG Münster (NRW), Urteil vom 12. Dezember 2018 - S 20 P 635/17
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12. Dezember 2019 - L 5 P 11/19

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Gründe:

I.

Im Streit steht, ob der klagende Sozialhilfeträger die Feststellung von Leistungsansprüchen einer bei der beklagten Pflegekasse Versicherten nach § 43a SGB XI betreiben und - lagen die Anspruchsvoraussetzungen vor - insoweit die anteilige Erstattung von Pflegekosten in vollstationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe beanspruchen kann.

Die 1981 geborene Versicherte leidet unter psychischen Behinderungen und lebt in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. Die Kosten für ihre Unterbringung und Betreuung werden von dem klagenden überörtlichen Sozialhilfeträger übernommen, so auch in der hier streitbefangenen Zeit vom 1.12.2016 bis 12.12.2019.

Der Kläger beantragte unter Berufung auf § 95 SGB XII für die Versicherte am 12.12.2016 bei der Beklagten Leistungen nach dem SGB XI. Die Beklagte lehnte gestützt auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Ansprüche nach §§ 43a und 45a SGB XI ab, weil die Versicherte weder pflegebedürftig noch ihre Alltagskompetenz eingeschränkt sei (Bescheide vom 8.2.2017). Den hiergegen vom Kläger erhobenen Widerspruch - verbunden im Weiteren mit einem geltend gemachten Erstattungsanspruch von monatlich 266 Euro für die Zeit ab 1.1.2017 - wies sie gestützt auf ein Gutachten nach Aktenlage des MDK ebenfalls zurück (Widerspruchsbescheide vom 8.11.2017).

Die Klage hiergegen hat das SG abgewiesen (Urteil vom 12.12.2018), die Berufung dagegen hat das LSG zurückgewiesen: Dem Kläger fehle die Prozessführungsbefugnis. Er könne sich weder auf eine gewillkürte noch eine gesetzliche Prozessstandschaft berufen. Die gesetzliche Prozessstandschaft nach § 95 SGB XII erfordere, dass die vom Träger der Sozialhilfe gewährten oder zu gewährenden Leistungen nachrangig seien, woran es im Verhältnis von Pflegeleistungen in einer vollstationären Einrichtung der Eingliederungshilfe und Leistungen der Pflegeversicherung nach § 43a SGB XI fehle. Auf einen eigenen Anspruch könne der Kläger seine Prozessführungsbefugnis mangels eines Erstattungsanspruchs nicht stützen. Zudem fehle es ihm an der Klagebefugnis (Urteil vom 12.12.2019).

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger insbesondere eine Verletzung von § 95 Satz 1 SGB XII, § 43a SGB XI und § 54 Abs 1 Satz 2 sowie Abs 2 Satz 1 SGG. Er sei sowohl aus eigenem Recht prozessführungsbefugt als auch nach Maßgabe von § 95 Satz 1 SGB XII iVm § 43a SGB XI für der Versicherten zustehende Rechte und jeweils könne seine Klagebefugnis nicht ausgeschlossen werden. Als Verfahrensfehler rügt er die unterbliebene echte notwendige Beiladung nach § 75 Abs 2 Alt 1 SGG der Versicherten und die Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 Satz 1 SGG.


Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12.12.2019 - L 5 P 11/19 - und des Sozialgerichts Münster vom 12.12.2018 - S 20 P 635/17 - sowie die Bescheide der Beklagten vom 8.2.2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 8.11.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für die Versicherte wegen der pflegebedingten Aufwendungen vom 1.12.2016 bis 12.12.2019 Leistungen nach § 43a SGB XI zu gewähren sowie die erbrachten entsprechenden Vorleistungen zu erstatten.


Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat - wie zuvor bereits das SG - durch Prozessurteil statt durch Sachurteil über die Klage entschieden, die indes entgegen der Auffassung der Vorinstanzen zulässig ist. Zutreffend sieht sich der Kläger berechtigt, die Feststellung von Ansprüchen der Versicherten nach § 43a SGB XI zu betreiben und bei Vorliegen der Voraussetzungen von der Beklagten insoweit Kostenerstattung zu verlangen. Dem Senat ist jedoch eine abschließende Entscheidung darüber verwehrt, ob diese Ansprüche bestehen, weil es hierfür an erforderlichen tatsächlichen Feststellungen fehlt.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die vorinstanzlichen Entscheidungen und die Bescheide vom 8.2.2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 8.11.2017, durch die die Beklagte Leistungen für die Versicherte nach dem SGB XI ohne zeitliche Begrenzung abgelehnt hat, sowie in der Sache das gegen die Beklagte gerichtete Begehren des Klägers, für die Versicherte Leistungen nach § 43a SGB XI zu gewähren und die erbrachten entsprechenden Vorleistungen des Klägers zu erstatten. Zeitlich reicht dieses Begehren vom Beginn des Antragsmonats am 1.12.2016 bis zum 12.12.2019, dem Tag der mündlichen Verhandlung vor dem LSG, denn grundsätzlich erstreckt sich bei einer vollständigen und unbefristeten Leistungsablehnung der streitige Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, wenn nicht zuvor auf einen erneuten Antrag eine weitere Verwaltungsentscheidung getroffen wird (vgl BSG vom 24.5.2017 - B 14 AS 16/16 R - BSGE 123, 188 = SozR 4-4200 § 9 Nr 16, RdNr 13), woran es hier fehlt.

2. Statthafte Klageart sind für das in Prozessstandschaft verfolgte Leistungsbegehren nach § 43a SGB XI die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) und für das eigene Erstattungsbegehren des Klägers die allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG; zur Zulässigkeit dieser Klagenkombination BSG vom 22.4.1998 - B 9 VG 6/96 R - BSGE 82, 112 = SozR 3-5910 § 91a Nr 4, juris RdNr 15 f, 22; vgl dazu auch Armbruster in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl, § 95 RdNr 20, 63, 130 f, Stand 9.3.2020).

3. Einer Sachentscheidung des Senats steht nicht entgegen, dass die Berufung mit Blick auf § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGG nicht statthaft gewesen wäre. Der in Prozessstandschaft geltend gemachte Leistungsanspruch der Versicherten nach § 43a SGB XI ist für den Erstattungsanspruch des Klägers vorgreiflich, weshalb dieser Anspruch ohne Rücksicht auf den Wert des Beschwerdegegenstands berufungsfähig war (vgl BSG vom 22.4.1998 - B 9 VG 6/96 R - BSGE 82, 112 = SozR 3-5910 § 91a Nr 4, juris RdNr 17).

4. Die Klage ist entgegen der Auffassung der Vorinstanzen zulässig. Das betrifft sowohl das Leistungsbegehren des Klägers als gesetzlicher Prozessstandschafter der Versicherten (dazu 6.) als auch dessen Erstattungsbegehren aus eigenem Recht (dazu 7.). Dem liegt ein von den Vorinstanzen abweichendes Verständnis des Senats vom Verhältnis von Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe mit Blick auf § 43a SGB XI zugrunde (dazu 5.).

5. Leistungen der Pflegeversicherung nach § 43a SGB XI und Leistungen der Eingliederungshilfe für die Pflege von Menschen mit Behinderungen in einer vollstationären Einrichtung stehen in einem Vorrang-Nachrang-Verhältnis.

a) Treffen bei Menschen mit Behinderungen Ansprüche auf Leistungen der Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe zusammen, sollen im Verhältnis zum Pflegebedürftigen die Leistungen grundsätzlich nur von einer Stelle erbracht werden (vgl bereits § 13 Abs 4 SGB XI idF des Pflege-Versicherungsgesetzes - PflegeVG - vom 26.5.1994, BGBl I 1014; nunmehr § 13 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB XI idF des Dritten Pflegestärkungsgesetzes - PSG III - vom 23.12.2016, BGBl I 3191). Für die Eingliederungshilfe in vollstationären Einrichtungen bzw nunmehr in Räumlichkeiten mit einer weitgehend einer vollstationären Einrichtung entsprechenden Versorgung (vgl § 71 Abs 4 Nr 3 lit c SGB XI idF des Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes - PpSG - vom 11.12.2018, BGBl I 2394) ist das in dem Sinne zwingend, dass die Leistung auch die Pflegeleistungen in diesen Einrichtungen oder Räumlichkeiten umfasst, die dort so lange zu erbringen sind, wie die Pflege in diesem Rahmen sichergestellt werden kann (ausdrücklich erstmals § 40a BSHG idF des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch - SGB IX - vom 19.6.2001, BGBl I 1046; ab dem 1.1.2005 inhaltsgleich § 55 SGB XII idF des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003, BGBl I 3022; nunmehr § 103 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB IX idF des Bundesteilhabegesetzes - BTHG - vom 23.12.2016, BGBl I 3234; vgl auch § 13 Abs 3 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XI). Das soll dem Interesse von Menschen mit Behinderungen Rechnung tragen, so lange als möglich in der bekannten Umgebung verbleiben zu können (vgl nur BT-Drucks 14/5074 S 124 zu § 40a BSHG). Insoweit ist die Pflege integraler Bestandteil der Eingliederungshilfe (vgl zuletzt BSG vom 20.4.2016 - B 3 P 1/15 R - SozR 4-3300 § 45b Nr 2 RdNr 23).

b) Ziel dieser Leistungen aus einer Hand ist es aber nicht, die Pflegeversicherung von den Kosten der Pflege Versicherter in vollstationären Einrichtungen oder besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe vollständig freizustellen; so liegt es nach § 43a SGB XI gerade nicht. Hiernach übernimmt die Pflegekasse für Pflegebedürftige - ab dem 1.1.2017: solche der Pflegegrade 2 bis 5 - in einer vollstationären Einrichtung der Eingliederungshilfe oder entsprechenden Räumlichkeiten, in denen jeweils die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Vordergrund des Leistungszwecks steht, zur Abgeltung der in § 43 Abs 2 SGB XI genannten pflegebedingten Aufwendungen 10 % des nach § 75 Abs 3 SGB XII vereinbarten Heimentgelts, maximal je Kalendermonat 266 Euro (§ 43a SGB XI in der vom 1.1.2015 bis 31.12.2016 geltenden Fassung des Ersten Pflegestärkungsgesetzes - PSG I - vom 17.12.2014, BGBl I 2222 bzw in der vom 1.1.2017 bis 31.12.2019 geltenden Fassung des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes - PSG II - vom 21.12.2015, BGBl I 2424; nunmehr Pauschalleistung von 15 % der nach Teil 2 Kapitel 8 des SGB IX vereinbarten Vergütung und maximal je Kalendermonat 266 Euro nach § 43a SGB XI idF des PSG III).

Nach der Entstehungsgeschichte soll damit ein finanzieller Ausgleich dafür bewirkt werden, dass nach der Konzeption des SGB XI in Einrichtungen der vollstationären Eingliederungshilfe und nunmehr entsprechenden Räumlichkeiten Leistungen der Pflegeversicherung grundsätzlich nicht erbracht werden. Mit Blick hierauf ist § 43a SGB XI in Folge eines politischen Kompromisses zur Aufteilung der Finanzverantwortung zwischen Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe nach einem Vermittlungsverfahren Gesetz geworden (Begründung zur Anrufung des Vermittlungsausschusses BR-Drucks 228/96 - Anlage S 2 f = BT-Drucks 13/4521 S 2 f und Ergebnis des Vermittlungsausschusses BT-Drucks 13/4688 S 3; dazu BSG vom 13.3.2001 - B 3 P 17/00 R - SozR 3-3300 § 43a Nr 3, juris RdNr 14, 20; BSG vom 26.4.2001 - B 3 P 11/00 R - SozR 3-1100 Art 3 Nr 169, juris RdNr 14 ff; Rasch in Udsching/Schütze, SGB XI, 5. Aufl 2018, § 43a RdNr 1, 16 f; vgl auch Kruse in LPK-SGB XI, 5. Aufl 2018, § 13 RdNr 30: Ergänzung durch eine Mischfinanzierung).

c) In diesem systematischen Zusammenhang und nach seiner Entstehungsgeschichte kommt dem Sozialleistungsanspruch von Versicherten aus § 43a SGB XI im Verhältnis von Pflegekassen und Eingliederungshilfeträgern Vorrang zu vor der Leistungsverpflichtung der Eingliederungshilfe aus § 55 Satz 1 SGB XII bzw nunmehr § 103 Abs 1 Satz 1 SGB IX.

Zwar sind in Abweichung von der Grundregel zum Vorrang der Leistungen der Pflegeversicherung (§ 13 Abs 3 Satz 1 SGB XI) die Leistungen der Eingliederungshilfe dem Grundsatz nach nicht nachrangig im Verhältnis zur Pflegeversicherung (§ 13 Abs 3 Satz 3 Halbsatz 1 SGB XI) und ist nach dieser Ausnahmeregelung die notwendige Hilfe in den Einrichtungen oder Räumlichkeiten der Eingliederungshilfe nach § 71 Abs 4 SGB XI einschließlich der Pflegeleistungen zu gewähren (§ 13 Abs 3 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XI). Das schließt von dieser Ausnahme zur Grundregel abweichende Sonderregelungen aber nicht aus. So liegt es bei § 43a SGB XI, der insoweit eine partielle Rückausnahme zu § 13 Abs 3 Satz 3 SGB XI enthält (vgl zum mit dem Gesetzeskonzept des § 13 Abs 3 Satz 3 SGB XI korrespondierenden § 43a SGB XI zuletzt BSG vom 25.1.2017 - B 3 P 2/15 R - BSGE 122, 239 = SozR 4-3300 § 40 Nr 14, RdNr 19 ff).

Die Regelung des § 43a SGB XI begründet nach Wortlaut und Regelungssystematik pauschalierte Individualansprüche der Versicherten auf Beteiligung der Pflegekassen an den Pflegekosten in Einrichtungen der Eingliederungshilfe; dafür spricht schon die ausdrückliche Einordnung in den Katalog der "Leistungsarten" der Pflegeversicherung (vgl § 28 Abs 1 Nr 9 SGB XI). Soweit die Eingliederungshilfe nach dem Prinzip der Leistungen aus einer Hand "auch die Pflegeleistungen in der Einrichtung" umfasst (§ 55 Satz 1 SGB XII bzw nunmehr § 103 Abs 1 Satz 1 SGB IX; § 13 Abs 3 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XI), kann das vor diesem Hintergrund nur als Verpflichtung der Träger der Eingliederungshilfe verstanden werden, im Außenverhältnis zu den Leistungsberechtigten in deren Interesse auch die im begrenzten Umfang des § 43a SGB XI mit den Mitteln der Pflegeversicherung zu finanzierende Pflege sicherzustellen. Insoweit entsprechen § 55 SGB XII und nunmehr § 103 Abs 1 SGB IX anderen Regelungsmodellen beim Zusammentreffen von Leistungszuständigkeiten unterschiedlicher Träger wie etwa bei §§ 14 ff SGB IX.

Dass dagegen im Innenverhältnis beider Leistungsträger insoweit eine gleichrangige Leistungszuständigkeit von Pflegekassen und Eingliederungshilfeträgern für den nach § 43a SGB XI von der Pflegekasse zu übernehmenden Anteil an den von der Eingliederungshilfe getragenen Pflegekosten bestehen könnte, ist nicht anzunehmen. Das stünde ersichtlich im Widerspruch zu der mit § 43a SGB XI verfolgten Absicht, die Träger der Eingliederungshilfe mindestens partiell von Aufwendungen zu entlasten, die bei einem Verbleib Pflegebedürftiger in deren Einrichtungen oder entsprechenden Räumlichkeiten entstehen (zu § 43a SGB XI als partieller Nachrangregelung zur finanziellen Kompensation der Eingliederungshilfeträger vgl Philipp in Knickrehm/Kreikebohm/ Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Aufl 2021, § 13 SGB XI RdNr 15 und § 43a SGB XI RdNr 2, 7; Rasch in Udsching/Schütze, SGB XI, 5. Aufl 2018, § 43a RdNr 5 f, 8; Udsching, ebenda, § 13 RdNr 10, 20). Materiell kann demgemäß im Verhältnis zwischen Eingliederungshilfe und Versicherten - auch zur Vermeidung unberechtigter zweckidentischer Doppelleistungen an den Leistungsberechtigten - nur der Träger der Eingliederungshilfe die Auszahlung des Pauschalbetrags nach § 43a SGB XI beanspruchen, wenn er - wie mit der Klage hier geltend gemacht - als Leistung der Eingliederungshilfe in der Vergangenheit die Kosten einer auch pflegerischen Versorgung eines Versicherten getragen hat.

6. Im Rahmen dieses partiellen Vorrang-Nachrang-Verhältnisses ist der Kläger als Träger der Sozialhilfe in dem streitbefangenen Zeitraum auch verfahrensrechtlich berechtigt, den Zahlungsanspruch eines Versicherten gegen die Pflegekasse nach § 43a SGB XI im eigenen Namen geltend zu machen und ggf Auszahlung an sich zu verlangen.

a) Ansprüche auf Leistungen der Pflegeversicherung sind antragsabhängig und werden erst ab Antragstellung gewährt (§ 33 Abs 1 Satz 1 bis 3 SGB XI). Zur Antragstellung ist bis zur Einordnung der Eingliederungshilfe in das SGB IX mit Wirkung vom 1.1.2020 der Sozialhilfeträger jedenfalls auf der gesetzlichen Grundlage des § 95 Satz 1 SGB XII berechtigt, wonach der erstattungsberechtigte Träger der Sozialhilfe die Feststellung einer Sozialleistung betreiben sowie Rechtsmittel einlegen kann (so bereits für § 91a BSHG als Vorläufer des § 95 SGB XII BSG vom 28.6.2001 - B 3 P 7/00 R - SozR 3-3300 § 43a Nr 5, juris RdNr 14 f). Im Sinne dessen geht ersichtlich schon das SGB XI in den Verfahrensvorschriften zum Zusammentreffen von Leistungen der Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe von der Erstattungsberechtigung des im Außenverhältnis zu den Leistungsberechtigten allein leistenden Trägers aus. Soweit nämlich nach § 13 Abs 4 SGB XI für ein solches Zusammentreffen im Vertragswege eine Leistung aus einer Hand und eine entsprechende Erstattung zugunsten des im Außenverhältnis zuständigen Trägers vereinbart werden soll bzw nunmehr eine Leistungsübernahme durch den für die Eingliederungshilfe zuständigen Träger und eine entsprechende Erstattung zu dessen Gunsten durch die Pflegekasse zu vereinbaren ist (§ 13 Abs 4 SGB XI idF des PflegeVG und nunmehr § 13 Abs 4 Satz 1 SGB XI idF des PSG III), lässt sich das nur verstehen als Auftrag zur vertraglichen Ausgestaltung eines Erstattungsanspruchs, der nach der gesetzlichen Konzeption immer dann gegeben ist, wenn der leistende Träger - nunmehr zwingend die Eingliederungshilfe (§ 13 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB XI idF des PSG III) - im Außenverhältnis zugleich für den anderen Träger Leistungen erbringt, die dieser im Verhältnis zum Leistungsberechtigten ausschließlich selbst zu erbringen hat.

b) Nach dem aufgezeigten Vorrang-Nachrang-Verhältnis im Rahmen des § 43a SGB XI wird der für die Eingliederungshilfe zuständige Träger mit der Erbringung von Pflegeleistungen kraft Gesetzes insoweit nach § 104 SGB X erstattungsberechtigt gegenüber der Pflegekasse (dazu sogleich 7.) und damit nach der Rechtslage bis Ende 2019 zugleich antragsberechtigt nach § 95 SGB XII (zum Zusammenhang von Erstattungsberechtigung und gesetzlicher Prozessstandschaft bereits BSG vom 22.4.1998 - B 9 VG 6/96 R - BSGE 82, 112 = SozR 3-5910 § 91a Nr 4, juris RdNr 23). Ihm ist damit ein Mittel in die Hand gegeben, die zu seinen Gunsten bestimmte finanzielle Beteiligung der Pflegeversicherung an den Kosten der Eingliederungshilfe unabhängig von einer Verfahrensführung des Leistungsberechtigten zu realisieren (zu dieser Interessenlage Schweigler, SGb 2014, 307).

Ob sich mit der Erstattungsberechtigung seit Einordnung der Eingliederungshilfe mit Wirkung vom 1.1.2020 in das SGB IX (zu dieser Rechtsänderung und dem damit verbundenen Systemwechsel BSG vom 28.1.2021 - B 8 SO 9/19 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4, RdNr 19), das eine dem § 95 SGB XII vergleichbare Regelung nicht kennt (vgl Armbruster in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl, § 95 RdNr 17, Stand 9.3.2020), eine ungeschriebene Antragsbefugnis zugunsten des Trägers der Eingliederungshilfe verbindet, kann für den streitigen Zeitraum hier offenbleiben (zur Frage vgl nur Becker in Hauck/Noftz, SGB X, K Vor §§ 102 - 114 RdNr 87 ff, Stand Juni 2019).

7. Hat eine Pflegekasse bei Pflegebedürftigkeit eines Versicherten ihre vorrangige Leistungsverpflichtung nach § 43a SGB XI zeitgerecht erfüllt, nämlich durch Zahlung gegenüber dem Einrichtungsträger ihren Anteil an der zwischen diesem und dem Träger der Eingliederungshilfe vereinbarten Vergütung "übernommen" (§ 43a Satz 1 SGB XI; zur Zahlung unmittelbar an den Einrichtungsträger vgl BSG vom 13.3.2001 - B 3 P 17/00 R - SozR 3-3300 § 43a Nr 3, juris RdNr 15; BSG vom 20.4.2016 - B 3 P 1/15 R - SozR 4-3300 § 45b Nr 2 RdNr 23, 25), ist der Eingliederungshilfeträger insoweit "selbst nicht zur Leistung verpflichtet" iS von § 104 Abs 1 Satz 2 SGB X und daher nach der Wertung von § 104 SGB X in diesem Rahmen nur nachrangig verpflichtet.

Das ist in dem systematischen Verhältnis der Leistungsansprüche nach § 43a SGB XI einerseits und § 55 SGB XII bzw nunmehr § 103 Abs 1 SGB IX andererseits kein Ausdruck eines - insofern für die Pflegeversicherung durch § 13 Abs 3 Satz 3 Halbsatz 1 SGB XI ohnehin aufgehobenen - institutionellen Nachrangs der Eingliederungshilfe ("Systemsubsidiarität"), sondern dem in § 43a SGB XI ausgestalteten Vorrang-Nachrang-Verhältnis und dem damit verfolgten finanziellen Entlastungszweck zugunsten der Eingliederungshilfe im Sinne einer "Einzelfallsubsidiarität" zu entnehmen (vgl letztens etwa BSG vom 25.1.2017 - B 3 P 2/15 R - BSGE 122, 239 = SozR 4-3300 § 40 Nr 14, RdNr 18; zum Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X bei konkreter fallbezogener Nachrangigkeit des Anspruchs des Leistungsberechtigten vgl näher nur Becker in Hauck/Noftz, SGB X, K § 104 RdNr 6 f, 24 ff, 47, 49, Stand Juli 2021; Kater in Kasseler Komm, § 104 SGB X RdNr 2, 4, 10, 13, 36, 73 f, Stand Mai 2021).

Hieran knüpft § 13 Abs 4 SGB XI an, der Vereinbarungen zwischen Pflegekasse und für die Eingliederungshilfe zuständigem Träger ua über zu erstattende Kosten vorsieht. Eine hierauf gestützte Vereinbarung zur Durchführung des § 43a SGB XI mit Regelungen zur Feststellung, Zahlung und Abrechnung der von der Pflegekasse zu erstattenden Beträge haben vorliegend auch die Beteiligten miteinander geschlossen.

Insoweit bleibt der erkennende Senat bei seiner schon früher ausgesprochenen Rechtsauffassung zu § 104 SGB X als möglicher Rechtsgrundlage für einen eigenen Erstattungsanspruch des Eingliederungshilfeträgers (BSG vom 13.3.2001 - B 3 P 17/00 R - SozR 3-3300 § 43a Nr 3, juris RdNr 12; BSG vom 28.6.2001 - B 3 P 7/00 R - SozR 3-3300 § 43a Nr 5, juris RdNr 13, 15). Hierfür sprechen im Übrigen auch der im Gesetzgebungsverfahren zum PSG III vom Bundesrat eingebrachte - wenn auch nicht weiter verfolgte - Vorschlag und die ihn tragenden Erwägungen, die Geltung von § 104 SGB X insoweit ausdrücklich anzuordnen (vgl BT-Drucks 18/9959 S 7 f zu 10. lit a).

8. Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Kläger vorliegend als erstattungsberechtigter Träger der Sozialhilfe im Wege der gesetzlichen Prozessstandschaft nach § 95 Satz 1 SGB XII berechtigt, die Feststellung der Leistungspflicht der Pflegekasse gegenüber der Versicherten nach § 43a SGB XI für den streitigen Zeitraum zu betreiben und insoweit zudem einen eigenen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X zu verfolgen. Ob er sich neben der gesetzlichen - wie von ihm geltend gemacht - auch auf eine gewillkürte Prozessstandschaft stützen kann, kann danach offenbleiben; auf die im Zusammenhang damit vom Kläger erhobene Verfahrensrüge mangelnder Amtsermittlung kommt es nicht mehr an.

Für seine Klagebegehren ist der Kläger auch jeweils klagebefugt iS des § 54 Abs 1 Satz 2 und Abs 2 Satz 1 SGG (vgl allgemein zum Maßstab hierfür Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 54 RdNr 9 f, 22, 39, 41a mwN; vgl für den vorliegenden Zusammenhang Armbruster in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl, § 95 RdNr 126, Stand 9.3.2020). Für den nach seinem Vorbringen der Sache nach (§ 123 SGG) von Beginn an aus eigenem Recht geltend gemachten Erstattungsanspruch kann ihm die Klagebefugnis ohnehin nicht abgesprochen werden, nachdem die Beklagte ihre Leistungspflicht insgesamt abgelehnt hat und nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Versicherte im streitigen Zeitraum pflegebedürftig war.

Der Kläger ist aber auch klagebefugt, soweit er sich auf die gesetzliche Prozessstandschaft nach § 95 Satz 1 SGB XII iVm § 43a SGB XI beruft (zur Klagebefugnis hierfür bei gleichzeitig erhobenem Erstattungsanspruch BSG vom 28.6.2001 - B 3 P 7/00 R - SozR 3-3300 § 43a Nr 5, juris RdNr 14). Hieran ändern entgegen der Auffassung des LSG einzelne Ausführungen des Klägers im Zusammenhang mit der Überleitungsvorschrift des § 140 SGB XI in seiner Klagebegründung nichts, weil ungeachtet dessen das Begehren des Klägers von Beginn an ersichtlich darauf gerichtet war, den Anspruch der nach seiner Auffassung im streitigen Zeitraum pflegebedürftigen Versicherten aus § 43a SGB XI zu seinen Gunsten zu realisieren.

9. Auf die nach alledem zulässige Klage ist deren Begründetheit, dh die Anspruchsberechtigung des Klägers als Prozessstandschafter der Versicherten und aus eigenem Recht zu prüfen. Jeweils kommt es hierfür ua darauf an, ob die Versicherte in der streitigen Zeit pflegebedürftig iS des § 43a SGB XI war. Eigene tatsächliche Feststellungen hierzu haben die Vorinstanzen ausgehend von ihrer Rechtsauffassung der Unzulässigkeit der Klage nicht getroffen. Die Feststellungen sind auch nicht entbehrlich, etwa weil die Pflegebedürftigkeit der Versicherten oder ihr Fehlen unstreitig wären; vielmehr lag Pflegebedürftigkeit nach den ablehnenden Bescheiden der Beklagten nicht vor, die mit der Klage angegriffen sind. Ohne diese Feststellungen ist dem Senat eine abschließende Entscheidung in der Sache verwehrt. Zur Nachholung der für ein Sachurteil erforderlichen Feststellungen bedarf es der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG.

Im wiedereröffneten Berufungsverfahren ist die Versicherte nach § 75 Abs 2 Alt 1 SGG beizuladen. Zutreffend hat der Kläger den auch von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel der unterlassenen echten notwendigen Beiladung gerügt. Denn die Entscheidung darüber, ob der Kläger im Wege der Prozessstandschaft nach § 95 SGB XII die Gewährung von Leistungen an die Versicherte begehren kann, greift unmittelbar in deren Rechtsposition ein, weil deren Leistungsanspruch betroffen ist (vgl BSG vom 5.6.2014 - B 4 AS 32/13 R - BSGE 116, 112 = SozR 4-4200 § 7 Nr 36, RdNr 13 f; BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 35/13 R - juris RdNr 12).

Referenznummer:

R/R9475


Informationsstand: 26.08.2022