Die zulässige Berufung ist begründet.
Das Sozialgericht hat mit dem angegriffenen Urteil die Klage zu Unrecht abgewiesen. Denn der Bescheid des Beklagten vom 21. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 2006 ist rechtswidrig, da die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-
GdB von 50 hat.
Nach
§§ 2 Abs. 1,
69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Zur Einschätzung des
GdB sind zunächst die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (
AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum die Fassungen der
AHP von 2005 und 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der
Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer
Rechtsverordnung in Kraft, welche die
AHP abgelöst haben.
Hinsichtlich des Diabetes mellitus ist bei der Klägerin ein Einzel-
GdB von 40 anzusetzen.
Es ist allerdings nicht zu beanstanden, dass der Beklagte nicht den
GdB-Katalog der DDG herangezogen hat. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 24. April 2008,
B 9/9a SB 10/06 R, SGb 2009, 168) war die sich aus dem Diabetes mellitus ergebende Teilhabebeeinträchtigung (bis zum Inkrafttreten der
VersMedV) grundsätzlich nach den Bewertungsvorschlägen der
AHP einzuschätzen: Bei den
AHP handelte es sich um antizipierte Sachverständigengutachten, deren Beachtlichkeit im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sich zum einen daraus ergab, dass eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung nur dann gewährleistet ist, wenn die verschiedenen Behinderungen nach gleichen Maßstäben beurteilt werden (
vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 6. März 1995,
1 BvR 60/95, SozR 3-3870 § 3
Nr. 6,
S. 11f.). Zum anderen stellten die
AHP ein geeignetes, auf Erfahrungswerten der Versorgungsverwaltung und Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge zur Einschätzung des
GdB dar. Insofern wirkten die
AHP nach Auffassung des Bundessozialgerichts normähnlich.
Nach der genannten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. April 2008 bedürfen jedoch die Ausführungen der
AHP 2008, soweit sie die Bewertung des mit Insulin behandelten Diabetes mellitus betreffen, einer Modifikation: Die (im Gegensatz zu den
AHP 1996 und den
AHP 2004ff. getroffene) Unterscheidung zwischen den Typen I und II des Diabetes mellitus ist für die
GdB-Bewertung nicht zielführend, da sie klinischer Natur ist und - unter Berücksichtigung der Entstehung der Stoffwechselstörung - in erster Linie der Bestimmung der Behandlungsmethode dient. Bei Vorliegen einer Insulinbehandlung erlaubt sie jedoch keine trennscharfe Differenzierung nach den jeweils bestehenden Teilhabebeeinträchtigungen, da es eine größere Anzahl von Fällen des Diabetes Typ II gibt, bei denen unter Insulinbehandlung ähnliche Hypoglykämieprobleme auftreten wie bei einem Diabetes Typ I. Dementsprechend sind für die
GdB-Bewertung andere Kriterien maßgebend. Der Begriff "einstellbar" in
Nr. 26.15 der
AHP 2008 ist deshalb dahin auszulegen, dass er darauf abstellt, ob bei dem behinderten Menschen (nicht nur vorübergehend) tatsächlich eine stabile oder instabile Stoffwechsellage besteht und welcher Therapieaufwand dabei erfolgt. Maßgebend ist, wie leicht oder wie schwer die allgemeinen Therapieziele beim Diabetes mellitus, nämlich das Vermeiden von Hyperglykämien (erhöhten Blutzuckerwerten) und Hypoglykämien (Unterzuckerung), erreicht werden können.
Angesichts dieser Entscheidung des Bundessozialgerichts hat der Verordnungsgeber unter Aufgabe der Differenzierung nach dem Typ I und dem Typ II des Diabetes mellitus - der Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Rundschreiben vom 22. September 2008,
IV C 3-48046-3) folgend - in
Teil B Nr. 15.1 (S. 73f.) der Anlage zu § 2 VersMedV folgende Bewertung vorgesehen:
Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)
mit Diät allein (ohne blutzuckerregulierende Medikamente): 0
mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung nicht erhöhen: 10
mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung erhöhen: 20
unter Insulintherapie, auch in Kombination mit anderen blutzuckersenkenden Medikamenten, je nach Stabilität der Stoffwechsellage (stabil oder mäßig schwankend): 30-40
unter Insulintherapie instabile Stoffwechsellage einschließlich gelegentlicher schwerer Hypoglykämien: 50
Häufige, ausgeprägte oder schwere Hypoglykämien sind zusätzlich zu bewerten.
Schwere Hypoglykämien sind Unterzuckerungen, die eine ärztliche Hilfe erfordern.
Diese Bestimmungen sind grundsätzlich auch für noch nicht bestandskräftig beschiedene Zeiträume vor Inkrafttreten der
VersMedV am 1. Januar 2009 heranzuziehen (
vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008,
B 9/9a SB 4/07 R, bei Juris, zu der Rückwirkung der vorläufigen Neufassung der
AHP vom 22. September 2008 [a.a.O.]), vorliegend also ab Antragstellung im April 2006.
Auf der Grundlage dieser Vorgaben wäre der den Diabetes mellitus der Klägerin betreffende Einzel-
GdB mit 30 anzusetzen. Die Zuckerkrankheit ist nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen hinreichend eingestellt. Der Internist
Dr. D hat in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 30. März 2007 dargelegt, dass sich aus dem von der Klägerin eingereichten Diabetes-Tagebuchs zwar durchaus, jedenfalls im Jahr 2002, niedrige Blutzuckerwerte ergeben, jedoch deutlich eine entsprechende Ausgleichbarkeit abgelesen werden können. Häufige und ausgeprägte Hypoglykämien sind nicht belegt.
Indes ist nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 23. April 2009,
B 9 SB 3/08 R, bei Juris) eine Ergänzung der in Teil B
Nr. 15.1 der Anlage zu § 2
VersMedV enthaltenen Regelungen zur Feststellung des
GdB bei Diabetes mellitus angezeigt: Sie binden die Rechtsanwender nicht, da sie gegen
§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX verstoßen. Der medizinisch notwendige Aufwand für die Therapie einer Dauererkrankung wie des Diabetes mellitus kann je nach Art und notwendigen Zeitaufwand "Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" im Sinne der genannten gesetzlichen Vorschrift haben. Demgegenüber wird in der
Rechtsverordnung nach wie vor allein die Einstellungsqualität des Diabetes und nicht ein die Teilhabe beeinträchtigender Therapieaufwand berücksichtigt. Deshalb ist der Therapieaufwand von Gesetzes wegen bei der Entscheidung über die Höhe des
GdB zwingend mit einzustellen. Die Notwendigkeit seiner Berücksichtigung kann ja nach Umfang dazu führen, dass der allein anhand der Einstellungsqualität des Diabetes mellitus beurteilte
GdB auf den nächst höheren Zehnergrad festzustellen ist (so
BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008,
B 9/9a SB 4/07 R, bei Juris).
Dementsprechend ist im vorliegenden Fall bei der
GdB-Bewertung des Diabetes mellitus neben der Einstellungsqualität auch der konkrete Therapieaufwand zu beurteilen, soweit er sich auf die Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft nachteilig auswirkt.
Der Umstand, dass die Klägerin morgens ihren Blutzuckerspiegel kontrollieren und sich regelmäßig dreimal täglich Insulin verabreichen muss, ist allerdings - für sich allein genommen - nicht geeignet, einen höheren Einzel-
GdB als 30 zu begründen. Denn das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 24. April 2008 betont, dass sich allein aus der Zahl der täglichen Insulininjektionen (wie von der DDG vorgeschlagen wurde) nicht mit hinreichender Sicherheit und Genauigkeit auf das Ausmaß der durch einen Diabetes mellitus bedingten Teilhabebeeinträchtigung schließen lässt. Vielmehr ist jeweils auch das Ergebnis der therapeutischen Maßnahmen, insbesondere die erreichte Stoffwechsellage zu betrachten. So wird der
GdB relativ niedrig anzusetzen sein, wenn mit geringem Therapieaufwand eine ausgeglichene Stoffwechsellage erreicht wird. Mit (in beeinträchtigender Weise) wachsendem Therapieaufwand und/oder abnehmendem Therapieerfolg (instabilerer Stoffwechsellage) wird der
GdB höher einzuschätzen sein.
Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass bei der Klägerin nach dem letzten Befundbericht der sie behandelnden Internistin
Dr. T - S vom 4. Februar 2009 ein häufiger Wechsel von Hypo- und Hyperglykämien besteht. Zwar zeitigt die Insulintherapie insoweit Erfolg, als ausgeprägte oder schwere Hypoklykämien vermieden werden. Mit dem vorgetragenen HbA 1c -Wert von 6,0 nähert der Langzeit-Blutzuckerwert der Klägerin sich dem oberen Normbereich, so dass - der subjektiven Einschätzung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung entsprechend - von einer zufriedenstellenden Stoffwechsellage auszugehen ist. Jedoch erreicht die Klägerin diesen Therapieerfolg nur mit einem sie in nicht unerheblichem Ausmaß treffenden Therapieaufwand.
Die Notwendigkeit, ihre Blutzuckerwerte zu kontrollieren, sich mehrmals am Tag Insulin zu spritzen und eine bestimmte Diät einzuhalten, trifft regelmäßig Diabetiker unter Insulintherapie. Der Umstand, dass die Klägerin täglich streng die Essenszeiten einzuhalten hat, ist im vorliegenden Fall der von ihrer behandelnden Ärztin vorgeschriebenen Therapieform geschuldet. Entscheidend ist, dass die Klägerin gehalten ist, täglich Sport zu betreiben. Der hierfür betriebene Aufwand von anderthalb Stunden am Tag kann nicht als gering im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts qualifiziert werden. Dies ist auch unter dem Aspekt, dass sportliche Betätigung allgemein wünschenswert ist, beachtlich, denn der Umstand, dass die Klägerin Sport in diesem Umfang betreibt, trägt unmittelbar zu dem Therapieerfolg mit bei und muss konsequenterweise im Rahmen des Therapieaufwandes, der Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zeitigt, Berücksichtigung finden.
Deshalb ist es gerechtfertigt, mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bei der Klägerin den Einzel-
GdB wegen des Diabetes mellitus um einen Zehnergrad auf 40 anzuheben.
Organkomplikationen, d.h. dauerhafte durch den Diabetes mellitus verursachte Gesundheitsstörungen an anderen Organen führen nicht zu einer Erhöhung des Einzel-
GdB wegen Diabetes, sondern sind wie davon unabhängig entstandene Gesundheitsstörungen zu behandeln, also einzeln zu bewerten und nach Maßgabe des § 69
Abs. 3 Satz 1
SGB IX bei der Bildung des Gesamt-
GdB zu berücksichtigen (
vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008 a.a.O.).
Unter Verwertung der ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen hat das Sozialgericht Berlin überzeugend dargelegt, dass der Klägerin wegen der bei ihr vorliegenden Sehbehinderungen ein
GdB von 20 zuzuerkennen ist. Hinsichtlich der Sehschärfe ist nach
Nr. 26.4 (
S. 50) der
AHP bzw. Teil B Nr. 4 (S. 29f.) der Anlage zu § 2 VersMedV auf die
MdE-Tabelle der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft abzustellen, die bei einem korrigierten Sehvermögen von 0,9 auf dem rechten und 0,1 auf dem linken Auge, das ausweislich des Befundberichts der Augenärztin A vom 11. Dezember 2008 bei der Klägerin unverändert vorliegt, einen Einzel-
GdB in dieser Höhe vorsieht. Die Einschränkung des Gesichtsfeldes des linken Auges wirkt sich - wie die Augenärztin L in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 12. März 2009 überzeugend dargelegt hat, wegen der an diesem Auge bestehenden Amblyopie (Schwachsichtigkeit) nicht
GdB-erhöhend aus. Das Gesichtsfeld des rechten Auges bewegt sich nach der Mitteilung der Augenärztin A im genannten Befundbericht innerhalb normaler Grenzen. Rechtlich unerheblich ist, dass, worauf die Klägerin hinweist, die Glaukom-Erkrankung fortgeschritten ist, da nicht auf die Erkrankung als solche, sondern auf das Ausmaß der Sehbehinderung ankommt, das sich vorliegend gerade nicht erhöht hat.
Der Gesamt-
GdB als Ausdruck der Gesamtbeeinträchtigung ist mit 50 zu bilden. Liegen mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der
GdB gemäß § 69
Abs. 3
SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach
Nr. 19
Abs. 3 der
AHP bzw. Teil A
Nr. 3c der Anlage zu § 2
VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-
GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-
GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Danach ist der für den Diabetes mellitus anzusetzende Einzel-
GdB von 40 wegen der mit einem Einzel-
GdB von 20 zu bewertenden Sehminderung um einen Zehnergrad anzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 160
Abs. 2
Nr. 1
SGG zuzulassen.