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Urteil
Anspruch auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl - Genehmigungsfiktion

Gericht:

SG Gelsenkirchen 11. Kammer


Aktenzeichen:

S 11 KR 180/14


Urteil vom:

02.10.2014


Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 17.04.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.06.2014 verurteilt, den Kläger mit dem Elektrorollstuhl C 1000 DS/S zu versorgen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl des Modells C 1000 DS/S streitig.

Der 1982 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Nachdem zunächst mit Kostenvoranschlag vom 01.07.2013 ein Elektrorollstuhl begehrt wurde, wurde dem Kläger mit Schreiben vom 26.11.2013 geschildert, dass er nach Auffassung der Beklagten über einen für seine Bedürfnisse individuellen angepassten voll funktionstüchtigen Elektrorollstuhl verfüge. Da der zur Verfügung stehende Rollstuhl aktuell genutzt werden könne und keine Defekte aufweise, könne eine Ersatzbeschaffung nicht beauftragt werden. Vorrangig komme bei auftretenden Defekten immer eine Instandsetzung in Betracht. Die jetzige Ausstattung mit einem weiteren Elektrorollstuhl würde eine gesetzlich unzulässige Doppelversorgung darstellen.

Mit einer auf den 22.01.2014, bei der Beklagten eingegangen am 24.01.2014, Verordnung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. U. begehrt der Kläger erneut einen neuen Elektrorollstuhl als Austausch für den vorhandenen Elektrorollstuhl bei nicht näher als schlaff oder spastisch bezeichnete Aparese und Tetraplegie. Gleichzeitig wurde ein Kostenvoranschlag, datiert auf den 23.01.2014, für den Elektrorollstuhl C 1000 DS/S in Höhe von insgesamt 55.257,65 Euro eingereicht. Dem Kostenvoranschlag ist insbesondere zu entnehmen, dass für den vorhandenen Elektrorollstuhl keine Ersatzteile mehr lieferbar seien und dass der Kläger mit der neuen Steuerung mehr Selbständigkeit erreiche und damit eine bessere Teilnahme am öffentlichen Leben gewährleistet werden könne. Ausweislich dem Inhalt der Verwaltungsakte hatte die Beklagte erstmalig am 31.01.2014 in der bei ihr zuständigen Fachabteilung nachgefragt, wie weiter vorzugehen sei, da es sich um eine Ersatzbeschaffung handele und extrem hohe Kosten in Rede stehen würden.

Weiter ist der Verwaltungsakte eine erneute Erinnerung an die Fachabteilung vom 14.03.2014 zu entnehmen.

Mit Schreiben vom 13.03.2014, bei der Beklagten eingegangen am 14.03.2014, erinnerte der Kläger nochmals an die Bearbeitung seines Antrages vom 23.01.2014. Das begehrte Modell sei mit Kopf- und Fußsteuerung ausgerüstet und sei auf dem derzeitigen Rollstuhlmarkt das einzig erhältliche Modell, welches die schweren Einschränkungen des Klägers adaptieren könnte. Der Rollstuhl sei beispielsweise um 90 Grad drehbar und die Kurvengängigkeit sei größer. Zudem werde das Modell erstmalig eine Sitzhöhenverstellung und Sitzkippung mit elektronischer Regelung enthalten, welches für den Kläger eine neue Selbständigkeit bedeute. Das genutzte Modell sei 16 Jahre alt und erheblich störungsanfällig. Es werde nunmehr um Bearbeitung des Antrages binnen 3 Wochen gebeten; andernfalls müsse der Rechtsweg beschritten werden.

Mit der bei dem hiesigen Gericht am 14.04.2014 eingegangenen Leistungsklage verfolgt der Kläger sein Begehren fort. Unter Hinweis auf die bereits im Verwaltungsverfahren geschilderten Vorteile weist der Kläger darauf hin, dass die gesetzliche Frist zur Bearbeitung derartiger Anträge gemäß § 13 Abs. 3 a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) abgelaufen sei und die Beklagte auch nach einer weiteren Erinnerung vom 13.03.2014 nicht binnen Dreiwochenfrist auf den Antrag reagiert habe. Bei dem Rollstuhl handele es sich auch um eine Leistung innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung. Zudem entspreche die Leistung dem Qualitäts- als auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Der Rollstuhl des Klägers sei in die Jahre gekommen und erfülle bestimmte Voraussetzungen nicht.

Mit Bescheid vom 17.04.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.06.2014 lehnte die Beklagte das Begehren des Klägers ab. Es bestehe keine Leistungspflicht, da das begehrte Hilfsmittel nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V entspreche. Die Mehrfachausstattung mit Hilfsmitteln könne nur dann erfolgen, wenn das Hilfsmittel aus hygienischen Gründen häufiger gewechselt werden müsse oder wenn sich dieses wegen der besonderen Beanspruchung als zweckmäßig und wirtschaftlich erweise. Diese Ausnahmetatbestände lägen nicht vor.

Der Kläger beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit einem Rollstuhl der Fa. P. N. C 1000 DS/S zu versorgen,

2. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.04.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.06.2014 zu verurteilen, dem Kläger den Elektrorollstuhl der Fa. P. N. Modell C 1000 DS/S zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält zunächst die Leistungsklage als unzulässig. Der neuerliche Antrag des Klägers sei mit Bescheid vom 17.04.2014 abgelehnt worden. Zwischen dem Kläger und der Beklagten liege kein Gleichordnungsverhältnis vor, so dass eine Leistungsklage ausgeschlossen sei. Zudem müsse auch eine Leistung, die nicht innerhalb der gesetzlichen Frist genehmigt worden sei, dem Qualitätsgebot und dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen. Erst dann könne eine Leistung als genehmigt gelten. Das sei bei dem vorliegenden Begehren des Klägers jedoch nicht der Fall. Die begehrte Versorgung entspreche nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot, da ein Anspruch auf Hilfsmittel grundsätzlich nur die Versorgung in einfacher Stückzahl umfasse.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den Inhalt der Verwaltungsakte, die das Gericht beigezogen hat sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die als Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Leistungsklage ist begründet.

Die Klage ist als Leistungsklage entgegen der Auffassung der Beklagten zunächst zulässig. Mit der Leistungsklage kann eine Leistung begehrt werden, auf die ein Rechtsanspruch besteht, soweit ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Diese Prozesssituation ist vorliegend gegeben, da der Kläger seinen Versorgungsanspruch auf die seit dem 26.02.2013 bestehende Regelung des § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V stützt. Diese hat den Wortlaut, dass, soweit keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes erfolgt, die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt. Dies kann nur so verstanden werden, dass mit Eintritt der Fiktion der Rechtsanspruch auf die beantragte Leistung besteht, ohne dass hierüber noch ein Bescheid der Beklagten zu erteilen wäre. Die Fiktion der Genehmigung ersetzt somit den Genehmigungsbescheid (siehe auch Sozialgericht Augsburg, Urteil vom 03.06.2014, Az.: S 6 KR 339/13) sowie im Ergebnis Beschluss des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen vom 23.05.2014, Az.: L 5 KR 222/14 B). Mit der Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG konnte auch eine Anfechtungsklage erhoben werden, da dem Kläger der gerichtliche Rechtsschutz dafür zustehen muss, einen formellen Verwaltungsakt, also einen Verwaltungsakt, zu dem die Beklagte nicht (mehr) befugt war, zu beseitigen, um sich nicht mit dem Risiko zu belasten, dass dieser später einen anderen Zusammenhang unzutreffend als bestandskräftiger Verwaltungsakt qualifiziert wird.

Die Klage ist auch begründet.

Der Anspruch des Klägers auf Versorgung mit dem begehrten Elektrorollstuhl beruht auf § 13 Abs. 3 a Satz 6 i.V.m. Satz 1 und Satz 5 SGB V.

Zunächst begehrt der Kläger nach Überzeugung des Gerichtes eine Leistung, auf die er grundsätzlich im Rahmen des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts einen Anspruch haben könnte. Hierbei kann das Gericht offen lassen, ob es sich, so die Auffassung der Beklagten, um eine Doppelversorgung handelt, oder aber um eine Neuversorgung mit einem den Ansprüchen des Klägers besser gerecht werdenden Hilfsmittel. Denn auch eine Doppelversorgung ist gegebenenfalls im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung durchaus möglich und nicht von vorn herein ausgeschlossen.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Beklagte die gesetzliche Frist von drei Wochen überschritten hat. Die Beklagte hat selbst auf eine weitere Erinnerung des Klägers mit erneuter Fristsetzung nicht reagiert. Hieraus resultierend tritt die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V ein.

Das Erfordernis einer Leistungsgenehmigung ist in dem auf Sach- und Naturalleistungsverschaffung ausgerichteten System der gesetzlichen Krankenversicherung auf Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Prüfung aller formellen und materiellen Anspruchsvoraussetzungen vorab erfolgt. Der Verfügungssatz eines genehmigenden begünstigenden Verwaltungsaktes regelt, dass der Antragsteller die beantragte Leistung in Anspruch nehmen darf und sich die Kasse unter Ausschluss aller Einwendungen zur Leistung verpflichtet; die Regelung wird mit der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes gemäß § 39 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) gegenüber dem Adressaten wirksam. Durch die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V gilt die Genehmigung der beantragten Leistung durch einen fingierten Verwaltungsakt als erlassen. Fingierte Verwaltungsakte haben die gleiche Rechtswirkung wie tatsächlich erlassene Verwaltungsakte und sind dem Sozialrecht nicht fremd. Durch die Fiktion der Genehmigung ist die Leistungsberechtigung des Antragstellers wirksam verfügt und die Krankenkasse mit allen Einwendungen (wie hier, ob es sich ggfs. um eine Doppelversorgung handele) ausgeschlossen.

Mit dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift und dem Sinn und Zweck des Gesetzes ist es nicht vereinbar, die Vorschrift dahingehend auszulegen, dass hier, wie im Falle einer Selbstbeschaffung, noch zu prüfen wäre, ob die Leistung erforderlich ist. Der Gesetzgeber spricht in § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V nicht von einer erforderlichen Leistung. Es dient dem offensichtlichen Sinn und Zweck des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten. Der Gesetzgeber wollte offenbar innerhalb der genannten Fristen zugunsten der Versicherten zügige Rechtsklarheit und Rechtssicherheit schaffen. Mit diesem Ziel ist es nicht vereinbar, dass die selbe Rechtssituation eintritt bzw. eintreten wird, wie sie bestanden hat, als die Regelung des § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V noch nicht geschaffen war. Entsprechend hätte die Neuregelung in der Praxis keinen spürbar positiven Effekt für den gewollten Schutz der Patientenrechte. Das Ziel würde ins Leere laufen, könnte die Genehmigungsfiktion durch eine (außerhalb der Frist erfolgende) nachträgliche Prüfung der einzelnen Leistungsvoraussetzungen wieder erlöschen (siehe Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R7168


Informationsstand: 13.12.2016