Der 1970 geborene Kläger leidet seit seiner Kindheit an hochgradiger Schwerhörigkeit und einer daraus resultierenden Sprachentwicklungsstörung.
Mit Bescheid vom 8. Februar 1977 hat der Beklagte als Behinderung "Hör- und Sprachstörungen" und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche wegen Hilflosigkeit (Merkzeichen H), erheblicher Gehbehinderung (Merkzeichen G) und wegen der Erforderlichkeit ständiger Begleitung (Merkzeichen B) festgestellt. Im Juli 1988 schloß der Kläger die Gehörlosenschule ab.
Mit Bescheid vom 4. November 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 1989 stellte der Beklagte als Behinderung nunmehr "Gehörlosigkeit" mit einem Grad der Behinderung (
GdB) von 100 fest. Zugleich hob er die Feststellung der Voraussetzungen für die bisher anerkannten Merkzeichen H, G und B wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse auf. Laut einem in dem Bescheid enthaltenen Hinweis war allerdings der Ausweis mit den entzogenen Merkzeichen erst bei Unanfechtbarkeit dieses Bescheides zurückzugeben. In der Folgezeit verlängerte der Beklagte den Ausweis wiederholt bis mindestens zum Januar 1996. Vom September 1988 bis Juli 1992 durchlief der Kläger eine Ausbildung zum technischen Zeichner.
Die gegen die Entziehung der Merkzeichen H, G und B gerichtete Klage hatte im ersten Rechtszug im wesentlichen
Erfolg. Mit Urteil vom 5. Oktober 1993 verpflichtete das Sozialgericht (SG) den Beklagten, die Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B weiterhin und für das Merkzeichen H bis zum Abschluß der formellen Ausbildung zum technischen Zeichner im Juli 1992 festzustellen. Das Landessozialgericht (
LSG) hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG hinsichtlich der Merkzeichen G und B aufgehoben und die auf unbefristete Belassung des Merkzeichens H gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Eine Störung der Orientierungsfähigkeit in einem Maß, welches die Erteilung des Merkzeichens G rechtfertigen könne, liege nach den Anhaltspunkten nur bis zum Ende der Gehörlosenschule vor. Im übrigen hätten die vom SG gehörten Sachverständigen das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen verneint. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen B lägen ebenfalls nicht vor, da der Kläger im Regelfall ohne Begleitperson auskomme.
Soweit in unvorhergesehenen Situationen bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel die Kommunikation mit Dritten erforderlich sei, könne sich der Kläger durch Handzettel unterrichten lassen. Hilflosigkeit über den Juli 1992 hinaus liege nicht vor, weil der durch Gehör- und Sprachlosigkeit bedingte Kommunikationsmangel einen Mehraufwand nur bis zum Abschluß einer förmlichen Berufsausbildung verursache.
Mit der Revision wird eine Verletzung des § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (
SGB X) gerügt.
Er, der Kläger, sei während der gesamten Dauer der - noch nicht abgeschlossenen - beruflichen Integrationsphase als hilflos anzusehen, nicht nur während einer förmlichen Ausbildung. Auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen B lägen entgegen den Feststellungen des
LSG weiterhin vor. Er sei in besonderen Situationen bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf Orientierungshilfen Dritter angewiesen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfülle er als Gehörloser bereits kraft Gesetzes ("§ 59 Abs 1
iVm § 60 Abs 1" Schwerbehindertengesetz (
SchwbG)). Auch das habe das
LSG verkannt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11.April 1995 zu ändern, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 5. Oktober 1993 zurückzuweisen sowie den Bescheid vom 4.November 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 1989 unter Abänderung des sozialgerichtlichen Urteils hinsichtlich des Merkzeichens H in vollem Umfange aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Revision ist uneingeschränkt zulässig (§ 160 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)). Zwar hat das
LSG die Zulassung der Revision in den Entscheidungsgründen nur darauf gestützt, daß der Rechtsstreit hinsichtlich des Merkzeichens H grundsätzliche Bedeutung (vgl § 160 Abs 2 Nr 1
SGG) habe. Daraus allein kann aber keine Beschränkung der Revisionszulassung hergeleitet werden (Bundessozialgericht (
BSG) SozR 3-1300 § 16 Nr 1; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 24; Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, RdNr 51 mwN).
Maßgeblich ist in der Regel der Tenor des angefochtenen Urteils. Aus ihm ergibt sich hier keine Einschränkung der Revisionszulassung.
Die Revision ist nur hinsichtlich des Merkzeichens H begründet.
Nach § 48 Abs 1 Satz 1
SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bei den Feststellungsbescheiden nach dem
SchwbG handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (BSGE 60, 287, 290 = SozR 1300 § 48 Nr 29 für Feststellung des
GdB-Grades;
BSG SozR 1300 § 48 Nr 13 für die Feststellung der Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche; vgl ferner BSGE 67, 204, 210 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 1, S 7 f). § 48 Abs 1 Satz 1
SGB X kann daher auch auf derartige Bescheide angewandt werden (vgl dazu § 4 Abs 1 Satz 2
SchwbG).
1. Hinsichtlich des Merkzeichens H ist die Revision des Klägers schon aus formellen Gründen erfolgreich, ohne daß es auf die Frage ankommt, ob die materiellen Voraussetzungen dieses Merkzeichens über den 31. Juli 1992 hinaus zu bejahen sind.
Für die Beurteilung einer reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 1. Alternative
SGG) ist in der Regel maßgeblich, ob der angefochtene Verwaltungsakt bei seinem Erlaß der Sach- und Rechtslage entsprochen hat ( BSGE 5, 246, 247; 15, 127, 131; vgl Meyer-Ladewig,
SGG, 5. Aufl, RdNr 32 mwN; Kummer, Das sozialgerichtliche Verfahren, 1996, RdNr 83 mwN). Ein anderer Zeitpunkt ist allerdings bei einer Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - etwa einen Beitrags- oder einen Umlagebescheid (Meyer-Ladewig aaO; BSGE 61, 203, 205 = SozR 4100 § 186a Nr 21; BSGE 69, 255, 257 = SozR 1300 § 48 Nr 18; auch BVerwGE 92, 32, 35 ff) zugrundezu legen. Die gerichtliche Nachprüfung richtet sich in diesen Fällen nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz. Wie das
BSG bereits mehrfach entschieden hat, ist indessen der Bescheid, mit dem - wie hier - ein begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung wegen ursprünglicher Unrichtigkeit (§ 45
SGB X) oder wegen einer Änderung der Verhältnisse zu Lasten des Begünstigten (§ 48 Abs 1 Satz 1
SGB X) aufgehoben wird, selbst kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (vgl Steinwedel, Kasseler Komm RdNr 21 zu § 45
SGB X;
BSG SozR 1300 § 45 Nr 5 S 8 mwN). Die Begründetheit einer gegen einen derartigen Aufhebungsbescheid gerichteten Anfechtungsklage beurteilt sich daher nicht nach dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, sondern nach dem Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (so insbesondere der 2. Senat SozR 3-1500 § 54 Nr 18; ferner der erkennende Senat in SozR 3- 3870 § 4 Nr 5 S 25; vgl auch die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom 15. August 1996 - 9 RVs 10/94 -).
An diesem Ergebnis ändert nichts der Umstand, daß der Beklagte dem Kläger die Vorteile aus dem Bescheid vom 8.
Februar 1977 (Nachweis der Merkzeichen H, G und B durch entsprechenden Ausweis) bis heute belassen hat. Allerdings läuft dies in seinen praktischen Auswirkungen auf eine Aussetzung des Vollzugs des Aufhebungsbescheides vom 4. November 1988 hinaus (vgl dazu § 86 Abs 3 und § 97 Abs 2
SGG), die wiederum ähnliche Rechtswirkungen erzeugt wie die kraft Gesetzes eintretende aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs (vgl dazu §§ 86 Abs 2, 97 Abs 1
SGG; für das Schwerbehindertenrecht auch § 38 Abs 1
SchwbG). Für derartige noch nicht vollzogene Aufhebungsbescheide ist der für das Kassenarztrecht zuständige 6. Senat des
BSG in ständiger Rechtsprechung (vgl BSGE 7, 129, 135; 15, 161, 168 = SozR Nr 4 zu § 368n RVO; 33, 161, 163 = SozR Nr 35 zu § 368a RVO; 73, 234, 236 = SozR 3-2500 § 95 Nr 4) davon ausgegangen, daß die gerichtliche Überprüfung die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zu berücksichtigen habe. Diese Rechtsprechung ist jedoch auf den Bereich des kassenärztlichen Zulassungsrechts zugeschnitten und nicht zu verallgemeinern (so aber Meyer-Ladewig aaO; Bley Gesamtkomm Anm 7c zu § 54
SGG; auch - obiter - 2. Senat des
BSG in SozR 3- 1500 § 54 Nr 18). Im Kassenarztrecht mag es geboten erscheinen, bei der Entscheidung über eine bisher nicht vollzogene Entziehung der Kassenzulassung, die während des gerichtlichen Überprüfungsverfahrens eingetretenen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, weil die Entziehung in diesen Fällen in die grundrechtlich geschützte Position (vgl Art 12
GG) des Kassenarztes eingreift und dem Betroffenen - auch wenn er aufgrund der während des Gerichtsverfahrens eingetretenen Änderungen umgehend wieder zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen werden muß - irreparable Schäden zufügen kann.
Auf den Bereich des Schwerbehindertenrechts lassen sich diese Gesichtspunkte nicht übertragen. Denn hier kann der Sach- und Rechtsstand zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens ohne gravierende Nachteile für die Behörde und den Betroffenen zugrunde gelegt werden. Sollte nämlich die Entziehung erst zu einem nach dem Abschluß des Verwaltungsverfahrens liegenden Zeitpunkt gerechtfertigt sein, so genießt der Behinderte zunächst weiter die Vorteile des begünstigenden Verwaltungsaktes (hier: der Nachteilsausgleiche), und die Behörde kann nach Verfahrensabschluß die Entziehung mit Wirkung für die Zukunft wiederholen. Sind dagegen die Voraussetzungen der Begünstigung zum Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes entfallen und werden sie im Laufe des Gerichtsverfahrens wieder erfüllt, so hat der Beklagte dem Behinderten noch während des Gerichtsverfahrens oder im Anschluß daran auf dessen Antrag die verlorengegangene Rechtsstellung - notfalls rückwirkend - wieder einzuräumen (§ 48 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 Nr 1
SGB X), ohne daß die Wiedereinräumung des Status - wie im Kassenarztrecht - an zwischenzeitlich eingetretenen Tatsachen (etwa einer geänderten Bedarfslage oder einer negativen Entwicklung der wirtschaftlichen Situation des von Zulassungsentziehung betroffenen Arztes) scheitern kann. Ferner ist es im Schwerbehindertenrecht schon deshalb geboten, bei der Beurteilung einer isolierten Anfechtungsklage gegen einen Entziehungsbescheid nach § 48
SGB X die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens zugrunde zu legen, weil anders behauptete oder während des Gerichtsverfahrens tatsächlich eingetretene Änderungen in den gesundheitlichen Verhältnissen des Behinderten zu immer neuen Ermittlungen (vgl § 103
SGG) Anlaß gäben und den Abschluß des Gerichtsverfahrens in zahlreichen Fällen erheblich verzögern würden. Dies wäre aus prozeßökonomischen Gründen bedenklich, würde oft zu einer Unübersichtlichkeit des Prozeßstoffes führen und brächte auch für die Versorgungsverwaltung unvertretbare Nachteile mit sich. So hat denn auch der Senat in der bereits zitierten Entscheidung vom 15. August 1996 (Az 9 RVs 10/94) - trotz der in § 38 Abs 1
SchwbG enthaltenen Aufschubsregelung - Änderungen in den Verhältnissen, die während einer Anfechtungsklage gegen die Aufhebung eines die Schwerbehinderung feststellenden Bescheides eingetreten waren, grundsätzlich für rechtlich unbeachtlich angesehen und hiervon nur wegen bestimmter, der nicht vorliegender verfahrensrechtlicher Besonderheiten eine Ausnahme zugelassen.
Maßgeblich für die Beurteilung der vom Kläger erhobenen Anfechtungsklage ist somit die Sach- und Rechtslage, die bei Abschluß des Widerspruchsverfahrens im Juli 1989 gegeben war. Zu diesem Zeitpunkt nahm der Kläger noch an der Ausbildung zum technischen Zeichner teil und war daher in Anwendung der im Urteil vom 23. Juni 1993 - 9/9a RVs 1/91 - (BSGE 72, 285 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6) entwickelten Rechtsgrundsätze als "hilflos" iS von § 33b Einkommensteuergesetz (EStG) anzusehen (vgl ferner RdSchr des Bundesarbeitsministeriums (BMA) vom 27. April 1994, BABl 6/1994 S 69; s auch die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom heutigen Tage 9 RVs 9/95).
Die Bescheide von November 1988 und Juli 1989 gehen demgegenüber zu Unrecht davon aus, daß die Voraussetzungen
für das Merkzeichen H bereits zu diesem Zeitpunkt entfallen waren und dem Kläger deshalb der Nachteilsausgleich entzogen werden konnte. Aber auch die Vorinstanzen haben die Rechtslage verkannt. Sie durften - weil es hier allein auf die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse beim Abschluß des Verwaltungsverfahrens ankommt - nicht darauf abstellen, daß der Kläger im Juli 1992 seine Ausbildung abgeschlossen hat. Die angefochtenen Urteile waren daher zu ändern, soweit sie die Entziehung des Merkzeichens H bestätigen.
2. Soweit die Beteiligten dagegen über die Entziehung des Merkzeichens G streiten, hat die Revision des Klägers keinen Erfolg.
Ihm steht dieser Nachteilsausgleich nicht schon - wie er meint - aufgrund der Regelung in § 59 Abs 1
iVm § 60 Abs 1
SchwbG zu. Denn in diesen Bestimmungen wird Gehörlosen nicht automatisch ein Anspruch auf Erteilung des Merkzeichens G eingeräumt. Zwar sind Gehörlose schon durch das Gesetz vom 18. Juli 1985 (BGBl I S 1516) mit Wirkung zum 1. Oktober 1985 bezüglich der Rechtsfolgen Personen gleichgestellt worden, denen das Merkzeichen G zusteht. Die Gleichstellung ist aber gerade nicht in der Weise erfolgt, daß ihnen Anspruch auf Erteilung des Merkzeichens G verschafft wurde, sondern im Wege der Einräumung gleichartiger Nachteilsausgleiche, insbesondere des Anspruchs auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr. Damit sollten vor allem die Kontakte der Gehörlosen untereinander erleichtert werden (vgl BT-Drucks 10/3218 S 7). Die Freifahrtberechtigung bei Gehörlosen hängt, wie sich aus § 57 Abs 1 Satz 1
SchwbG idF des Gesetzes vom 18. Juli 1985 ( entspricht im wesentlichen heute § 59 Abs 1 Satz 1
SchwbG) ergibt, gerade nicht davon ab, daß ihre Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Auch sind ihnen seinerzeit nicht alle mit der Erteilung des
Merkzeichens G verbundenen Nachteilsausgleiche zugestanden worden, zB nicht automatisch die steuerrechtlichen Vorteile des § 9 Abs 2 Satz 1 Nr 2 EStG 85 (erhöhte Werbungskosten für die Benutzung eines eigenen PKW zur Erreichung des Arbeitsplatzes). Der nach § 3 Abs 4
SchwbG in der hier maßgeblichen Fassung vom 14. Juni 1976 (BGBl I S 1481) ergangene Bescheid vom 8. Februar 1977 (Ursprungsbescheid) entsprach - wie unter den Beteiligten auch nicht streitig ist - der seinerzeitigen Sach- und Rechtslage, dh der Kläger war damals in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt bzw erheblich gehbehindert. Zu Recht ist das
LSG von einer wesentlichen Änderung der für die Erteilung des Merkzeichens G maßgeblichen Verhältnisse bis zum Abschluß des Verwaltungsverfahrens (Juli 1989) ausgegangen. Diese ist allerdings in zweierlei Hinsicht eingetreten: Zunächst haben sich die rechtlichen Verhältnisse und sodann die tatsächlichen Verhältnisse geändert.
Die Rechtsentwicklung seit Anfang 1977 verlief wie folgt:
Der Erteilung des Merkzeichens G lag seinerzeit noch Abschn
IV ("besondere Eintragungen") Unterabschn (3) ("Merkzeichen G") der vom BMA herausgegebenen "Richtlinien über Ausweise für Schwerbeschädigte und Schwerbehinderte (Stand: Januar 1977)" - veröffentlicht in der Beilage zum Heft 3 bis 4/77 des BVBl - zugrunde. Danach erfüllte die Voraussetzungen für die dort genannten, verstreut geregelten Nachteilsausgleiche, "wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden". Diese Gesichtspunkte fanden ab 1. Oktober 1979 Eingang in das
SchwbG (vgl § 58 Abs 1 Satz 1
SchwbG idF des Gesetzes vom 9. Juli 1979 - BGBl I S 989 - und § 60 Abs 1 Satz 1
SchwbG in der seit 1. August 1986 geltenden Fassung des Gesetzes vom 24. Juli 1986 - BGBl I S 1110). Außerdem hatte der BMA mit RdSchr vom 22. Dezember 1976 (BVBl 1977, S 15 f) Grundsätze für die "Versorgungsärztliche Begutachtung nach dem
SchwbG; Beurteilung von behinderten Kindern" herausgegeben, die dann im November 1977 Eingang in die "Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem
SchwbG, Stand 1977" (
AHP 1977) fanden. In Nr 6 Abs 4 Buchst d der
AHP 1977 war "bei Taubheit und an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit ... Hilflosigkeit nach Vollendung des ersten Lebensjahres ... und dann in der Regel bis etwa zum 16. Lebensjahr (Beendigung der Gehörlosenschule) anzunehmen". Unter den im wesentlichen gleichen Voraussetzungen sah seit November 1983 schließlich RdNr 30 Abs 5
AHP 1983 die Anerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen G vor. Nach dieser Bestimmung war bei Hörbehinderungen die Annahme von Störungen der Orientierungsfähigkeit bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindesalter ( in der Regel bis zum 16. Lebensjahr - Beendigung der Gehörlosenschule) ohne weiteres, danach aber nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktionen (zB Sehbehinderung, geistige Behinderung) gerechtfertigt. Auch die Aufnahme dieses - bis jetzt nicht geänderten - Passus in die "Anhaltspunkte" ist im Ergebnis als Änderung der rechtlichen Verhältnisse zu beurteilen (vgl Entscheidungen des Senats in SozR 3870 § 4 Nr 3, SozR 3-3870 § 3 Nr 5 und BSGE 72, 285, 286 f = SozR 3- 3870 § 4 Nr 6; Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in SozR 3-3870 § 3 Nr 6). Der Bescheid vom 8. Februar 1977 war nach § 48 Abs 1 Satz 1
SGB X (Änderung der rechtlichen Verhältnisse) fortan nach diesen rechtlichen Vorgaben zu beurteilen, da der Kläger, der seinerzeit noch die Gehörlosenschule besuchte und nicht das 16. Lebensjahr vollendet hatte, im November 1983 die Voraussetzungen dieser Neuregelung erfüllte.
Die sonach maßgeblich gewordenen tatsächlichen Verhältnisse hatten sich bei Abschluß des Verwaltungsverfahrens über die Entziehung des Nachteilsausgleichs G wesentlich geändert. Der Kläger war zu diesem Zeitpunkt (Juli 1989) über 16 Jahre alt und hatte die Gehörlosenschule beendet. Daß bei ihm damals einer der in RdNr 30 Abs 5 Satz 2 genannten Ausnahmefälle ( Sehbehinderung, geistige Behinderung) vorlag oder aber eine in den sonstigen Absätzen der RdNr 30
AHP 1983 genannte Beeinträchtigung bestanden hätte, ergibt sich weder aus den für den Senat bindenden (§ 163
SGG) Tatsachenfeststellungen des
LSG noch behauptet die Revision dies.
Die eingetretene Änderung der Verhältnisse ist auch nicht deswegen unbeachtlich, weil die zum Merkzeichen G in den
AHP 1983 aufgestellten Kriterien unzureichend und daher mit Rücksicht auf höherrangige Normen einer Korrektur zu unterziehen wären, wie das der Senat in der Entscheidung vom 23. Juni 1993 (BSGE 72, 285 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6) zu den zum Merkzeichen H ergangenen
AHP entschieden hat. Denn es besteht kein Grund für die Annahme, daß sich die in RdNr 30 Abs 5
AHP 1983 für die Erteilung des Merkzeichens G an Gehörlose aufgestellten Kriterien als unzureichend erwiesen hätten, etwa weil bei diesem Personenkreis aufgrund typischer Funktionsbeeinträchtigungen, insbesondere beeinträchtigter Kommunikationsfähigkeit, jedenfalls während der Fortsetzung der Ausbildung nach Abschluß der Gehörlosenschule weiterhin vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G auszugehen wäre. Eine solche Annahme wäre dann gerechtfertigt, wenn sich bei Gehörlosen in aller Regel die Störung der Kommunikationsfähigkeit auf ihre Orientierungs- und damit auch ihre Gehfähigkeit auswirken würde. Davon kann aber nicht ausgegangen werden. In seiner Entscheidung vom 23.Juni 1993 (aaO) hat der Senat maßgeblich darauf abgestellt, daß die tiefgreifenden Kommunikationsstörungen, an der Gehörlose typischerweise leiden, sich insbesondere in der Ausbildung auswirken, weil Wahrnehmung, Erkenntnis und Lernen durch die Sprache vermittelt und gesteuert werden.
Für die Zurücklegung von Wegen gilt dies aber nicht im gleichen Umfang. Für die gewöhnlichen und eingeübten Wege, welche nach der allgemeinen Lebenserfahrung die Mehrzahl der zurückzulegenden Wegstrecken ausmachen, ist eine Kommunikation nur im Ausnahmefall erforderlich. Aber auch für die Fälle, in denen früh ertaubte, aber des Lesens und Schreibens kundige Gehörlose unbekannte Wege erstmalig zurückzulegen haben, ist nicht davon auszugehen, daß sie gehäuft auf Kommunikation mit den Mitmenschen angewiesen sind. Denn auch der Gehörlose kann Stadtpläne und schriftliche Wegbeschreibungen zu Rate ziehen. Wo sich diese als nicht ausreichend erweisen sollten, wird er regelmäßig in der Lage sein, Passanten schriftlich um Auskunft zu bitten. Inwiefern in einer solchen schriftlichen Bitte um Hilfe ein Verstoß gegen die Menschenwürde liegen soll, wie die Revision meint, vermag der Senat nicht zu erkennen. Sollte der Gehörlose trotz all dieser möglichen Hilfen sein Wegeziel gelegentlich verfehlen, kann gleichwohl noch nicht von einer "Störung der Orientierungsfähigkeit" gesprochen werden.
Auch der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, daß Gehörlosigkeit nicht ohne weiteres eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr iS des § 60 Abs 1
SchwbG mit sich bringt. Das wird daraus deutlich, daß er den Gehörlosen die Freifahrt (§ 59 Abs 1 Satz 1
SchwbG) und andere Nachteilsausgleiche gerade nicht im Hinblick auf eine typische Beeinträchtigung ihrer Orientierungsfähigkeit (Gehfähigkeit), sondern zum Zweck der erleichterten Kommunikation mit gleichartig Behinderten eingeräumt hat (vgl BT-Drucks 10/3218 S 7). Die Gleichstellung der Gehörlosen mit Gehbehinderten hinsichtlich der Rechtsfolgen des Merkzeichens G mindert zusätzlich das praktische Bedürfnis nach einer Ausweitung der in den
AHP 1983 RdNr 30 Abs 5 genannten Voraussetzungen, unter denen Gehörlosen das Merkzeichen G ohne weitere Nachprüfung zu erteilen ist.
Die vorstehend angestellten Überlegungen gelten auch für die Zeit, in der dem Kläger das Merkzeichen H weiterhin zusteht, da - jedenfalls nach heutiger Rechtslage - die Zuerkennung des Merkzeichens H nicht von vornherein auch zur Zuerkennung des Merkzeichens G führt (vgl § 59 Abs 1 Satz 1
SchwbG in der heutigen Fassung und BT-Drucks aaO).
3. Zu Recht hat das
LSG auch die Entziehung des Merkzeichens B bestätigt. Auch insoweit galten bei Erteilung dieses Merkzeichens zunächst nur die Ausweisrichtlinien (vgl Abschn
IV (2) aaO), die noch keine Spezialregelung für jugendliche Ertaubte enthielten. Der Fall des Klägers wurde aber nachträglich durch § 58 Abs 2
SchwbG idF des Gesetzes vom 18. Juli 1985 (entspricht § 60 Abs 2
SchwbG in der heutigen Fassung) sowie von RdNr 32 Abs 3
AHP 1983 erfaßt. Deren Voraussetzungen waren zunächst gegeben, sind dann aber weggefallen.
Nach § 60 Abs 2
SchwbG ist die ständige Begleitung bei Schwerbehinderten notwendig, die bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich und andere regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Nach RdNr 32 Abs 3
AHP 1983 ist bei hochgradig Schwerbehinderten die Notwendigkeit ständiger Begleitung stets anzunehmen, wenn sie zu den in RdNr 30 Abs 5
AHP genannten Personen gehören, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist. Von den dort genannten Personengruppen kommt nach den vom
LSG getroffenen Feststellungen hier nur die der jugendlichen Gehörlosen in Betracht. Daß der Kläger 1989 nicht mehr zu diesem Personenkreis gehörte, hat der Senat oben unter 2. dargelegt. Dafür, daß er aus sonstigen in RdNr 32
AHP 1983 genannten Gesichtspunkten heraus im Einzelfall ständige Begleitung benötigt, ergibt sich aus den bindenden (§ 163
SGG) Feststellungen des
LSG kein Hinweis. Der Senat hat schließlich auch geprüft, ob die
AHP 1983 auch hinsichtlich der Voraussetzungen für das Merkzeichen B einer Korrektur bedürfen. Er hat dies aber aus den gleichen Gründen wie hinsichtlich des Merkzeichens G verneint.
Die Kostenentscheidung entspricht § 193
SGG.