Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob das Bundessozialgericht dadurch gegen seine Bindung an Gesetz und Recht sowie gegen das Willkürverbot verstößt, daß es Änderungen der vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung aufgestellten "Anhaltspunkte" für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (
SchwbG) wie Änderungen der rechtlichen Verhältnisse behandelt.
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das (zur Veröffentlichung in BSGE und SozR bestimmte) Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. Oktober 1994 (9 RVs 1/93), wonach die Versorgungsverwaltung befugt ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung (
GdB) eines Schwerbehinderten gemäß § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (
SGB X) trotz Verschlimmerung eines Leidens abzulehnen, wenn hinsichtlich einer anderen anerkannten Behinderung eine Änderung der "Anhaltspunkte" zu Ungunsten des Schwerbehinderten stattgefunden hat, so daß sich beide Faktoren gegeneinander aufheben. Der Beschwerdeführer sieht sich dadurch in seinen Grundrechten aus
Art. 3
Abs. 1,
Art. 19
Abs. 4 und
Art. 103
Abs. 1
GG verletzt.
II.
Die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor.
1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 93a
Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Eine solche ist nur gegeben, wenn die Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten läßt und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt ist (
vgl. BVerfGE 90, 22 (24)). Die hier mit der Verfassungsbeschwerde gestellte Frage nach der Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers aus
Art. 3
Abs. 1
GG ist geklärt (
vgl. BVerfGE 60, 123 ( 134); 88, 87 (96); jeweils
m.w.N.).
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung des als verletzt bezeichneten Verfassungsrechts angezeigt. Eine Annahme zur Entscheidung ist nach § 93a
Abs.2 Buchstabe b BVerfGG dann angezeigt, wenn die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in existentieller Weise betrifft. Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet oder wenn sie auf einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht (
vgl. BVerfGE 90, 22 ( 25) ). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
a) Bei der Frage, ob der Beschwerdeführer einen Anspruch auf die Festsetzung eines höheren
GdB und die Feststellung bestimmter Behinderungen hat, geht es um die Auslegung des § 48
SGB X in Verbindung mit § 3
SchwbG, mithin um die Auslegung einfachen Rechts. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts obliegen die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklichen einfachen Rechts auf den Einzelfall den dafür allgemein zuständigen Fachgerichten; deren Entscheidung ist einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nur in engen Grenzen zugänglich. Das Bundesverfassungsgericht kann erst dann eingreifen, wenn die fachgerichtliche Entscheidung Auslegungsfehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einiger Bedeutung sind (
vgl. BVerfGE 71, 162 (177) m.w. N.). Ein solcher Fall liegt hier noch nicht vor.
b) Das Urteil des Bundessozialgerichts beruht nicht auf sachfremden Erwägungen. Das Bundessozialgericht geht nachvollziehbar davon aus, daß die vom Beschwerdeführer nicht beanstandeten Vorschriften des § 3
SchwbG und § 48
SGB X allein keine Kriterien enthalten, aufgrund derer sämtliche denkbaren Behinderungen mit einem
GdB zwischen 20 und 100 taxiert werden könnten. Gleichwohl verlangt das Schwerbehindertengesetz von der Verwaltung und mittelbar auch von den Gerichten, daß sämtliche denkbaren und tatsächlich auftretenden Funktionsbeeinträchtigungen, die auf einen regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand zurückzuführen sind, in ihren Auswirkungen für den einzelnen in Beruf und Gesellschaft bewertet werden müssen. Weder die Verwaltung noch die Gerichte können sich dem Normbefehl der §§ 1 und 3
SchwbG entziehen, wenngleich diese Vorschriften selbst keine Kriterien dafür vorsehen, wie die einzelnen Behinderungen zu bewerten sind. Ein absoluter, sich gleichsam aus der Natur der Sache ergebender Maßstab für eine derartige Taxierung und damit ein Maßstab für die richterliche Kontrolle existiert nicht.
In dieser Situation ist es den Gerichten nicht verwehrt, zur Konkretisierung der §§ 1 und 3
SchwbG eigene Beurteilungskriterien zu entwickeln oder anhand des Normprogramms des Schwerbehindertengesetzes auf Erfahrungswerte der Versorgungsverwaltung und den Stand der medizinischen Wissenschaft zurückzugreifen. Dabei können sich die Gerichte auch an den "Anhaltspunkten" des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung orientieren, zumal sich diese nach den langjährigen Erfahrungen des Bundessozialgerichts als ein einleuchtendes und abgewogenes, in sich geschlossenes Beurteilungsgefüge zum
GdB darstellen, das darauf angelegt ist, eine gleichmäßige Gutachtertätigkeit und damit eine gleichmäßige Rechtsanwendung zu gewährleisten. Zwar entbehrt dieses Beurteilungsgefüge einer demokratischen Legitimation insoweit, als es weder für die "Anhaltspunkte" noch für die Organisation, das Verfahren und die Zusammensetzung des für die "Anhaltspunkte" zuständigen Expertengremiums eine Rechtsgrundlage im Sinne eines materiellen Gesetzes gibt. Auf diesen Mißstand des Fehlens einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage hat das Bundessozialgericht unter Hinweis auf das Rechtsstaatsprinzip mehrfach hingewiesen und den Erlaß einer Ermächtigungsgrundlage angemahnt (
vgl. z.B.BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 - 9/9a RVs 1/91, SozR 3-3870 § 4
Nr. 6
S. 30), ohne daß der Gesetzgeber dieser berechtigten Forderung bislang nachgekommen ist. Die "Anhaltspunkte" können somit nicht bereits aufgrund ihres Zustandekommens, mithin ihrer demokratischen Legitimation, Geltung beanspruchen. Ihre Beachtlichkeit im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren als antizipierte Sachverständigengutachten ergibt sich aber daraus, daß eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung innerhalb des § 3
SchwbG nur dann gewährleistet ist, wenn bei der Beurteilung der verschiedenen Behinderungen gleiche Maßstäbe zur Geltung kommen. Bis zur Schaffung der erforderlichen Rechtsgrundlagen ist ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts noch nicht angezeigt, solange sich das Bundessozialgericht (wie bisher) nicht strikt an die "Anhaltspunkte" gebunden sieht, und es sie einer richterlichen Kontrolle unterzieht, wenn dies im Hinblick auf
Art. 3
Abs. 1
GG einerseits und das Normprogramm des Schwerbehindertengesetzes andererseits erforderlich ist. Das Bundessozialgericht prüft dabei unter anderem zu Recht, ob die "Anhaltspunkte" dem Gesetz widersprechen, ob sie dem gegenwärtigen Kenntnisstand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen und ob ein Sonderfall vorliegt, der aufgrund der individuellen Verhältnisse einer gesonderten Beurteilung bedarf. Erforderlichenfalls werden die Beurteilungskriterien vom Bundessozialgericht auch im Sinne einer Lückenfüllung ergänzt (
vgl. BSGE 72, 285 (288)), wofür vorliegend nach den Feststellungen des Bundessozialgerichts allerdings kein Bedürfnis bestand.
3. Hinsichtlich des vom Beschwerdeführer geltend gemachten Verstoßes gegen
Art. 103
Abs. 1
GG und
Art. 19
Abs. 4
GG liegen Annahmegründe ebenfalls nicht vor. Insoweit wird gemäß § 93d
Abs. 1 Satz 3 BVerfGG von einer Begründung abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.