Urteil
Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 - Schwerbehinderteneigenschaft

Gericht:

BSG 9. Senat


Aktenzeichen:

B 9 SB 3/08 R


Urteil vom:

23.04.2009


Terminvorschau und -bericht:

(Nr. 19/09)

Der Kläger begehrt - bislang ohne Erfolg - die Feststellung seiner Schwerbehinderung (GdB 50). Streitig ist insbesondere die Bewertung der Auswirkungen des bei ihm vorliegenden Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) vom Typ I. Im Hinblick auf die "Kommunalisierung" der Versorgungsverwaltung in NRW ist das LSG davon ausgegangen, dass der Rhein-Sieg-Kreis als Beklagter an die Stelle des Landes NRW getreten ist. Die Berufung des Klägers ist zurückgewiesen worden, weil der beim Kläger bestehende Diabetes mellitus nach Maßgabe der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, Ausgabe 2008 (AHP 2008), mit einem GdB von 40 richtig bewertet sei. Mit seiner Revision macht der Kläger geltend: Der Landrat des Rhein-Sieg-Kreises - nicht der Kreis selbst - sei der richtige Beklagte. Sein GdB sei höher zu bewerten, weil bei ihm ein schwer einstellbarer Diabetes mellitus vorliege. Das LSG habe insoweit zu Unrecht den erforderlichen Therapieaufwand unberücksichtigt gelassen.

Die Sache ist an das LSG zurückverwiesen worden. Die Klage richtet sich seit dem 1.1.2008 zu Recht gegen den beklagten Landkreis. Die durch Landesgesetz geregelte Übertragung der Zuständigkeit für die Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX auf den Beklagten ist mit höherrangigem Recht vereinbar. Die Tatsachenfeststellungen des LSG reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob beim Kläger ein GdB von 50 vorliegt. Das LSG hat insoweit noch nicht die vom BSG mit Urteil vom 24.4.2008 (SozR 4-3250 § 69 Nr 9) entwickelten Maßstäbe zur Beurteilung der Auswirkung eines Diabetes mellitus auf die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft berücksichtigt.

Rechtsweg:

SG Köln Urteil vom 23.03.2005 - S 12 SB 353/04
LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 26.2.2008 - L 6 SB 35/05
Zurückverweisung an das LSG

Quelle:

Bundessozialgericht

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 hat, also schwerbehindert ist.

Mit Bescheid vom 8.9.1994 stellte das Land Nordrhein-Westfalen (Versorgungsamt) bei dem Kläger wegen einer insulinpflichtigen Blutzuckerstoffwechselstörung (Diabetes mellitus) einen GdB von 30 fest. Im November 2003 wurde der Kläger mit einer Insulinpumpe versorgt.

Auf einen Änderungsantrag des Klägers stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 17.5. 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster ( Landesversorgungsamt) vom 9.9.2004 den GdB mit 40 fest. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Köln abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 23.3.2005).

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 26.2.2008). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Richtiger Klagegegner sei der Rhein-Sieg-Kreis. Durch einen Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes sei das Land Nordrhein-Westfalen aus dem Verfahren ausgeschieden und durch den Rhein-Sieg-Kreis ersetzt worden. Dieser sei ab dem 1.1.2008 zuständige Behörde zur Wahrnehmung der vormals den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des Schwerbehindertenrechts geworden und nach materiellem Recht auch zur Gewährung oder Verweigerung der vom Kläger begehrten "Leistung" berechtigt. Die dem zugrunde liegenden Normen der §§ 1 und 2 Eingliederungsgesetz Nordrhein-Westfalen seien rechtlich nicht zu beanstanden.

Die Berufung des Klägers sei nicht begründet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lägen keine Behinderungen vor, die die Feststellung des GdB mit 50 rechtfertigten. Der beim Kläger bestehende "Diabetes mellitus Typ I" sei mit einem GdB von 40 auf der Grundlage der Nr 26.15 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP), Ausgabe 2008 (S 99), richtig bewertet. Der Sachverständige habe unter Berücksichtigung der Laborwerte dargelegt, dass die Blutzuckerwerte beim Kläger im Mittel von 8 % als stabil zu bezeichnen seien. Jedenfalls habe man nach der Einstellung mit der Insulindosierpumpe eine gute Einstellbarkeit erreicht. Danach sei es zu den früher gehäuft aufgetretenen ausgeprägten Hypoglykämien nicht mehr gekommen. Hinsichtlich der Einstellbarkeit des Diabetes habe der Kläger zwar einen hohen Aufwand behauptet, diesen jedoch nicht glaubhaft gemacht. Die Blutzuckerwerte lägen zwar nicht im Normbereich, seien jedoch noch als grenzwertig zu bezeichnen und insbesondere nicht schwankend, sondern stabil. Danach könne der Diabetes des Klägers nicht als "schwer einstellbar" eingestuft werden. Das Tragen einer Insulindosierpumpe rechtfertige keinen höheren GdB. Weitere für die Bemessung des GdB bedeutsame Funktionsstörungen lägen nicht vor.

Mit seiner gegen dieses Urteil eingelegten Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Der Rhein-Sieg-Kreis sei der unrichtige Klagegegner. Richtigerweise sei die Klage nach § 70 Nr 3 SGG iVm § 3 Gesetz zur Ausführung des SGG im Lande Nordrhein-Westfalen (AG-SGG NRW) gegen den Landrat des Rhein-Sieg-Kreises zu richten gewesen. Mindestens sei der Landrat gemäß "§ 75 Abs 5" SGG zum Verfahren notwendig beizuladen gewesen.

Unzutreffend sei zudem die vom LSG bestätigte Bewertung des GdB wegen des Diabetes mellitus mit 40. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - sei darauf abzustellen, ob bei den behinderten Menschen nicht nur vorübergehend tatsächlich eine stabile oder instabile Stoffwechsellage bestehe und welcher Therapieaufwand dafür erforderlich sei. Hätte das LSG berücksichtigt, dass neben der Einstellungsqualität (stabile Stoffwechsellage) der erforderliche Therapieaufwand in die Beurteilung einfließen müsse, hätte es die Feststellungen des internistischen Sachverständigen berücksichtigen müssen, dass "ein erheblicher Aufwand mit Disziplin und Diätkenntnissen erforderlich" sei, der beim Kläger gegeben sei. Hätte das LSG dies berücksichtigt, hätte es erkannt, dass der Auffassung des Sachverständigen zum Einzel-GdB in dem Funktionssystem Stoffwechsel lediglich eine rechtlich fehlerhafte Auffassung zum Begriff der Einstellbarkeit des Diabetes zugrunde liege und nach den Feststellungen des Sachverständigen die Voraussetzungen für einen GdB von 50 erfüllt seien.


Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des SG Köln vom 23.3.2005, das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26.2.2008 sowie den Bescheid des Versorgungsamtes Köln vom 17.5. 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.9.2004 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, beim Kläger für die Zeit ab November 2003 einen GdB von 50 festzustellen.


Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er vertritt die Auffassung: Sollte der Rhein-Sieg-Kreis - wie der Kläger geltend mache - nicht beteiligtenfähig sein, müsse die Klage als unzulässig abgewiesen werden. Im Übrigen sei nach allgemeiner Auffassung bei unrichtiger Bezeichnung des Beklagten das Gericht von Amts wegen verpflichtet, eine Berichtigung vorzunehmen. Die Frage, ob hier auf das Rechtsträger- oder das Behördenprinzip abzustellen sei, sei damit für den Ausgang des Rechtsstreits ohne Bedeutung. Auch die gerügte Verletzung des § 75 Abs 5 SGG bestehe nicht. Sofern der Kläger hinsichtlich der Feststellung des GdB rüge, dass die Entscheidung des LSG nicht den Modifizierungen der AHP 2008, die das BSG in seiner Entscheidung vom 24.4.2008 herausgearbeitet habe, entspreche, sei darauf hinzuweisen, dass ein Ergebnis der für notwendig gehaltenen Sachverständigenanhörung bisher nicht vorliege.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.

Die Klage ist, obwohl der angefochtene Bescheid vom Land NRW (Versorgungsamt) erlassen worden ist, jetzt zutreffend gegen den beklagten Kreis gerichtet, denn im Verlauf des Berufungsverfahrens ist es zu einem Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes auf der Beklagtenseite gekommen. § 2 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes NRW (Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW S 482, (EingliederungsG)) hat die den Versorgungsämtern nach den - §§ 69 und 145 SGB IX übertragenen Aufgaben mit Wirkung vom 1.1.2008 auf die Kreise und kreisfreien Städte übertragen. Das LSG hat den Inhalt dieser landesrechtlichen Norm, wie auch den Inhalt der übrigen hier einschlägigen Bestimmungen des EingliederungsG als gemäß § 162 SGG nicht revisibles Recht für das BSG maßgebend festgestellt (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 162 RdNr 7 mwN) . Einwendungen gegen diese Feststellungen des Inhalts des EingliederungsG sind nicht erhoben worden.

Mit der in § 2 Abs 1 EingliederungsG geregelten Zuständigkeitsverlagerung ist ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes (vgl dazu BSG, Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 2/07 R - BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6, jeweils RdNr 13 f, BSG, Beschluss vom 8.5.2007 - B 12 SF 3/07 S - SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4; BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) eingetreten, denn allein der im Lauf des Verfahrens durch die Aufgabenübertragung zuständig gewordene Rechtsträger kann die mit der Klage verfolgten Ansprüche erfüllen. Der Kläger hat dementsprechend seine Klage (s § 99 SGG) schon im Berufungsverfahren gegen den beklagten Kreis gerichtet. Sein die Rechtmäßigkeit der Zuständigkeit des Beklagten bestreitendes Revisionsvorbringen ist in diesem Zusammenhang unerheblich, da die Prüfung der Zulässigkeit der Klage als Prozessvoraussetzung (Leitherer in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 170 RdNr 4a mwN) und damit auch die Frage des richtigen Klagegegners im Revisionsverfahren von Amts wegen zu erfolgen hat.

Die durch Landesgesetz geregelte Übertragung der Zuständigkeit für die Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX auf den Beklagten als Kommune ist mit höherrangigem Recht, insbesondere den Vorschriften des Grundgesetzes (GG) vereinbar. Gesetzliche Zuständigkeitsregel ist § 69 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGB IX, wonach die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes ( BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB sowie die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen feststellen. Seit dem 1.1. 2008 sind in NRW die Landschaftsverbände für die Durchführung des BVG zuständig. Diese durch § 4 Abs 1 EingliederungsG erfolgte Übertragung der Zuständigkeit ist ihrerseits mit höherrangigem Recht vereinbar. Dies hat der erkennende Senat durch die Urteile vom 11.12.2008 (B 9 VS 1/08 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, sowie - B 9 V 3/07 R - ) entschieden und eingehend begründet.

Allerdings erzwingen es § 69 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGB IX nicht, dass in NRW die Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX nunmehr von den Landschaftsverbänden wahrgenommen werden müssen. Denn nach § 69 Abs 1 Satz 7 SGB IX kann durch Landesrecht die Zuständigkeit abweichend von Satz 1 - des § 69 Abs 1 - geregelt werden. Das ist durch § 2 Abs 1 EingliederungsG geschehen, der die bisher den Versorgungsämtern nach den §§ 69 und 145 SGB IX übertragenen Aufgaben mit Wirkung vom 1.1.2008 auf die Kreise und kreisfreien Städte übertragen hat.

§ 2 Abs 1 EingliederungsG steht im Einklang mit der Kompetenzordnung des GG. Wie die Kriegsopferversorgung selbst (s BSG, Urteile vom 11. 12.2008, aaO) führen die Länder auch die Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX als eigene Angelegenheit iS des Art 83, 84 GG. Auch bei den Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX handelt es sich nicht um Bundesauftragsverwaltung nach Art 85 Abs 1 GG nF iVm Art 104a Abs 3 GG nF. Nach letztgenannter Vorschrift wird ein Gesetz im Auftrag des Bundes ausgeführt, wenn es als Bundesgesetz, das Geldleistungen gewährt, bestimmt, dass der Bund die Hälfte der Ausgaben oder mehr trägt. Die Ausführung der §§ 69, 145 SGB IX verursacht indes allein Personal- und Sachkosten. Geldleistungen werden auf der Grundlage dieser Bestimmungen des SGB IX nicht gewährt. Die in den §§ 145 ff SGB IX geregelte unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr ist nicht mit Geldleistungen an die Berechtigten verbunden. Sie ist, da der Anspruch gemäß § 145 Abs 1 Satz 2 SGB IX durch die Ausgabe von Wertmarken erfüllt wird, als Sachleistung anzusehen (zum Begriff des Geldleistungsgesetzes s Pieroth in Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl 2007, Art 104a RdNr 5 mwN) . Auch soweit anstelle der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr durch Halter von Personenkraftwagen die Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer in Anspruch genommen wird, handelt es sich nicht um eine Geldleistung. Die Steuerermäßigung wird zudem nicht aufgrund des § 145 SGB IX gewährt. Ihre gesetzliche Grundlage ist vielmehr § 3a Kraftfahrzeugsteuergesetz (neu gefasst durch Bekanntmachung vom 26.9. 2002, BGBl I 3818).

Wie bei der Übertragung der Aufgaben der Kriegsopferversorgung auf die Landschaftsverbände ist auch bei der Übertragung der Aufgaben nach §§ 69, 145 SGB IX auf die Kreise und kreisfreien Städte sichergestellt, dass die Aufsichtsrechte des Bundes (Art 84 Abs 3 und 4 GG nF) gewahrt sind, denn auch diese Aufgaben sind durch § 2 Abs 2 EingliederungsG als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen (s BSG, Urteile vom 11.12.2008, aaO).

In der hier zu beurteilenden Aufgabenübertragung liegt ebenfalls kein Verstoß gegen Art 28 Abs 2 GG (Garantie der kommunalen Selbstverwaltung). Insoweit ergeben sich keine Abweichungen zur Übertragung der Aufgaben der Kriegsopferversorgung (s dazu BSG, Urteile vom 11.12.2008, aaO) . Auch hinsichtlich der für die Ausführung der §§ 69, 145 SGB IX allein anfallenden Personal- und Sachkosten hat § 23 EingliederungsG einen Belastungsausgleich zugunsten der Kreise und kreisfreien Städte vorgesehen.

Wie § 4 Abs 1 EingliederungsG kollidiert schließlich auch dessen § 2 Abs 1 nicht mit der bundesgesetzlichen Vorschrift des § 71 Abs 5 SGG (s dazu BSG, Urteile vom 11. 12.2008, aaO).

Der beklagte Kreis ist gemäß § 70 Nr 1 2. Alt SGG als juristische Person fähig, am sozialgerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein. Seine Prozessfähigkeit ergibt sich aus § 71 Abs 3 SGG; er wird in Rechts- und Verwaltungsgeschäften durch den Landrat gesetzlich vertreten (§ 42 Buchst e Kreisordnung Nordrhein-Westfalen idF vom 14.7.1994, zuletzt geändert durch Gesetz vom 9.10.2007, GVBl NRW 380, dessen Inhalt der Senat als Landesrecht feststellen darf, weil sich das LSG mit dieser Vorschrift nicht befasst hat, s Leitherer in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG Komm, 9. Aufl 2008, § 162 RdNr 7b mwN) . Entgegen dem Revisionsvorbringen ist der beklagte Kreis als Rechtsträger zu Recht selbst am Verfahren vor dem BSG beteiligt. Zwar verleiht § 70 Nr 3 SGG auch Behörden die Fähigkeit, am Verfahren beteiligt zu sein, sofern das Landesrecht dies bestimmt, und zwar für Landesbehörden (BSG, Beschluss vom 28.10.1994 - 9 RV 17/94 - SozR 1500 § 75 Nr 23) . Zudem mögen in NRW aufgrund von landesrechtlichen Vorschriften Behörden (zum Behördenbegriff s zuletzt BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 11 RdNr 11) fähig sein, am sozialgerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein (s § 3 AG-SGG NRW vom 8.12.1953, GVBl NRW S 412, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 14.12.1989, GVBl NRW S 678) . Indes verliert der Beklagte als Träger einer dergestalt berechtigten Behörde dadurch selbst seine Beteiligtenfähigkeit nicht. Er kann alternativ verklagt werden ( Wagner in Hennig, SGG Komm, Stand 2/09, § 70 RdNr 30; Zeihe, SGG Komm, Stand 11/08, § 70 RdNr 8b) . In Übereinstimmung damit hatte der Kläger schon die Berufung nicht gegen den Landrat, sondern gegen den Rhein-Sieg-Kreis selbst gerichtet.

Die Rüge einer Verletzung des "§ 75 Abs 5 SGG" durch den Kläger geht ins Leere, denn diese Vorschrift, die die Möglichkeit der Verurteilung Beigeladener in bestimmten Angelegenheiten regelt, ist hier ersichtlich nicht einschlägig. Sofern der Kläger zugleich sinngemäß die Verletzung des § 75 Abs 2 SGG ( notwendige Beiladung) gerügt hat, ist diese Rüge unbegründet. Diese Bestimmung schreibt unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen die Beiladung "Dritter" oder eines "anderen Versicherungsträgers" vor. Der Landrat ist indes im Verhältnis zum beklagten Kreis offensichtlich nicht Dritter, sondern - wie erwähnt - dessen gesetzlicher Vertreter bzw mag durch landesrechtliche Ermächtigung als Behörde für den Beklagten handeln.

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, denn der Senat kann aufgrund der bisherigen tatsächlichen Feststellungen nicht abschließend über die Klage, also darüber entscheiden, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 hat.

Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von 50 ist § 69 Abs 1 und 3 SGB IX für die Zeit ab 1.5.2004 idF des Gesetzes vom 23.4. 2004 (BGBl I 606), und zwar eingebettet in das auf § 48 Abs 1 SGB X beruhende Verschlimmerungsantragsverfahren. Nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 2 Satz 3 SGB IX (ab 1.5.2004: Satz 4) die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gemäß § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX (ab 1.5.2004: Satz 5) gelten die im Rahmen des § 30 Abs 1 BVG festgelegten Maßstäbe entsprechend (zu den Folgen dieser Verweisung s BSG, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - RdNr 22 mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, SGb 2009, 168) . Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Mit seinem Urteil vom 24.4.2008 (aaO) hat der erkennende Senat nach Beweisaufnahme zu den allgemeinen medizinischen Erkenntnissen über die Auswirkungen des Diabetes mellitus auf die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft entschieden, dass die diese Krankheit betreffenden Nr 26.15 der AHP 1996 und 2004 nur mit gewissen Maßgaben dem höherrangigen Recht und dem Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht. Bei der dort behandelten GdB-Bewertung ist neben der Einstellungsqualität auch der Therapieaufwand zu berücksichtigen, soweit er sich auf die Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft nachteilig auswirkt. Der GdB wird relativ niedrig anzusetzen sein, wenn mit geringem Therapieaufwand eine ausgeglichene Stoffwechsellage erreicht wird. Mit (in beeinträchtigender Weise) wachsendem Therapieaufwand und/oder abnehmendem Therapieerfolg (instabilerer Stoffwechsellage) wird der GdB höher einzuschätzen sein. Dabei sind jeweils - im Vergleich zu anderen Behinderungen - die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in Betracht zu ziehen (aaO, RdNr 40) . Dagegen kommt es für die GdB-Bewertung auf die Unterscheidung nach dem Typ I und dem Typ II des Diabetes mellitus nicht an (aaO, RdNr 36) . Angesichts dieser Entscheidung des BSG ist der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Versorgungsmedizin" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) inzwischen in eine erneute Expertenanhörung eingetreten und empfiehlt bis zur abschließenden Klärung die Anwendung der folgenden Tabelle (s Rundschreiben des BMAS vom 22.9.2008 - IV C 3-48064-3 - an die zuständigen obersten Landesbehörden):

Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)

mit Diät allein (ohne blutzuckerregulierende Medikamente) 0

mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung nicht erhöhen 10

mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung erhöhen 20

unter Insulintherapie, auch in Kombination mit anderen blutzuckersenkenden Medikamenten, je nach Stabilität der Stoffwechsellage (stabil oder mäßig schwankend) 30-40

unter Insulintherapie instabile Stoffwechsellage einschließlich gelegentlicher schwerer Hypoglykämien 50

Häufige, ausgeprägte oder schwere Hypoglykämien sind zusätzlich zu bewerten.

Schwere Hypoglykämien sind Unterzuckerungen, die eine ärztliche Hilfe erfordern.

Diese vorläufige Neufassung der AHP hat die Nr 26.15 der AHP in den Ausgaben seit 1996 ersetzt, die Gegenstand des Senatsurteils vom 24.4.2008 (aaO) waren. Allerdings ist sie wie die Fassungen der AHP seit 1996 nicht abschließende Grundlage der Beurteilung des GdB, denn sie erfasst den aufgrund § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX zwingend zu berücksichtigenden Therapieaufwand nicht (s BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a SB 4/07 R -).

Seit dem 1.1.2009 ist die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs 1 und des § 35 Abs 1 BVG vom 10.12.2008 (BGBl I 2412 (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -)) in Kraft, die aufgrund der Bezugnahme in § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX auch für das Verfahren der Feststellung einer Behinderung und des GdB gilt. Diese aufgrund des § 30 Abs 17 BVG durch das BMAS im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung erlassene Rechtsverordnung ersetzt nunmehr die bis dahin der Rechtsanwendung zugrunde liegenden AHP. Als Rechtsverordnung bindet sie Verwaltung und Gerichte.

In Teil B Nr 15 der VersMedV finden sich die Regelungen zur Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen bzw des GdB bei Störungen des Stoffwechsels sowie der inneren Sekretion. Der Diabetes mellitus ist konkret in der Nr 15.1 des Teils B erfasst. Der dortige Abschnitt ist im Wortlaut identisch mit der (oben zitierten) vorläufigen Neufassung der AHP 2008 durch das Rundschreiben des BMAS vom 22.9.2008 (IV C 3.48064-3-) , sodass nach wie vor allein die Einstellungsqualität des Diabetes und - noch - nicht ein die Teilhabe beeinträchtigender Therapieaufwand berücksichtigt ist.

Obgleich es sich bei der VersMedV um eine Rechtsverordnung und damit eine untergesetzliche Rechtsnorm handelt, bindet sie in diesem speziellen Fall die Rechtsanwender nicht, denn sie verstößt gegen § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX. Der medizinisch notwendige Aufwand für die Therapie einer Dauererkrankung wie des Diabetes mellitus kann je nach Art und notwendigen Zeitaufwand "Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" haben. In diesem Fall ist er gesetzlich zwingend zu berücksichtigen.

Da es sich bei der VersMedV um eine untergesetzliche Rechtsnorm handelt, ist das BSG nicht nur befugt, inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - hier § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX - festzustellen. Das Gericht ist anders als bei formellen Gesetzen (s Art 100 Abs 1 GG) auch berechtigt, die Rechtswirkungen dieses Verstoßes gegen das höherrangige Recht festzustellen und den Einzelfall danach unmittelbar zu entscheiden (s BVerfGE 1, 184, 189 ff, 201; 17, 208, 210; 23, 276, 286). Gegen höherrangiges Recht verstoßende Rechtsnormen sind rechtswidrig und, anders als etwa Verwaltungsakte, die nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 40 SGB X nichtig sind, nichtig. Allerdings führt die Nichtigkeit einer oder mehrerer Vorschrift(en) einer Rechtsverordnung nicht stets zur Nichtigkeit der gesamten Verordnung. Nach den Grundsätzen der Teilnichtigkeit von Rechtsgeschäften (§ 139 BGB) ist bei Nichtigkeit einer einzelnen Vorschrift die Rechtsverordnung insgesamt nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass sie auch ohne den nichtigen Teil erlassen worden wäre. Das ist indes hier nicht der Fall. Da die VersMedV den gesamten Bereich dauerhafter, die Teilhabe beeinträchtigender Erkrankungen des Menschen erfasst bzw erfassen will, muss angenommen werden, dass sie auch ohne die in Teil B Nr 15.1 enthaltenen Normierungen zum Diabetes mellitus erlassen worden wäre. Von der hier getroffenen Entscheidung bleiben daher die übrigen Vorschriften dieser Rechtsverordnung unberührt.

Bis zu einer mit § 69 Abs 2 Satz 3 und 4 SGB IX in Einklang stehenden Neufassung der Bestimmungen über den Diabetes mellitus ist dieser Bereich durch Verwaltung und Gerichte nach den Grundsätzen des Urteils des erkennenden Senats vom 24.4. 2008 (aaO) zu prüfen und zu entscheiden.

Aufgrund der derzeit vorliegenden tatsächlichen Feststellungen des LSG kann indes nicht abschließend beurteilt werden, ob der Gesamt-GdB des Klägers mit 50 zu bemessen ist. Abgesehen davon, dass die bisherigen Prüfungen durch den Beklagten und die Instanzgerichte sich an den nicht mehr anwendbaren Fassungen der Nr 26.15 der AHP 2004 und 2008 - insbesondere an der dort noch getroffenen Differenzierung nach Typ I und Typ II - orientiert haben und sich an der VersMedV - wegen des dort nicht berücksichtigten Kriteriums des Therapieaufwands - insoweit allein nicht orientieren dürfen, fehlen ausreichende Feststellungen des LSG zu Art und etwaigen Besonderheiten des Diabetes des Klägers. Das LSG ist davon ausgegangen, dass es sich um einen Diabetes Typ I handelt, und hat untersucht, ob dieser Diabetes "gut" oder "schwer" einstellbar ist. Mit den Folgen des Tragens einer Insulindosierpumpe durch den Kläger hat sich das LSG zwar im Rahmen dieser Prüfung beschäftigt, es aber - aus seiner damaligen Sicht konsequent - unterlassen, die entsprechenden Folgen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt des Therapieaufwandes zu prüfen. Diese Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Referenznummer:

R/R4362


Informationsstand: 27.10.2009