Urteil
Höhe des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertenrecht

Gericht:

BSG 9. Senat


Aktenzeichen:

B 9 SB 4/08 R


Urteil vom:

30.09.2009


Grundlage:

Leit- bzw. Orientierungssätze:

1. Der GdB ist ausschließlich nach einer von Kausalitätserwägungen freien finalen Betrachtung orientiert an den Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu bestimmen.

2. Es begegnet durchgreifenden Bedenken, mit der GdB-Bewertung eines Zustands nach Tumorentfernung während der Heilungsbewährung auch abgrenzbare und nennenswerte Schäden an anderen Organen zu erfassen, die nicht immer mit einer derartigen Behandlung verbunden sind.

Terminvorschau:

(Nr. 50/09 vom 20.08.2009)

Streitig ist die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 60 nach dem Schwerbehindertenrecht. Bei dem Kläger liegen ein Zustand nach Entfernung eines malignen Schilddrüsentumors in Heilungsbewährung, Heiserkeit mit einseitiger Stimmlippenlähmung und eine Atemwegserkrankung mit Funktionsstörung der Lunge vor. Das LSG hat den Zustand nach Tumorentfernung mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet und diesen wegen der Stimmbandlähmung, die für sich genommen einen GdB von 30 bedinge, auf 60 erhöht. Unter Berücksichtigung der Atemwegserkrankung (Einzel-GdB 20) ergebe sich ein Gesamt-GdB von mindestens 60.

Mit ihrer Revision macht die Beklagte unter Berufung auf Nr 26.1 (Abs 3) der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht bzw Teil B Nr 1 Buchst c Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-Verordnung im Wesentlichen geltend, dass eine Höherbewertung des Zustandes nach Entfernung des Schilddrüsentumors in Heilungsbewährung nur dann in Betracht komme, wenn der verbliebene Organschaden, wozu auch die Stimmlippenlähmung gehöre, einen GdB von 50 oder mehr bedinge. Das sei hier nicht der Fall.

Terminbericht:

(Nr. 50/09 vom 30.09.2009)

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über das Ergebnis der am 30. September 2009 mündlich verhandelten Revisionssache.

Die Revision der Beklagten ist zurückgewiesen worden. Die Feststellung des GdB hat sich allein an der Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft zu orientieren, ohne dass es darauf ankommt, wann und wodurch die zugrunde liegende Gesundheitsstörung entstanden ist. In den nach Entfernung eines malignen Schilddrüsentumors während der Heilungsbewährung anzusetzenden GdB darf eine operationsbedingte Stimmbandlähmung, die für sich genommen einen GdB von 30 ergibt, schon deshalb nicht einbezogen werden, weil sie nicht zu dem damit zulässigerweise erfassten Zustand gehört. Denn sie tritt nach den Feststellungen des LSG nicht immer, sondern nur in höchstens 20 % der Fälle auf. Eine Einbeziehung würde zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung gegenüber demjenigen führen, dessen Stimmbandlähmung bereits vor der Schilddrüsenentfernung bestanden hat.

Rechtsweg:

SG Koblenz Gerichtsbescheid vom 21.02.2007 - S 4 SB 93/06
LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 16.04.2008 - L 4 SB 53/07

Quelle:

Bundessozialgericht

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Schwerbehindertenrecht.

Bei dem im Jahre 1954 geborenen Kläger wurde im April 2005 wegen eines multifokalen Schilddrüsenkarzinoms links die Schilddrüse entfernt. Die Operation führte zur Verletzung eines Stimmbandnervs.

Auf den vom Kläger im Juni 2005 angebrachten Antrag stellte das seinerzeit aufgrund des Wohnsitzes des Klägers zuständige Amt für soziale Angelegenheiten K. mit Bescheid vom 12.8.2005 wegen einer "Gewebeveränderung der Schilddrüse" einen GdB von 50 fest. Gestützt auf weitere medizinische Unterlagen und eine versorgungsärztliche Stellungnahme wies das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung des Landes Rheinland-Pfalz mit Bescheid vom 2.2.2006 den Widerspruch des Klägers zurück. Dabei wurden die bestehenden Beeinträchtigungen wie folgt bezeichnet: "1. Gewebeveränderung der Schilddrüse, 2. Heiserkeit bei Lähmung des rechten Stimmbandes". Die Beeinträchtigung zu 2. sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der Gesamt-GdB betrage weiterhin 50.

Das dagegen vom Kläger angerufene Sozialgericht Koblenz (SG) hat ua ein HNO-ärztliches Gutachten eingeholt, das für die Stimmlippenlähmung rechts mit dauernder Heiserkeit einen Einzel-GdB von 30 und für den Zustand nach Therapie eines Schilddrüsenkarzinoms einen Einzel-GdB von 50 angenommen und den Gesamt-GdB mit 50 bewertet hat. Durch Gerichtsbescheid vom 21.2.2007 hat das SG den angefochtenen Bescheid geändert und das Land Rheinland-Pfalz verurteilt, den GdB des Klägers ab Antragstellung auf 60 zu bemessen. Auf die dagegen gerichtete Berufung des Landes Rheinland-Pfalz hat das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) ein viszeralchirurgisches Gutachten nach Aktenlage eingeholt, das das erstinstanzlich eingeholte Gutachten hinsichtlich der Diagnose und der Einzel-GdB-Werte bestätigt, hinsichtlich des Gesamt-GdB indes 60 vorgeschlagen hat. Gestützt auf mehrere versorgungsärztliche Stellungnahmen hat das Land Rheinland-Pfalz demgegenüber die Auffassung vertreten, dass bis zum Ablauf der Heilungsbewährung der GdB nur in den Fällen höher als 50 zu bewerten sei, in denen der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden bzw außergewöhnliche Folgeerscheinungen für sich allein einen GdB von 50 rechtfertigten.

Durch Urteil vom 16.4.2008 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Nach Entfernung eines malignen papillären oder follikulären Schilddrüsentumors sei in den ersten fünf Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der GdB während dieser Zeit betrage nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) 50. Ein derartiger Zustand liege vor. Die weiter beim Kläger verbliebene Verletzung des Stimmbandnervs (einseitige Stimmbandlähmung) mit gravierenden Kommunikationsstörungen, psychischer Beeinträchtigung und Heiserkeit rechtfertige isoliert betrachtet einen GdB von 30. Nach den Anhaltspunkten berücksichtige der GdB-Wert lediglich den regelhaft verbliebenen Organ- oder Gliedmaßenschaden. Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen nach der operativen Entfernung seien zusätzlich zu berücksichtigen. Die Sachverständigen hätten darauf hingewiesen, dass eine Verletzung des Stimmbandnervs nach einer Operation der Schilddrüse in 0,3 % bis 20 % der Fälle auftrete, sodass von einem regelmäßig verbleibenden Organschaden nicht ausgegangen werden könne. Der verbleibende Schaden sei daher zusätzlich zu bewerten. Da dieser Schaden allein einen GdB von 30 rechtfertige, betrage der GdB insgesamt 60.

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Landes Rheinland-Pfalz hat der Senat die Revision zugelassen, die auch eingelegt worden ist. Da der Kläger schon im Jahre 2007 nach H. verzogen war, hat der Senat mit Zustimmung der Beteiligten einen Beteiligtenwechsel auf der Beklagtenseite vollzogen. Beklagt ist nunmehr die Freie und Hansestadt Hamburg.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts, nämlich der Nr 26.1 Abs 3 AHP sowie ab 1.1.2009 des Teils B Nr 1 Buchst c der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-Verordnung (Anl VersMedV). Der GdB für die Entfernung eines malignen (Schilddrüsen-)Tumors während der Heilungsbewährung sei erst dann zu erhöhen, wenn der Organschaden/die außergewöhnlichen Folge- oder Begleiterscheinungen der Behandlung für sich genommen einen GdB von mindestens 50 bedingten, was hier nicht der Fall sei.


Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 16.4.2008 sowie den Gerichtsbescheid des SG Koblenz vom 21.2.2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.


Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat mit Schreiben vom 29.7.2009 eine Auskunft des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingeholt, die unter dem 3.9.2009 abgegeben worden ist.

Entscheidungsgründe:

Die Revision der Beklagten ist zulässig aber nicht begründet.

Richtiger Klagegegner ist infolge des Umzugs des Klägers nach Hamburg die Freie und Hansestadt Hamburg. Im Streitverfahren um die Feststellung eines höheren GdB nach § 69 SGB IX hat der Wechsel der Verwaltungszuständigkeit durch Umzug des Klägers (§ 69 Abs 1 Satz 3 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG)) im sozialgerichtlichen Verfahren einen Beklagtenwechsel kraft Gesetzes zur Folge (BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 6; zuletzt für die Folgen einer Übertragung der Verwaltungszuständigkeit durch Landesgesetz, Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 25.6.2009 - B 10 EG 9/08 R -). Das gilt - anders als bei reinen Anfechtungsklagen - uneingeschränkt für die auf ein behördliches Tun in der Zukunft gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen (BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6 RdNr 13) , weil allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger den beanspruchten Verwaltungsakt erlassen kann (zur ähnlichen Sachlage bei kombinierter Anfechtungs- und Leistungsklage s BSG, Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - RdNr 23).

Der Kläger hat im vorliegenden Verfahren eine statthafte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erhoben, denn er erstrebt neben der entsprechenden Änderung des angefochtenen Bescheides vom 12.8.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.2.2006 die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des GdB auf 60 (zur statthaften Klageart s BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6 RdNr 18 und Nr 9 RdNr 18).

Zutreffend hat das LSG die Entscheidung des SG bestätigt, das dem Klageantrag gefolgt ist und das seinerzeit beklagte Land zur Feststellung des GdB auf 60 verpflichtet hat. Die dagegen gerichtete Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 50 ist § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX idF des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606; aF) sowie - für die Zeit ab 21.12.2007 - idF des Gesetzes vom 13.12.2007 (BGBl I 2904; nF) . Nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX (beider Fassungen) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX (beider Fassungen) die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gemäß § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX aF gelten die Maßstäbe des § 30 Abs 1 BVG entsprechend (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 7 RdNr 22 mwN). In § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX nF wird zusätzlich auf die auf Grund des § 30 Abs 17 BVG erlassene Rechtsverordnung Bezug genommen. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX (beider Fassungen) nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Durch den Verweis auf die im Rahmen des § 30 Abs 1 BVG festgelegten Maßstäbe stellt § 69 SGB IX auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem ab, dessen Ausgangspunkt die "Mindestvomhundertsätze" für eine größere Zahl erheblicher äußerer Körperschäden iS der Nr 5 Allgemeine Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG sind. Von diesen Mindestvomhundertsätzen leiten sich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der AHP ab. Anzuwenden sind vorliegend für die Zeit ab Antragstellung im Mai 2005 bis zum Ende des Jahres 2007 die AHP 2005, danach bis Ende des Jahres 2008 die AHP 2008. Für die Zeit ab 1.1.2009 ist die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs 1 und des § 35 Abs 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (VersMedV) Grundlage für die Feststellung des GdB. Aus diesem Wechsel ergeben sich hier keine Abweichungen, da der Wortlaut der maßgebenden Abschnitte der AHP sowie der Anlage zu § 2 VersMedV "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anl VersMedV) identisch ist.

Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s § 2 Abs 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese den in den AHP/der Anl VersMedV genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl Nr 19 Abs 3 AHP/A3 Anl 3 VersMedV) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der AHP 2005 feste Grade angegeben sind (vgl Nr 19 Abs 2 AHP/A3 b Anl VersMedV).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist davon auszugehen, dass die AHP grundsätzlich den Maßstab angeben, nach dem der GdB einzuschätzen ist (BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9) . Bei den AHP handelt es sich um antizipierte Sachverständigengutachten, die im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten sind (zum Ganzen s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN). Entsprechendes gilt für die seit dem 1.1.2009 in Kraft befindliche VersMedV als verbindliche Rechtsquelle, die aufgrund der Bezugnahme in § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX auch für das Verfahren der Feststellung einer Behinderung und des GdB gilt. Diese aufgrund des § 30 Abs 17 BVG durch das BMAS im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung erlassene Rechtsverordnung ersetzt ab 1.1.2009 die bis dahin der Rechtsanwendung zugrunde liegenden AHP. Anders als die AHP, die aus Gründen der Gleichbehandlung in allen Verfahren hinsichtlich der Feststellung des GdB anzuwenden waren und dadurch rechtsnormähnliche Wirkungen entfalteten, ist die VersMedV als Rechtsverordnung verbindlich für Verwaltung und Gerichte. Sie ist indes, wie jede untergesetzliche Rechtsnorm, auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbesondere § 69 SGB IX - zu überprüfen (BSG, Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - RdNr 27, 30 mwN) . Sowohl die AHP als auch die VersMedV (nebst Anlage) sind im Lichte der rechtlichen Vorgaben des § 69 SGB IX auszulegen und - bei Verstößen dagegen - nicht anzuwenden (BSG, Urteil vom 23.4.2009, aaO, RdNr 30).

Bei der Feststellung des (Gesamt)-GdB ist das seit jeher im Schwerbehindertenrecht geltende Finalitätsprinzip (zum Rechtszustand nach dem Schwerbehindertengesetz s BSG SozR 3870 § 57 Nr 1 RdNr 20) zu beachten, das sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs 1 SGB IX als auch in den Prinzipien zur Feststellung des GdB nach § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX festgeschrieben worden ist. Danach sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrem Entstehungsgrund zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a SB 4/07 R - zum Begriff der sog Organkomplikationen unter Hinweis auf Knickrehm, SGb 2008, 220, 221; s auch Nr 18 Abs 1 AHP/A2 a Anl VersMedV). Das BSG (aaO) hat dargelegt, dass möglicherweise durch eine Haupterkrankung (dort: Diabetes Mellitus) hervorgerufene Gesundheitsstörungen (dort: zB Netzhautveränderungen etc) wie von der Haupterkrankung unabhängig entstandene Gesundheitsstörungen zu behandeln sind und in ihren Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit unabhängig von dem für die Haupterkrankung festzustellenden Einzel-GdB separat zu berücksichtigen sind.

Entsprechendes gilt grundsätzlich für dem vorliegenden Fall vergleichbare Fallkonstellationen, in denen die Operation wegen eines Hauptleidens (hier: Schilddrüsenentfernung wegen Krebs) Beeinträchtigungen oder Verletzungen anderer Organe (hier: Stimmbänder) hervorgerufen hat. Auch hier sind, ohne dass es auf den Grund der Beeinträchtigung ankommt, grundsätzlich allein die Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit für die Feststellung des GdB maßgebend.

Ausgehend von diesen rechtlichen Rahmenbedingungen hat das LSG von der Beklagten unangegriffen in dem ersten genannten Verfahrensschritt die beim Kläger bestehenden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG) festgestellt.

Auch soweit das LSG in dem zweiten Verfahrensschritt diese Gesundheitsstörungen den in den AHP und der Anl VersMedV genannten Funktionssystemen zugeordnet und jeweils mit einem Einzel-GdB bewertet hat, sind diese Feststellungen für das Revisionsgericht bindend. Der Schilddrüsenverlust nach Krebserkrankung ist dem Funktionssystem "Stoffwechsel, innere Sekretion" (Nr 26.15 AHP/B 15 Anl VersMedV) zugeordnet, die Stimmbandlähmung dem Funktionssystem "Mundhöhle, Rachenraum und obere Luftwege" (Nr 26.7 AHP/B 7 Anl VersMedV). Die entsprechend den Vorschlägen der medizinischen Sachverständigen vorgenommene Feststellung der jeweiligen Einzel-GdB hat das LSG in Übereinstimmung mit dem Inhalt bzw den Vorschriften der AHP/Anl VersMedV für die Schilddrüsenentfernung nach malignen Tumor in den ersten fünf Jahren ohne Lymphknotenbefall mit 50 und für die Stimmstörungen bei Stimmbandlähmung mit dauernder Heiserkeit mit 30 bewertet. Diese Feststellung ist tatrichterliche Aufgabe (BSGE 4, 147, 149 f; BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83 f; zur Feststellung zur Minderung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung als Tatsachenfeststellung s zuletzt BSG SozR 4-2700 § 56 Nr 2 RdNr 10 mwN) und kann im Revisionsverfahren nur durch entsprechende Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl § 163 SGG). Derartige Rügen hat die Beklagte indes nicht vorgebracht.

Schließlich ist auch die im dargestellten dritten Verfahrensschritt vorzunehmende Einschätzung des Gesamt-GdB grundsätzlich tatrichterliche Feststellung. Auch insoweit hat die Beklagte in tatsächlicher Hinsicht Revisionsrügen nicht vorgetragen.

Die Feststellung des Gesamt-GdB des Klägers mit 60 durch das LSG begegnet auch keinen rechtlichen Bedenken. Entgegen dem Revisionsvorbringen erfordern weder die AHP noch die Regelungen der Anl VersMedV eine andere Beurteilung. Neben den Passagen über Schilddrüsenkrankheiten (Nr 26.15 AHP/B 15.6 Anl VersMedV) kommen dabei den Allgemeinen Hinweisen zur GdB/MdE-Tabelle der AHP (dort Nr 26.1) sowie den Allgemeinen Hinweisen zur GdS-Tabelle der VersMedV (dort B 1) besondere Bedeutung zu.

Gemäß Nr 26.1 AHP/B1 c Anl VersMedV ist nach Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen, eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der Zeitraum der Heilungsbewährung beträgt in der Regel fünf Jahre, und zwar ab dem Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die hinsichtlich der häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten im Folgenden angegebenen GdB/MdE/GdS-Anhaltswerte sind auf den "Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen". Sie beziehen den "regelhaft verbliebenen Organ- oder Gliedmaßenschaden ein". "Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung - zB lang dauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind zusätzlich zu berücksichtigen". Nr 26.15 AHP/B 15.6 Anl VersMedV bestimmen, dass nach Entfernung eines malignen Schilddrüsentumors in den ersten fünf Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten ist, und der GdB während dieser Zeit nach Entfernung eines papillären oder follikulären Tumors ohne Lymphknotenbefall 50, sonst 80, beträgt. Bedingt der nach der Entfernung verbliebene Organschaden einen GdB von 50 oder mehr, ist der während der Heilungsbewährung anzusetzende Grad entsprechend höher zu bewerten.

Der Begriff des Organschadens wird dabei nicht näher bestimmt. Ob er unter Zuhilfenahme der übergeordneten Grundsätze des Schwerbehindertenrechts bzw des Rechts der sozialen Entschädigung insbesondere nach dem gesetzlich festgeschriebenen Finalitätsprinzip definiert werden kann, muss hier nicht abschließend entschieden werden, denn eine eher enge Auslegung des Begriffs führt zu einem Gesamt-GdB von 60. Bei einer eher weiten Auslegung des Begriffs Organschaden ergäbe sich zwar unter Umständen ein Gesamt-GdB von nur 50. Diese Feststellung verstieße indes gegen höherrangiges Recht, bei dessen Beachtung der Gesamt-GdB ebenfalls auf 60 festzustellen ist.

Als engste Definition des Organschadens ist seine Begrenzung auf das vom Krebs befallene und von der Operation betroffene Organ (hier die Schilddrüse) möglich. Denkbar ist ebenfalls, den Begriff Organschaden auch auf die - anderen - Organe zu beziehen, die von vornherein zwangsläufig von der Operation betroffen sind. Dazu zählen etwa die Folgen des Schnittes durch das Organ Haut, ohne den die Entfernung von unter der Haut liegenden Organen nicht möglich wäre. Die beim Kläger eingetretene Stimmbandlähmung gehört nicht zu den notwendigen Folgen einer Schilddrüsenoperation; vielmehr tritt sie nach den Feststellungen des LSG nur in 0,3 % bis 20 % der Fälle auf. Weiter könnten als Organschaden die Schäden zusammengefasst werden, die mit dem von der Operation betroffenen Organ nach den AHP und der Anl VersMedV demselben Funktionssystem zugeordnet sind. Auch hier wäre - wie bei den beiden zuvor genannten Begriffsbestimmungen - der Stimmbandschaden nicht dem auf die Schilddrüse bezogenen Organschaden zuzurechnen, da er nicht dem Funktionssystem "Stoffwechsel, innere Sekretion" sondern dem Funktionssystem "Mundhöhle, Rachenraum und obere Luftwege" angehört. In allen drei Fällen der Auslegung des Begriffs Organschaden ergibt sich im vorliegenden Fall ein Gesamt-GdB von 60, da der Stimmbandschaden immer separat zu würdigen ist und er hier für sich allein einen GdB von 30 bedingt.

Bei einem vom Geschäftsführer des Sachverständigenbeirats in seiner Stellungnahme vom 3.9.2009 dargelegten Verständnis des Begriffs des Organschadens käme man allerdings zu einem Gesamt-GdB von 50. Nach dieser Definition sollen auch alle regelhaften oder außergewöhnlichen Komplikationen einer Operation als Organschaden angesehen werden, unabhängig davon, an welchem Organ und mit welcher Häufigkeit sie auftreten. Auch scheint es danach unerheblich zu sein, ob sie auf ärztlichen Fehlern beruhen oder nicht. Indes erweist sich dieser Ansatz, der auch dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegt, aus Rechtsgründen als unzutreffend.

Es ist aus Gründen verfassungsrechtlich durch Art 3 Abs 1 Grundgesetz gebotener Gleichbehandlung bzw verbotener Ungleichbehandlung zwingend, den Gesamt-GdB ausschließlich nach einer von Kausalitätserwägungen freien, rein finalen Betrachtung orientiert an den Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 69 Abs 1 Satz 4, Abs 3 SGB IX) zu bestimmen. Dieses Gebot setzt auch der pauschalen GdB-Bewertung eines Zustandes nach Organentfernung in der Heilungsbewährung Grenzen.

In Fällen identischer Teilhabebeeinträchtigungen muss der Gesamt-GdB identisch sein. In dem Fall, in dem bei einer vorbestehenden Stimmbandlähmung eine Schilddrüsenentfernung ohne Stimmbandnervenverletzung erfolgte, und in dem Fall, in dem erst aufgrund der Schilddrüsenentfernung eine Stimmbandlähmung eingetreten ist, hat sich bei ansonsten übereinstimmenden Verhältnissen derselbe GdB zu ergeben. Nach der Rechtsauffassung der Beklagten und des Geschäftsführers des Sachverständigenbeirats würde indes im erstgenannten Fall der Gesamt-GdB auf 60 festzustellen sein, wohingegen im zweitgenannten Fall der Gesamt-GdB nur 50 betrüge.

Dementsprechend müssen sich auch unterschiedliche Teilhabebeeinträchtigungen auf die GdB-Bewertung auswirken. In dem Fall, in dem die Schilddrüsenentfernung komplikationslos erfolgt ist, beträgt der GdB im Rahmen der Heilungsbewährung 50. In dem Fall, in dem - wie vorliegend - die Schilddrüsenentfernung zur Verletzung anderer Organe mit dauerhaften Folgen geführt hat, ist folgerichtig der Gesamt-GdB unter Umständen höher zu bewerten. Nach der Rechtsauffassung der Beklagten und des Geschäftsführers des Sachverständigenbeirates würde indes in beiden Fällen der GdB mit 50 festzustellen sein, jedenfalls solange der verbliebene - umfassend verstandene - "Organschaden" einen GdB von unter 50 bedingt.

Zwar kann die Ungleichbehandlung gleicher und die Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte bei Bestehen eines sachlichen Grundes gerechtfertigt sein (stRspr des Bundesverfassungsgerichts BverfGE 55, 78, 88; 76, 256, 329; 88, 87, 96f; 101, 239, 270; 105, 73, 110 = SozR 3-1100 Art 3 Nr 176) . Für die Vorgehensweise der Beklagten sieht der erkennende Senat jedoch keinen hinreichenden Grund. Es mag geboten sein, den GdB im Rahmen der Heilungsbewährung relativ großzügig pauschal zu bemessen. Damit wird den im Einzelnen schwer einschätzbaren (auch psychischen) Auswirkungen eines Zustandes nach Primärbehandlung einer bösartigen Geschwulsterkrankung Rechnung getragen. Durchgreifenden Bedenken begegnet es indes, wenn mit einer derartigen Pauschalierung auch abgrenzbare und nennenswerte Schäden an anderen Organen erfasst werden sollen, die nicht immer mit einer derartigen Behandlung verbunden sind. Soweit die Zuerkennung des GdB von 50 bei Menschen, für die der Zustand nach Entfernung eines Tumors keine besonderen Beeinträchtigungen mit sich bringt, im Einzelfall "zu großzügig" erscheint, kann dieser Umstand nicht durch ein extensives Verständnis des Begriffes "Organschaden" und die damit verbundene Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte bzw Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte zu Lasten der Menschen behoben werden, deren Krebsoperation nicht komplikationslos verlaufen ist und Schäden an anderen Organen mit sich gebracht hat. Eine als "zu großzügig" anzusehende GdB-Bewertung der Folgen einer Krebsoperation kann vielmehr nur durch eine weitere Differenzierung bzw Konkretisierung der Regelungen über die Heilungsbewährung erreicht werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R4457


Informationsstand: 02.02.2010