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Urteil
Atypischer Fall bei Zustimmung zur Kündigung eines schwerbehinderten Beschäftigten nach § 172 Abs. 3 SGB IX

Gericht:

VG Neustadt a. d. Weinstrasse 2. Kammer


Aktenzeichen:

2 K 80/22.NW


Urteil vom:

07.07.2022


Grundlage:

Orientierungssätze:

1. Wenn die Voraussetzungen des § 172 Abs. 3 Nr. 1 bis 4 SGB 9 vorliegen, "soll" die Zustimmung zur Kündigung erteilt werden.

2. Rechtlich bedeutet das "Soll" im Regelfall ein "Muss", das heißt, das Integrationsamt ist grundsätzlich verpflichtet, der Kündigung zuzustimmen.

3. Nur wenn der Fall atypisch ist, darf das Integrationsamt nach freiem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1992 - 5 C 51/90).

4. Ob der Fall atypisch ist, kann das Gericht überprüfen und entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. September 1992 - 5 C 39/88 zur Soll-Vorgabe bei der betriebsbedingten Kündigung nach § 174 Abs. 4 SGB 9, VGH München Beschluss vom 17. Dezember 2009 - 12 CS 09.2691 -).

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Landesrecht Rheinland-Pfalz

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Zustimmung des Beklagten zu seiner Kündigung im Rahmen des Insolvenzverfahrens der Beigeladenen.

Der Kläger ist im Jahr 1965 geboren, verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Seit 1998 arbeitete er bei der Beigeladenen. Zunächst war er als Schweißer beschäftigt. Am 25. Januar 2007 erlitt er einen Arbeitsunfall: Beim Schweißen fiel ihm ein sehr heißer und schwerer Metallring (Gewicht ca. 2 t) auf die rechte Hand. Dadurch kam es "zur traumatischen Amputation von DII und DIII und Versteifung von DIV sowie partielle Versteifung von DV nach Verbrennungsverletzungen" mit starken Phantomschmerzen (ärztliches Attest vom 28. Oktober 2008). Der Beklagte erkannte daraufhin einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 an (Widerspruchsbescheid vom 24. April 2009). Im Jahr 2014 erhielt der Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 aufgrund folgender Beeinträchtigungen: Funktionsstörung Schultergelenk/ anerkannte Arbeitsunfallfolgen (40), chronisch obstruktive Lungenerkrankung/ Schlaf-Apnoe-Syndrom (20), Funktionsstörung Wirbelsäule (Schulter-Arm-Syndrom beidseits, degenerative Wirbelsäulenveränderungen, Wirbelsäulensyndrom) (20), Spannungskopfschmerz (10), Sulcus Ulnarissyndrom (10) (Widerspruchsbescheid vom 27. November 2014). Nach Ansicht des Rentenausschusses der Berufsgenossenschaft stehen die weiteren Beeinträchtigungen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unfall. Dieser ging bezüglich der Rente des Klägers wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) weiterhin von einer MdE von 40 % aufgrund des Unfalls aus (Bescheid vom 15. November 2011). Infolge des Arbeitsunfalls konnte der Kläger nicht mehr als Schweißer arbeiten. Er wurde von der Beigeladenen zum Gabelstaplerfahrer umgeschult. Seit 1. Juni 2016 war er als Lagerarbeiter beschäftigt und seit 1. April 2020 dem Organisationsbereich Warehouse Logistic DS zugeordnet. Er war zuletzt in die Entgeltgruppe 02 eingruppiert.

Die Beigeladene stellt Krananlagen her. Am 8. Oktober 2020 beantragte sie die Eröffnung eines Schutzschirmverfahrens in Eigenverwaltung nach § 270b Insolvenzordnung - InsO -. Mit Beschluss vom 8. Oktober 2020 ordnete das Amtsgericht Z... die vorläufige Eigenverwaltung im Schutzschirmverfahren an. Am 1. Januar 2021 eröffnete das Amtsgericht Z... das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung.

Am 4. Januar 2021 schlossen die Beigeladene und ihr Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung über einen Interessenausgleich mit unter anderem folgenden Regelungen:

§ 2 Ziff. 3.2 Logistik: "Reduzierung des Arbeitsaufwands [...] Personalabbau in den einzelnen Fachbereichen der Logistik aufgrund der Volumenreduzierung und Prozessoptimierung [...] Anpassung der Beschäftigungsmöglichkeiten an den tatsächlichen Beschäftigungsbedarf, insbesondere bei: [...] Ware House Logistic: Anpassung der Funktionen Anlageführer I-Punkt, Fehlteilekoordinator, Lagerarbeiter, Sachbearbeiter, Wareneingangsbüro und innerbetrieblicher Transport sowie Wegfall der Funktionen Transport/Entgraten und Auftragssteuerung Stahlbau."

§ 3 Ziffer 2: "392 Beschäftigte, die in der Anlage 5 aufgeführt sind, erhalten eine betriebsbedingte Beendigungskündigung".

§ 3 Ziffer 3: "Mit dem Betriebsrat, dem Schwerbehindertenvertreter sowie dem Vertreter der JAV wurden die anstehenden betrieblichen und personellen Maßnahmen, u. a. der konkrete Wegfall des jeweiligen Arbeitsplatzes und die getroffene soziale Auswahl erörtert".

§ 3 Ziffer 4: "Dem Betriebsrat wurde im Rahmen der Verhandlungen [...] eine Personalliste überreicht. [...] Diese Personalliste enthält insbesondere folgende Angaben zu den Beschäftigten: [...] Schwerbehinderung"

§ 3 Ziffer 11: "Der Betriebsrat erklärt, dass ihm bereits zuvor eine Gesamtpersonalliste des Betriebs [...] übergeben wurde, die unter anderem die [...] Schwerbehinderteneigenschaft [...] enthält [...]."

§ 6 Ziffer 4: "Die Parteien sind sich einig, dass die [...] Anlage 5 eine Namensliste im Sinne von § 125 InsO darstellt. [...] Dieser Interessenausgleich gilt gemäß § 125 InsO auch als Stellungnahme des Betriebsrats [...] gemäß § 170 Abs. 2 SGB IX [...]."

§ 10 verweist auf eine Namensliste im Sinne von § 125 InsO als Anlage 5, in der die Namen der Arbeitnehmer aufgeführt sind, denen gekündigt werden soll. Unter lfd. Nr. 1114 steht der Name des Klägers.

Insgesamt führte dies zu folgenden personellen Änderungen: Vor der Betriebsänderung arbeiteten bei der Beigeladenen in der Regel 1536 Mitarbeiter, von denen 76 Mitarbeiter schwerbehindert oder gleichgestellt waren. Die Betriebsänderung führte zu 392 Beendigungskündigungen, die 16 schwerbehinderte Mitarbeiter betrafen. Insgesamt waren nach der Betriebsänderung 1061 Beschäftigte zuzüglich 82 Auszubildende, also insgesamt 1143 Beschäftigte, bei der Beigeladenen verblieben, davon waren 60 Mitarbeiter schwerbehindert oder gleichgestellt.

Im Rahmen des Verfahrens zum Interessenausgleich im Januar 2021 wurde bei den Sozialdaten des Klägers für die Sozialauswahl in der Spalte "Kinder gemäß aktueller ELStAM-Meldung" (ELStAM = Elektronische Lohnsteuer-Abzugsmeldung) zunächst kein Kind berücksichtigt. Wie es dazu kam, ist ungeklärt. Laut Angaben der Beigeladenen war zu diesem Zeitpunkt kein unterhaltsberechtigtes Kind gemeldet. Dies sei nicht aufgefallen, da die Tochter im Jahr 2019 auch nicht als unterhaltsberechtigt eingetragen gewesen sei. Aus der Gehaltsabrechnung des Klägers für Dezember 2020 ergibt sich, dass zu diesem Zeitpunkt ein Kind beim Kinderfreibetrag eingetragen war.

Die Vergleichsgruppe für die Sozialauswahl bildete die Beigeladene nach ihren Angaben (vgl. Urteil des Arbeitsgerichts K... vom 13. Januar 2022, Az. 6 Ca 211/21, Seite 22-25) wie folgt: Der Kläger wurde mit sechs weiteren Mitarbeitern seiner Gruppe Lagerarbeiter, Wareneingang/Einlagerung/innerbetrieblicher Transport bis 7,5 t, verglichen. Die Beigeladene begründete ihre subjektiven Auswahlüberlegungen damit, dass der Kläger, wenn überhaupt, nur mit dieser Gruppe der Gabelstaplerfahrer bis 7,5 t im Lager vergleichbar sei. Allerdings bestünden Einschränkungen: Der Kläger könne die bewegten Materialien nicht dokumentieren, da ihm die Sprachkenntnisse fehlten. Er könne in deutscher Sprache keine ganzen Sätze bilden. Aufgrund des Arbeitsunfalls habe er drei Finger an der rechten Hand verloren. Die Beigeladene habe extra einen Gabelstapler für den Kläger umgebaut, damit er die Tätigkeiten in der Vergleichsgruppe annähernd habe ausüben können. Allerdings habe der Kläger im Jahr 2020 darum gebeten, nicht mehr als Gabelstaplerfahrer eingesetzt zu werden, da er Angst habe, den Stapler zu fahren. Dies begründete er damit, dass er Medikamente einnehme. Der Werksarzt habe festgestellt, dass der Kläger nur noch mit Einschränkungen einsetzbar sei. Er könne nicht über Schulterhöhe links arbeiten und könne den Rumpf nicht tief beugen oder sich vorbeugen. Auch könne er keine Lasten schwerer als 10 bis 15 kg heben und tragen und keine Tätigkeiten ausführen, bei denen er den Kopf weit drehen oder den Rumpf insbesondere nach links verdrehen müsse. Auch könne er seine linke Schulter nicht belasten, wie z. B. beim Ein- und Aussteigen in und aus dem Stapler. Es sei daher fraglich, inwieweit der Kläger überhaupt mit der Vergleichsgruppe vergleichbar sei. Die Arbeitsverhältnisse der sieben Mitarbeiter in der Vergleichsgruppe (inklusive Kläger) seien alle beendet worden bis auf das Arbeitsverhältnis von Herrn M.... Dieser sei sozial schutzwürdiger als der Kläger, da er zweieinhalb Jahre älter sei, drei Jahre länger bei der Beigeladenen beschäftigt sei, verheiratet sei, einem Kind zum Unterhalt verpflichtet sei und außerdem einen Antrag auf Gleichstellung gestellt habe.

Der Kläger lehnte ein Angebot auf Eintritt in eine Transfergesellschaft ab.

Mit interner Stellungnahme vom 11. Januar 2021 bestätigte die Schwerbehindertenvertretung der Beigeladenen, dass die Anhörungen eingeleitet worden seien. Sie sehe keine Möglichkeit, den Kündigungen zu widersprechen. Das Anhörungsverfahren nach § 178 Absatz 2 SGB IX sei damit abgeschlossen. Der Kläger war vom Anhörungsverfahren umfasst (vgl. Namensliste in Anlage 1 zur Stellungnahme).

Am 29. Januar 2021 stellte die Beigeladene bei dem Beklagten den Antrag auf Zustimmung zur ordentlichen betriebsbedingten Kündigung des Klägers. Mit Schreiben vom 3. Februar 2021 hörte der Beklagte dazu den Kläger, den Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung der Beigeladenen an.

Der Betriebsrat der Beigeladenen schrieb am 9. Februar 2021 im Rahmen des Anhörungsverfahrens, er habe keine andere Möglichkeit gesehen, als den Kündigungen zuzustimmen. So sei der Insolvenzplan nicht gefährdet und der Standort für die verbleibenden 1160 Mitarbeiter gesichert worden. Er bedauere sehr, dass der dramatische Personalabbau auch Teile der schwerbehinderten Menschen getroffen habe.

Die Vertrauensperson der Schwerbehindertenvertretung der Beigeladenen, Herr B..., schrieb am 10. Februar 2021 im Rahmen des Anhörungsverfahrens, der Kläger sei bei der Sozialauswahl ausgewählt worden, da andere Mitarbeiter in diesem Bereich mehr Sozialpunkte oder ein Alleinstellungsmerkmal durch besondere Fähigkeiten erhalten hätten. Der Kläger sei durch einen schweren Arbeitsunfall behindert und sei körperlich stark eingeschränkt, so dass er seinen erlernten Beruf des Schweißers nicht mehr ausüben könne, was die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz erheblich erschweren werde. Um den positiven Insolvenzverlauf nicht zu gefährden und die restlichen Arbeitsplätze zu erhalten, habe er dem Sozialplan zugestimmt.

Seit dem 17. Februar 2021 war nach Angaben der Beigeladenen bei ELStAM ein unterhaltsberechtigtes Kind für den Kläger gemeldet.

Der Klägerbevollmächtigte brachte mit Schreiben vom 18. Februar 2021 im Anhörungsverfahren vor, der Kläger sei auch als Gabelstaplerfahrer und in der Montage eingesetzt worden. Er sei überrascht, dass keine Unterhaltspflicht angegeben sei. Sein Kind studiere. Der Freibetrag sei eingetragen gewesen. Der Kläger sei durch einen unverschuldeten Arbeitsunfall bei der Beigeladenen schwerbehindert. Gegenüber seiner Ehefrau und seiner volljährigen Tochter sei er unterhaltspflichtig. Vorsorglich werde bestritten, dass die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß beteiligt worden sei.

Die Beigeladene brachte mit Schreiben vom 24. und 25. Februar 2021 im Anhörungsverfahren vor, die Unterhaltspflichten des Klägers änderten nichts an der Sozialauswahl. Die Schwerbehindertenvertretung sei ordnungsgemäß bei dem Interessenausgleich beteiligt worden.

Mit Bescheid vom 26. Februar 2021 stimmte der Beklagte der Kündigung des Klägers zu. Er begründete dies damit, dass die Voraussetzungen nach § 172 Abs. 3 SGB IX vorlägen. Er könne nur dann die Zustimmung versagen, wenn die Kündigung den schwerbehinderten Beschäftigten besonders hart treffe, bezogen auf den Schutzzweck des SGB IX. Allgemeine Nachteile der Eingliederung, das Alter und die schlechten Vermittlungsaussichten auf dem Arbeitsmarkt könnten keine atypischen Fallgestaltungen begründen. Es gebe keinen Zusammenhang zwischen dem betriebsbedingten Kündigungsgrund und der Behinderung des Klägers.

Am 4. März 2021 teilte die Beigeladene der Schwerbehindertenvertretung und dem Betriebsrat mit, dass für den Kläger seit 17. Februar 2022 die ELStAM-Meldung für ein unterhaltsberechtigtes Kind vorliege. Sie führte alle Sozialdaten des Klägers auf und hörte sie nochmals zu dessen Kündigung an. Mit Schreiben vom gleichen Tag bestätigte die Schwerbehindertenvertretung die Anhörung und schrieb, die soziale Auswahl sei ausführlich dargelegt worden. Sie sehe keine Möglichkeit, der Kündigung zu widersprechen. Das Anhörungsverfahren nach § 178 Abs. 2 SGX IX sei damit abgeschlossen. Auch der Betriebsrat der Beigeladenen schrieb am selben Tag, die soziale Auswahl sei ausführlich dargelegt worden. Er stimme der Kündigung des Klägers ausdrücklich zu, um das Insolvenzverfahren nicht zu gefährden.

Mit Schreiben vom 5. März 2021, dem Kläger zugegangen am 8. März 2021, kündigte die Beigeladene dem Kläger zum 30. Juni 2021. Dagegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht.

Gegen den Zustimmungsbescheid des Beklagten legte der Kläger am 31. März 2021 Widerspruch ein. Diesen begründete er damit, dass die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß angehört worden sei. Seine Unterhaltspflicht gegenüber seiner Tochter sei der Schwerbehindertenvertretung nicht mitgeteilt worden.

Am 31. März 2021 wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2021 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Er führte aus, soweit sich der Kläger auf eine fehlerhafte Sozialauswahl und eine ungenügende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung berufe, sei dies für die Entscheidung des Beklagten nicht relevant. Es seien keine offensichtlichen Fehler erkennbar. Die Unterhaltsverpflichtung des Klägers sei mit nachträglichen Schreiben berücksichtigt worden. Die fehlende ELStAM-Meldung für 1. Januar 2021 bis 16. Februar 2021 sei keine offensichtliche Fehlerhaftigkeit für den Beklagten. Es sei nicht belegt, ob es sich überhaupt um einen Fehler handele und wer diesen gegebenenfalls zu vertreten habe. Es gebe keine Hinweise, dass die Angaben zu einer anderen Sozialauswahl geführt hätten. Die Beigeladene habe die Schwerbehindertenvertretung vor der Zustellung der Kündigung erneut angehört.

Mit Urteil vom 13. Januar 2022 wies das Arbeitsgericht K... die Kündigungsschutzklage des Klägers ab. Zur Begründung führte es aus, nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO werde vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt sei, die einer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb oder einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstünden. Aufgrund der gesetzlichen Vermutung trage der Arbeitnehmer die Beweislast. In § 2 Ziff. 3.2 der Betriebsvereinbarung über einen Interessenausgleich sei festgelegt, dass im Bereich Warehouse Logistic die Funktion der Lagerarbeiter angepasst werde. Folglich seien in diesem Bereich dadurch weniger Arbeitsplätze als Lagerarbeiter vorhanden. Die Kündigung sei nicht wegen fehlerhafter Sozialauswahl unwirksam. Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO könne die soziale Auswahl nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten und auch insoweit nur auf grobe Fehlerhaftigkeit nachgeprüft werden. Grob fehlerhaft sei die soziale Auswahl nur, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliege und der Interessenausgleich jede Ausgewogenheit vermissen lasse bzw. tragende Gesichtspunkte nicht in die Bewertung einbezogen worden seien. Allerdings könne der Kläger nach § 1 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz Kündigungsschutzgesetz - KSchG - verlangen, dass der Arbeitgeber die Gründe darlege, die zu der sozialen Auswahl geführt hätten. Die Beigeladene sei ihrer Auskunftspflicht hinreichend nachgekommen. Sie habe vorgetragen, der Kläger sei grundsätzlich nur mit Gabelstaplerfahrern bis 7,5 t im Wareneingang/Einlagerung/innerbetrieblicher Transport vergleichbar. Er sei nicht mit anderen Mitarbeitern vergleichbar. In der Vergleichsgruppe gebe es keine vergleichbaren Mitarbeiter, die weniger sozial schutzwürdig gewesen wären und denen nicht gekündet worden sei. Von der Liste der sieben aufgeführten Mitarbeiter seien alle Arbeitsverhältnisse beendet worden bis auf das Arbeitsverhältnis von Herrn M..., der sozial schutzwürdiger sei. Zudem könne der Kläger aufgrund seiner fehlenden Sprachkenntnisse und seiner körperlichen Einschränkungen keine anderen Arbeiten ausführen. Auch könne er nicht mehr Gabelstapler fahren. Es seien keine Umstände dargelegt, die eine grobe Fehlerhaftigkeit erkennen ließen. Der Betriebsrat sei umfassend angehört worden. Bei den Verhandlungen von Oktober 2020 bis 4. Januar 2021 sei der Betriebsrat noch nicht über die unterhaltsberechtigte Tochter des Klägers informiert gewesen. Die Tochter des Klägers sei noch im Dezember 2020 als unterhaltsberechtigtes Kind gemäß ELStAM geführt worden, ab Januar 2021 sei sie jedoch nicht mehr gemeldet gewesen. Erst am 17. Februar 2021 sei die Meldung korrigiert worden. Diese Meldung sei dem Betriebsrat bei einer weiteren Anhörung am 4. März mitgeteilt worden. Der Betriebsrat habe am gleichen Tag erneut zugestimmt. Folglich sei der Betriebsrat vollumfänglich i. S. d. § 102 Betriebsverfassungsgesetz - BetrVG - informiert und angehört worden und habe der Kündigung ausdrücklich zugestimmt. Auch die Schwerbehindertenvertretung sei am 4. März 2021 erneut angehört worden, nachdem ihr die ELStAM-Meldung für ein unterhaltsberechtigtes Kind seit dem 17. Februar 2021 mitgeteilt worden sei. Auch sie sei damit gemäß § 178 Abs. 2 SGB IX unterrichtet und angehört worden.

Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts K... legte der Kläger Berufung ein. Eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts M... wird im Herbst 2022 erwartet.

Am 20. Januar 2022 hat der Kläger Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben.

Er trägt vor, zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids sei das Insolvenzverfahren bereits beendet gewesen. Es seien aktuell viele Stellen ausgeschrieben. Es werde bestritten, dass der Geschäftsbetrieb dauerhaft reduziert worden sei. Die Sozialauswahl sei grob fehlerhaft, da er nur mit sieben Mitarbeitern seiner Abteilung verglichen worden sei. Es hätte geprüft werden müssen, inwieweit er in weiteren Abteilungen hätte eingesetzt werden können. Er hätte auch in den Abteilungen Logistik, Rohrbiegen oder am PC eingesetzt werden können.


Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 26. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 2021 aufzuheben.


Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, Gegenstand des Klageverfahrens sei die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung laut Ausgangsbescheid. Daher sei es unbeachtlich, dass das Insolvenzverfahren aufgehoben worden sei und die Stellen neu ausgeschrieben worden seien. Die Voraussetzungen des § 172 Abs. 3 SGB IX hätten vorgelegen. Die Kündigung sei nach arbeitsrechtlichen Kriterien nicht offensichtlich fehlerhaft.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

Sie bringt vor, maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Zustimmungsentscheidung sei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Zugangs der arbeitgeberseitigen Kündigung. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 8. März 2021 sei das Insolvenzverfahren noch nicht beendet gewesen. Die Stellen seien weit nach Ausspruch der Kündigung ausgeschrieben worden. Sie beträfen insbesondere Stellen der Entgeltgruppe 05 und seien zum Teil befristet. Die Sozialauswahl sei ordnungsgemäß. Der Kläger hätte nicht im Rahmen des arbeitsrechtlichen Direktionsrechts ohne erhebliche Einarbeitungszeit auf einem anderen Arbeitsplatz eingesetzt werden können. Zudem sei der Kläger nicht mehr mit der Vergleichsgruppe vergleichbar, da er keinen Stapler mehr fahren wolle. Sie habe den Kläger nur vorsorglich in die Vergleichsgruppe einbezogen. Ein Einsatz in der Rohrbiegerei sei nicht möglich gewesen u.a. wegen Sprachbarrieren. Das Integrationsamt sei kein Arbeitsgericht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Sitzungsniederschrift, die Schriftsätze der Beteiligten, die zur Gerichtsakte gereicht wurden, sowie auf die Verwaltungsakte und die Schwerbehindertenakte, die im Verfahren vorgelegt wurden, verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

A - Die Klage ist zulässig. Der Kläger hat ein Rechtsschutzinteresse an der Entscheidung unabhängig vom Stand des arbeitsgerichtlichen Verfahrens (vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 10. Dezember 2014 - 4 Bf 159/12 -, Rn. 36, juris).

B - Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Zustimmungsbescheid des Beklagten in Gestalt des Widerspruchsbescheids ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

I. Rechtsgrundlage für den Zustimmungsbescheid ist § 172 Abs. 3 SGB IX. Danach soll das Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung erteilen, wenn das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers eröffnet ist und der Verwalter die Vorgaben nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 - 4 SGB IX einhält, die dem Schutz schwerbehinderter Beschäftigter dienen.

Der besondere Kündigungsschutz nach §§ 168 ff. SGB IX ist auf den Kläger anwendbar. Er ist schwerbehindert im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX, da bei ihm ein GdB von 50 vorliegt.

II. Der Zustimmungsbescheid ist formell rechtmäßig. Das Integrationsamt ist zuständig nach § 168 SGB IX. Der Beklagte hielt das Verfahren nach § 170 Abs. 2 SGB IX ein, indem er vor seiner Entscheidung Stellungnahmen des Betriebsrats und der Schwerbehindertenvertretung einholte und den Kläger anhörte.

III. Der Zustimmungsbescheid ist auch materiell rechtmäßig. Der Beklagte ging zu Recht davon aus, dass die Beigeladene die Vorgaben des § 172 Abs. 3 SGB IX eingehalten hatte (a) und übte sein Ermessen ordnungsgemäß aus (b).

a) Mit den Vorgaben nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 - 4 SGB IX soll dem Verwalter ein Anreiz geboten werden, die besonderen Belange der schwerbehinderten Beschäftigten im Interessenausgleich zu berücksichtigen. Damit wird das öffentliche Interesse verfolgt, die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen aufrecht zu erhalten. Mit den Verfahrensvorschriften nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 und 2 SGB IX und den proportionalen und absoluten Grenzen in § 172 Abs. 3 Nr. 3 und 4 SGB IX soll sichergestellt werden, dass schwerbehinderte Menschen kein Sonderopfer erbringen müssen (vgl. LPK-SGB IX, Franz Josef Düwell, 6. Aufl. 2022, SGB IX § 172 Rn. 74). Außerdem wird in Bezug auf den schwerbehinderten Beschäftigten im Insolvenzverfahren vermutet, dass die Kündigung nichts mit seiner Schwerbehinderung zu tun hat. Denn im Insolvenzverfahren gilt nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO für alle Beschäftigten die Vermutungsregel, dass die Kündigung betriebsbedingt ist. Der Beklagte muss bei betriebsbedingten Kündigungen grundsätzlich die unternehmerische Entscheidung hinnehmen, einen Arbeitsplatz einzusparen, der mit einem schwerbehinderten Arbeitsnehmer besetzt ist (vgl. Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, 6. Aufl. 2021, SGB IX § 172 Rn. 3c unter Verweis auf OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Januar 1992 - 13 A 297/91 -, Rn. 34 juris zum freien pflichtgemäßen Ermessen).

Durch die besonderen Vorgaben zur Kündigung schwerbehinderter Beschäftigter in § 172 Abs. 3 Nr. 1 - 4 SGB IX und die Vermutungsregel nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO wird der Schwerbehindertenschutz abgedeckt. Das Kriterium der Schwerbehinderung muss bei der Sozialauswahl gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO nicht beachtet werden (vgl. BeckOK ArbR/Plössner, 63. Ed. 1.3.2022, InsO § 125 Rn. 23, BAG, Urt. v. 16.5.2019 - 6 AZR 329/18, NZA 2019, 1198 Rn. 40, beck-online). Auch der Beklagte und das Verwaltungsgericht müssen grundsätzlich nicht die Belange der Schwerbehinderten bei der Sozialauswahl prüfen (problematisch insoweit LPK-SGB IX, Franz Josef Düwell, 6. Aufl. 2022, SGB IX § 172, beck-online Rn. 78 unter Verweis auf VG Stuttgart, Urteil vom 4. März 2013 - 11 K 3968/12, wo die Voraussetzungen des § 172 Abs. 3 Nr. 1 - 4 SGB IX nicht erfüllt waren).

Die Beigeladene erfüllte die Voraussetzungen nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 - 4 SGB IX (1. - 5.).

1. Auf Antrag der Beigeladenen eröffnete das Amtsgericht Z... am 1. Januar 2021 das Insolvenzverfahren (§ 172 Abs. 3 1. Halbsatz SGB IX).

2. Die Beigeladene vereinbarte einen Interessenausgleich gemäß § 125 InsO i. V. m. §§ 111, 112 BetrVG, in dem der Kläger namentlich benannt wurde (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGB IX). Der Interessenausgleich kam wirksam zustande nach § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG (vgl. Urteil des Arbeitsgerichts K... vom 13. Januar 2022 - 6 Ca 211/21, S. 19).

3. Die Schwerbehindertenvertretung wurde beim Zustandekommen des Interessenausgleichs gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGB IX i. V. m. § 178 Abs. 2 SGB IX beteiligt. Nach § 178 Abs. 2 SGB IX hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Die Schwerbehindertenvertretung ist bei Kündigungen im Rahmen eines Interessenausgleichs in zweifacher Hinsicht entscheidend: Zum einen ist sie gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGB IX beim Interessenausgleich zu beteiligen. Zum andern muss sie gemäß § 178 Abs. 2 Sätze 1 und 3 SGB IX vor der Kündigung eines schwerbehinderten Beschäftigten unterrichtet und angehört werden. Offenbleiben kann, ob es ausreicht, die Schwerbehindertenvertretung beim Interessenausgleich zu beteiligen, wenn der Arbeitgeber dies damit verbindet, sie in Bezug auf die einzelne Kündigung zu unterrichten und anzuhören (so bei der Beteiligung des Betriebsrats vgl. BAG, Urteil vom 28. Juni 2012 - 6 AZR 780/10 -, BAGE 142, 202-224, Rn. 53). Denn im vorliegenden Fall beteiligte die Beigeladene die Schwerbehindertenvertretung bei dem Interessenausgleich und nochmals vor der Kündigung des Klägers. Die Beteiligung beim Interessenausgleich hat der Beklagte bei seiner Zustimmung im Rahmen des § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGB IX vollumfänglich zu prüfen (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 24. August 2006 - 9 ZB 05.442 -, Rn. 12, juris).

Die Schwerbehindertenvertretung war gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGB IX in das gesamte Verfahren zum Interessenausgleich umfassend eingebunden, was durch § 3 Ziffer 3 der Betriebsvereinbarung über den Interessenausgleich bestätigt wird. Die genauen Termine der Verhandlungen und Stellungnahmen trug die Beigeladene im arbeitsgerichtlichen Verfahren vor (vgl. Urteil des Arbeitsgerichts K... vom 13. Januar 2022 - 6 Ca 211/21, S. 12 f.).

Die Schwerbehindertenvertretung war auch umfassend unterrichtet im Sinne des § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGB IX i. V. m. § 178 Abs. 2 SGB IX. Die Beigeladene und die Schwerbehindertenvertretung konnten sich beim Interessenausgleich nach den Sozialdaten richten, die zu diesem Zeitpunkt in ELStAM angegeben waren. Es gab keine Anhaltspunkte dafür, dass die Sozialdaten falsch sein könnten. Dass die erwachsene Tochter gerade im Zeitpunkt des Interessenausgleichs unterhaltsberechtigt war, hat der Kläger auch im gerichtlichen Verfahren nicht nachgewiesen. Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers davon ausgeht, dass die Tochter im Zeitpunkt des Interessenausgleichs unterhaltsberechtigt war, aber wegen ungeklärter Verzögerungen erst ab 17. Februar 2021 gemeldet wurde, durften die Beigeladene und die Schwerbehindertenvertretung grundsätzlich die ELStAM-Daten zu Grunde legen. Denn die Beigeladene und der Betriebsrat sowie die beteiligte Schwerbehindertenvertretung treffen mit der Betriebsvereinbarung über den Interessenausgleich in einem komplexen Abstimmungsverfahren essentielle betriebswirtschaftliche und soziale Entscheidungen. Dies kann bei vielen Beschäftigten nur praktikabel sein, wenn die Beteiligten zu einem bestimmten Stichtag klar definierte Meldedaten zu Grunde legen können. Dagegen wäre es nicht handhabbar - insbesondere wie hier bei über 1000 Beschäftigten -, vorab anlasslos in jedem Fall nachzuforschen, ob alle Sozialdaten korrekt gemeldet sind bzw. die Daten fortlaufend zu überprüfen, nachträglich anzupassen und alle Verfahrensschritte zu wiederholen (vgl. zur Frage der Praktikabilität der Berücksichtigung der Angaben zu Unterhaltsberechtigten auf der Lohnsteuerkarte bei Sozialplänen zu einem Stichtag BAG, Urteil vom 13. Oktober 2015 - 1 AZR 765/14 -, Rn. 22, juris, zur ELStAM Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 18. August 2020 - 7 Sa 354/19 -, Rn. 37, juris).

Selbst wenn man von einem Fehler beim Interessenausgleich ausgehen würde, so wäre dieser geheilt. Denn die Schwerbehindertenvertretung wurde am 4. März 2021 nachträglich angehört. Dabei wurde der Vertrauensperson die unterhaltsberechtigte Tochter des Klägers mitgeteilt. Für eine Heilungsmöglichkeit sprechen der Rechtsgedanke des § 178 Abs. 2 Satz 2 SGB IX und der Zweck der Beteiligung nach § 172 Abs. 3 Nr. 2 i. V. m. § 178 SGB IX. Die Beteiligung dient dem individuellen Schutz der Schwerbehinderten und kann daher auch nachträglich beachtet werden. Es ist dagegen nicht Sinn und Zweck der Schutznormen, zusätzliche Formvorschriften zu errichten, von denen die Wirksamkeit des Interessenausgleichs abhängen würde (insoweit speziell und abschließend § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, s.o. 2.).

4. Der Anteil schwerbehinderter Entlassener an schwerbehinderten Beschäftigten (ca. 21 %) war nicht höher als der Anteil der übrigen Entlassenen an den übrigen Beschäftigten (ca. 24 %) (§ 172 Abs. 3 Nr. 3 SGB IX).

5. Die Gesamtzahl der schwerbehinderten Beschäftigten reichte aus, um die Beschäftigungspflicht nach § 154 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zu erfüllen (§ 172 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX). Die Beigeladene beschäftigte weiterhin 60 schwerbehinderte Menschen. Bezogen auf die verbliebenen 1143 Arbeitsplätze (1061 Beschäftigte und 82 Auszubildende) erfüllte dies die Mindestquote von 5 %.

b) Die Ermessensentscheidung des Beklagten ist nicht zu beanstanden (§ 114 VwGO). Wenn die Voraussetzungen des § 172 Abs. 3 Nr. 1 bis 4 SGB IX vorliegen, "soll" der Beklagte die Zustimmung erteilen. Dies schränkt den Ermessensspielraum des Beklagten stark ein. Rechtlich bedeutet das "Soll" im Regelfall ein "Muss", das heißt, der Beklagte ist grundsätzlich verpflichtet, der Kündigung zuzustimmen. Nur wenn der Fall atypisch ist, darf der Beklagte nach freiem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden (gemäß dem Prüfungsmaßstab des BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1992 - 5 C 51.90). Ob der Fall atypisch ist, kann das Gericht überprüfen und entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. September 1992 - 5 C 39/88 zur Soll-Vorgabe bei der betriebsbedingten Kündigung nach § 174 Abs. 4 SGB IX, VGH München Beschluss vom 17. Dezember 2009 - 12 CS 09.2691, BeckRS 2009, 44047 Rn. 21, beck-online zu § 89 Abs. 3 SGB IX aF = § 172 Abs. 3 SGB IX).

Der Fall des Klägers ist nicht atypisch. Wann ein atypischer Fall vorliegt, ist in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt. Zum einen kann ein Fall atypisch sein, wenn die Kündigung offensichtlich rechtswidrig ist (1.). Zum anderen könnte sich die Atypik daraus ergeben, dass dem Kläger im Vergleich zu anderen schwerbehinderten Beschäftigten ein Sonderopfer auferlegt würde (2.). Die Voraussetzungen für ein solches Sonderopfer sind jedoch wenig handhabbar (aa). Außerdem muss bei der Auslegung des § 172 Abs. 3 SGB IX der Zweck beachtet werden, im Insolvenzverfahren das Unternehmen zu erhalten (bb).

1. Es kann offenbleiben, ob und inwieweit der Beklagte prüfen musste, ob die Kündigung offensichtlich unwirksam war. Grundsätzlich ist es nicht die Aufgabe des Integrationsamts und des Verwaltungsgerichts, die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen der Kündigung zu prüfen. Ob das Integrationsamt an einer offensichtlich (vgl. zum Maßstab genauer BAG, Beschluss vom 27. Februar 1985 - GS 1/84 -, BAGE 48, 122-129, Rn. 85 in anderem Zusammenhang) unwirksamen Kündigung mitwirken darf, ist nicht abschließend geklärt (ausdrücklich offen gelassen von BVerwG, Urteil vom 2.7.1992 - 5 C 51.90, beck-online, Rn. 46 zum Normalfall des freien pflichtgemäßen Ermessens, ebenfalls offen gelassen in OVG Münster, Urteil vom 8.3.1996 - 24 A 3340/93, 2. Leitsatz, zur Soll-Vorschrift nach § 174 Abs. 4 SGB IX, dagegen Atypik bei offensichtlich unwirksamer Kündigung geprüft von OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. Juni 2011 - 3 L 246/09 -, Rn. 32, juris, VG Düsseldorf, Urteil vom 10. Juni 2013 - 13 K 6670/12, VG Mainz Urteil vom 31. März 2011 - 1 K 780/10.MZ).

Denn die Kündigung war nicht offensichtlich unwirksam. Sie wurde von dem Arbeitsgericht K... bestätigt. Das Arbeitsgericht setzte sich mit dem Vortrag des Klägers auseinander und kam zu dem Ergebnis, dass die Kündigung nach dem eingeschränkten Prüfungsmaßstab des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO ("auf grobe Fehlerhaftigkeit") wirksam ist. Das Arbeitsgericht ging von der Vermutung nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO aus, dass die Kündigung betriebsbedingt war und nichts mit der Schwerbehinderung des Klägers zu tun hatte. Denn der Arbeitsbereich Warehouse Logistic sollte nach § 2 Ziffer 3.2 der Betriebsvereinbarung über einen Interessenausgleich angepasst werden und zahlreiche Funktionen sollten wegfallen. Dementsprechend kündigte die Beigeladene sechs von sieben Beschäftigten aus diesem Bereich. Das Arbeitsgericht prüfte auch die soziale Auswahl und berücksichtigte dabei die unterhaltsberechtigte Tochter des Klägers. Außerdem prüfte es, ob die Schwerbehindertenvertretung vor der Kündigung unterrichtet und angehört wurde nach § 178 Abs. 2 SGB IX. Diese weitere Anhörung war im vorliegenden Fall notwendig wegen der doppelten Funktion der Schwerbehindertenvertretung beim Interessenausgleich (s.o. a) 3.) und der konkreten Kündigung (§ 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX). Denn zwischen der Betriebsvereinbarung über einen Interessenausgleich am 4. Januar 2021 und dem Zugang der Kündigung am 8. März 2021 stellte sich am 17. Februar 2021 heraus, dass der Kläger ein unterhaltsberechtigtes Kind hatte. Daraufhin unterrichtete und hörte die Beigeladene nach der Zustimmungsentscheidung des Beklagten vom 26. Februar 2021 die Schwerbehindertenvertretung (und den Betriebsrat) am 4. März 2021 erneut an. Diese Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung nach § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX hatte auch der Beklagte bei der Widerspruchsentscheidung zu berücksichtigen, da es insoweit auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung beim Kläger ankam. Denn der Gegenstand der öffentlich-rechtlichen Prüfung soll demjenigen der arbeitsrechtlichen Prüfung entsprechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2012 - 5 C 16/11 -, BVerwGE 143, 325-335, Rn. 18). So ging der Beklagte bei seiner Widerspruchsentscheidung am 14. Dezember 2021 zu Recht davon aus, dass die Kündigung nicht offensichtlich unwirksam war.

2. Der Beklagte musste auch nicht davon ausgehen, dass ein atypischer Fall vorlag, weil der Kläger ein Sonderopfer erbracht hätte.

aa) Wann ein Sonderopfer vorliegt, ist in der Rechtsprechung bislang nur vereinzelt zu anderen Soll-Vorschriften des SGB IX formuliert worden. Danach soll ein Sonderopfer vorliegen, wenn die Kündigung den schwerbehinderten Beschäftigten "in einer die Schutzzwecke des Schwerbehindertengesetzes berührenden Weise besonders hart" trifft. Dies sei der Fall, wenn die "Kündigung im Fall des Klägers zu einem Nachteil führt, der in seinen Auswirkungen so deutlich über die Konsequenzen hinausreicht, die für schwerbehinderte Beschäftigte typischerweise mit einer außerordentlichen Kündigung verbunden sind, dass insoweit die Behörde noch gesondert und ungeschmälert ihr Ermessen ausüben muss (Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. Juni 2011 - 3 L 246/09 -, Rn. 31, juris zu § 172 Abs. 3 SGB IX).

Diese Voraussetzungen sind in der veröffentlichten Rechtsprechung zu § 172 Abs. 3 SGB IX bislang - soweit ersichtlich - nicht bejaht worden. Auch ist dieser Folgen-Maßstab schwierig zu handhaben. Denn es gibt zahlreiche und vielfältige körperliche und seelische Beeinträchtigungen, durch die schwerbehinderte Arbeitssuchende in unterschiedlicher Weise benachteiligt sind. Daher stellt sich die Frage, ob es überhaupt "Konsequenzen" gibt, die Schwerbehinderte "typischerweise" treffen und wie zu bemessen ist, ob ein schwerbehinderter Arbeitssuchender "besonders hart" betroffen ist. Denn es wird gerade bei einer Schwerbehinderung ab GdB 50 häufig der Fall sein, dass der schwerbehinderte Arbeitssuchende schlechte oder keine Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt hat (vgl. z.B. die Aufzählung in § 155 Abs. 1 SGB IX).

So sieht das Gericht zwar, dass die Kündigung den Kläger hart trifft. Es wird für ihn sehr schwierig werden, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Er kann seit seinem Arbeitsunfall seinen erlernten Beruf als Schweißer nicht mehr ausüben. Auch als Lagerarbeiter wird er nur eingeschränkt oder gar nicht mehr arbeiten können. Denn aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen ist er weniger beweglich, kann nicht mehr schwer heben und kann selbst den Gabelstapler nicht mehr fahren, der für ihn umgebaut wurde. Hinzu kommt, dass seine Deutschkenntnisse voraussichtlich für manche Tätigkeiten nicht ausreichen. Jedoch gilt gerade für viele schwerbehinderte Beschäftigte, dass sie eine Kündigung hart trifft und sie es auf dem Arbeitsmarkt sehr schwer haben (vgl. z.B. Fall der Erblindung aufgrund eines Arbeitsunfalls bei OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. Juni 2011 - 3 L 246/09 -, Rn. 3, juris, bei dem eine Atypik nicht erwogen wurde).

Zwar könnte man prüfen, ob der Kläger ein besonders großes Opfer erbracht hat, indem er bei der Arbeit für die Beigeladene Teile seiner rechten Hand und seine Möglichkeit, als Facharbeiter zu arbeiten, verlor. Doch würde man den Arbeitsunfall des Klägers als atypischen Fall einführen, so rückte man von der reinen Folgenbewertung ab, und es stellten sich Fragen der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG. Denn der Schwerbehindertenschutz im SGB IX differenziert nicht nach dem Grund der Schwerbehinderung. Danach wäre es nicht zu rechtfertigen, einem Beschäftigten, der einen Arbeitsunfall erlitten hat, mehr Kündigungsschutz zuzusprechen als Beschäftigen, die psychische Beeinträchtigungen durch die Arbeit erlitten haben oder die von Geburt an schwerbehindert sind.

bb) Die Frage der Atypik muss zudem mit Blick auf den Sinn und Zweck des § 172 Abs. 3 SGB IX beantwortet werden. Dieser dient zusammen mit § 125 InsO dazu, dass es dem Arbeitgeber erleichtert wird, Beschäftigten zu kündigen, wenn er damit seinen Betrieb saniert (Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 1. Auflage 2018, § 5 Arbeitsrecht im Insolvenzverfahren Rn. 416, beck-online). Die Beteiligten sollen im Insolvenzfall schnell Klarheit über die Kündigungen haben (vgl. § 171 Abs. 5 SGB IX). Betriebsänderungen sollen nicht erschwert oder verzögert werden (NPGWJ/Neumann, 14. Aufl. 2020, SGB IX § 172 Rn. 33). Dahinter steht auch das Interesse der Gläubiger am Erhalt der Masse (vgl. BAG, Urt. v. 16.5.2019 - 6 AZR 329/18, NZA 2019, 1198 Rn. 27, beck-online). Aufgrund dieser Zwecke im Insolvenzverfahren ist ein atypischer Fall nur in besonderen Ausnahmekonstellationen denkbar. Insofern ist die Rechtsprechung zur Atypik bei der Sollvorschrift in § 174 Abs. 4 SGB IX nur bedingt übertragbar. Denn bei § 172 Abs. 3 SGB IX kommen zur betriebsbedingten Kündigung (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO) auch die besonderen Schutzvorschriften für den Erhalt des Betriebs im Insolvenzverfahren hinzu sowie die typisierten Schutzvorgaben für schwerbehinderte Beschäftigte nach § 172 Abs. 3 SGB IX. Ein atypischer Fall kann etwa zu prüfen sein, wenn ein Arbeitgeber die Kündigungsmöglichkeiten im Insolvenzverfahren missbraucht, um sich den Belastungen zu entziehen, die aus den besonderen Rechten schwerbehinderter Menschen folgen (vgl. BAG, Urt. v. 16.5.2019 - 6 AZR 329/18, NZA 2019, 1198 Rn. 44, beck-online). Die Beigeladene strukturierte hier aber den Betrieb und den Arbeitsbereich des Klägers umfassend um. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich oder dargetan, dass sie den Kläger als schwerbehinderten Beschäftigten benachteiligen wollte.

C - Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 VwGO. Gemäß § 188 Satz 2 VwGO ist das Verfahren gerichtskostenfrei.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO.

Referenznummer:

R/R9604


Informationsstand: 26.06.2023