Urteil
Anspruch auf Erstattung der den Festbetrag überschreitenden Eigenanteils einer Versorgung mit Hörgeräten durch die Krankenversicherung

Gericht:

SG Detmold 3. Kammer


Aktenzeichen:

S 3 KR 14/07


Urteil vom:

19.03.2009


Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.04.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.04.2007 verurteilt, der Klägerin die vollen Kosten der Hörgeräte "Oticon Syncro 2 Compact" nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu erstatten.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Erstattung des den Festbetrag übersteigenden Eigenanteils zur Versorgung mit Hörgeräten.

Die 1968 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Bei ihr besteht eine beidseitige Innenohrschwerhörigkeit, starke Kurzsichtigkeit kombiniert mit Stabsichtigkeit beider Augen.

Die Klägerin trägt bereits seit vielen Jahren Hörgeräte. In den Jahren 2004 und 2005 erfolgte eine Neuanpassung durch die Firma KIND Hörgeräte. Es wurden folgende Hörgeräte getestet:
KIND Syncro 2 Compact, KINDarcuris HS (H795), KINDsavia H 694, KIND H 791, KIND H 676 und KIND H 115.

Die Klägerin entschied sich schließlich für die Hörgeräte "Oticon Syncro 2 Compact" zu einem Gesamtpreis von 6.338,00 EUR.

Die Klägerin - die als Diplomhörgeschädigtenpädagogin tätig ist - beantragte nach eigenen Angaben zunächst beim Rentenversicherungsträger die Kostenübernahme der Hörgeräteversorgung. Wegen Nichterfüllung der Anwartschaftszeit leitete der Rentenversicherungsträger den Antrag an die Beigeladene weiter. Diese wies den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Bescheid vom 03.02.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2006
zurück.

Daraufhin wandte sich die Klägerin an die Beklagte.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 03.02.2006 eine Zuzahlung in Höhe des Festbetrages von 1.244,00 EUR. Den Antrag der Klägerin auf Übernahme der Mehrkosten lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20.04.2006 ab. Sie führte zur Begründung aus, dass Kosten oberhalb der Festbeträge grundsätzlich nicht erstattungsfähig seien. Soweit die Klägerin geltend machte, sie benötige besonders leistungsfähige Hörgeräte für ihren beruflichen Alltag, sei hierfür nicht die gesetzliche Krankenversicherung zuständig.

Hiergegen hat die Klägerin Widerspruch eingelegt. Sie macht geltend, sie sie auf die ausgewählten Hörhilfen im privaten wie beruflichen Bereich angewiesen. Sie arbeite in einem sehr kommunikationsintensiven Beruf, in dem es nicht nur auf das sehr genaue Verstehen des Gesagten, sondern auch auf Tonfall, Sprechmelodie und -rhythmus ankomme. Das genaue und schnelle Erfassen von Inhalten sei wesentlich. Aufgrund der zusätzlichen Sehschädigung leide sie zusätzlich unter einer schnellen Ermüdung der visuellen Aufnahmefähigkeit, die sich direkt auf ihre Konzentrationsfähigkeit und die Möglichkeit zum Verstehen von Sprache auswirkten. Eine hochwertige Hörgeräteversorgung erleichtere das Verstehen, verringere Verstehenslücken und ermögliche eine längere auditive und visuelle Konzentration.

Der durch die Beklagte eingeschaltete Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) kam in seinem Gutachten vom 04.08.2006 zu der Auffassung, eine Versorgung mit digitalen Hörgeräten der Produktgruppe 13.20.03 sei erforderlich. Dies gelt jedoch nicht für die für die Hörgeräte "Oticon Syncro 2 Compact". Soweit die Klägerin diese aus beruflichen Gründen benötige, seien andere Leistungsträger zuständig.

Zwischenzeitlich teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass nunmehr noch einen Betrag in Höhe von 3.938,00 EUR geltend gemacht werde. Die Beigeladene habe die Kosten für die beruflich benötigten Audioschutze und Funkempfänger übernommen.

Die von der Beklagten im Widerspruchsverfahren beauftragte Otop AG teilte mit Schreiben vom 28.09.2006 mit, die Klägerin könne mit Festbetragsgeräten ausreichend und zweckmäßig versorgt werden.

Unter Bezugnahme auf die Ausführungen des MDK und der otop AG wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.04.2007 als unbegründet zurück.

Am 08.05.2007 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie vertritt die Auffassung, ihre Behinderung könne mit einem Hörgerät, das ohne Eigenleistung zu haben sei, nicht hinreichend ausgeglichen werden. Weder der MDK noch die otop AG würden Festbetragsgeräte benennen, die einen ausgleichenden Behinderungsausgleich ermöglichen. Auch im privaten Bereich sei sie auf hochwertige Hörgeräte angewiesen. Die zusätzlich bestehende hochgradige Sehbehinderung erfordere das bestmögliche Hörvermögen im Umgang mit ihren beiden Kindern im öffentlichen Verkehr, auf Spielplätzen oder in ähnlichen Situationen. Die Hörgeräte "Oticon Syncron 2 Compact" seien zum Zeitpunkt der Anpassung als einzige Geräte mit einem sogenannten adaptiven Rundum-Mikrofon ausgestattet gewesen. Bei dieser Technik richte sich das Mikrofon auf den Sprechenden aus. Ohne diese Funktion wären Gespräche sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich erheblich schwieriger zu verfolgen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.04.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.04.2007 zu verurteilen, die vollen Kosten für die Versorgung mit den Hörgeräten "Oticon Syncron 2 Compact" nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte. Frau Dr. K., Fachärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde stellte bei der Klägerin eine Innenohrschwerhörigkeit (H90, 5GB) und eine psychosomatische Funktionsstörung (F45.8, G) fest. Der Augenarzt J. diagnostizierte eine starke Kurzsichtigkeit kombiniert mit Stabsichtigkeit beider Augen.

Des Weiteren hat das Gericht eine Auskunft der Firma KIND Hörgeräte eingeholt. Diese teilte mit, die Klägerin benötige Hörgeräte mit Feedbackmanagement, da es sonst zu ständigen Rückkopplungsgeräuschen komme. Eine Versorgung zum Festbetrag sei daher nicht möglich. Nach den Hörgeräteprotokollen seien Geräte zum Festbetrag oder zu einem geringeren Eigenanteil getestet worden. Bei guter Sprachverständigkeit sei eine zufriedenstellende Funktion im privaten sowie beruflichen Umfeld nicht zu realisieren gewesen. Insbesondere die Anforderungen in dem beruflichen Alltag unter akustisch teilweisen extremen Bedingungen hätten den Einsatz weitergehender Hörgerätetechnologie erforderlich gemacht. Mehrkanalige, volldigitale Geräte mit Rückkopplungssystem, mit Richtmikrofontechnik und Mehrprogrammgeräten zur offenen Anpassung hätten zum Festpreis nicht zur Verfügung gestanden. Ziel der Anpassung sei nicht gewesen, einen besonderen Hörkomfort sicherzustellen, sondern vielmehr den Einsatz der notwendigen Hörgeräteversorgung in allen Lebensbereichen zu ermöglichen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen. Die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH)

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Sie ist fristgerecht innerhalb der einmonatigen Klagefrist des § 87 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhoben worden, da der Widerspruchsbescheid der Klägerin erst am 13.04.2007 zugegangen ist.

Die Klage ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 20.04.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.04.2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG in ihren Rechten.

Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung des von ihr über den Festbetrag hinaus aufgewandten Betrages für die Versorgung mit den Hörgeräten "Oticon Syncro 2 Compact" nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften.

Rechtsgrundlage hierfür ist § 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Danach sind, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entsprechenden Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Der Klägerin sind weitere Kosten in Höhe von 3.998,00 EUR entstanden, weil die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Übernahme der Kosten für die Versorgung mit den Hörgeräten zu Unrecht abgelehnt hat. Die Klägerin hatte im Zeitpunkt der Ablehnung der Leistung einen Primäranspruch auf Versorgung mit den beantragten Hörgeräten als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Ihr Anspruch war nicht auf die Leistung des Festbetrages für digitale Hörgeräte beschränkt.

Grundlage für den Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit neuen Hörgeräten war § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen sind.
Ist für ein erforderliches Hilfsmittel ein Festbetrag nach § 36 SGB V festgesetzt, trägt gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 SGB V die Krankenkasse die Kosten bis zur Höhe dieses Betrages. Mit dem Festbetrag erfüllt die Krankenkasse gemäß § 12 Abs. 2 SGB V ihre Leistungspflicht.

Zwischen den Beteiligten ist es unstreitig, dass die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung mit neuen Hörgeräten hatte, um ihre Behinderung in Gestalt von beidseitiger Innenohrschwerhörigkeit auszugleichen.

Dem Anspruch auf Versorgung mit den beantragten Hörgeräten als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung stand nicht entgegen, dass die Klägerin die Geräte im Zeitpunkt der Ablehnung ihres Antrages bereits ausgehändigt erhalten hatte. Der Sachleistungsanspruch der Klägerin war zu diesem Zeitpunkt nicht anderweitig als durch Leistung der Beklagten befriedigt. Eine wegen Umgehung des Naturalleistungsprinzips nach § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, § 13 Abs. 1 SGB V grundsätzlich unzulässige Selbstbeschaffung liegt nur dann vor, wenn der Versicherte die Verfügungsbefugnis über ein Hilfsmittel bereits vor der Entscheidung der Krankenkasse über den Leistungsantrag in einer Weise erlangt, welche der Versorgung mit dem Hilfsmittel als Sachleistung durch die Krankenkasse entspricht. Denn nur dann kann von einer gemäß § 13 Abs. 1 SGB V unzulässigen Durchbrechung oder Umgehung des in § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V verankerten Naturalleistungsprinzips ausgegangen werden. Hat ein Leistungserbringer dem Versicherten ein Hilfsmittel nur faktisch kulanzhalber bzw. in Erwartung der baldigen Gewährung als Sachleistung zur Verfügung gestellt, ohne das dem eine gegenseitige vertragliche Vereinbarung zugrunde liegt, die dem Versicherten ein eigenes Recht zur Nutzung einräumt, dann liegt keine Selbstbeschaffung vor. Denn der Leistungserbringer hat in diesem Fall seine Verfügungsbefugnis nicht aufgegeben. Er könnte das Gerät jeder Zeit wieder herausverlangen, ohne dass sich der Versicherte diesem Ansinnen gegenüber aufgrund einer gesicherten Rechtsposition so zur Wehr setzen könnte wie gegenüber dem Herausgabeverlangen einer Krankenkasse, die ein Hilfsmittel als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung bindend bewilligt hat oder gegenüber der Rückforderung eines Verkäufers oder Vermieters. Nach der glaubhaften Aussage der Klägerin hat sie den hier streitigen Restbetrag erst nach Erhalt des Widerspruchsbescheides an die Firma KIND gezahlt. Bis dahin haben sich die Firma KIND bereit erklärt, auf diese Zahlung zu verzichten. Zu diesem Zeitpunkt war aufgrund der zwischenzeitlichen Ablehnung des Antrags durch die Beklagte der Anwendungsbereich des § 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 SGB V bereits eröffnet.

Zu Unrecht sieht die Beklagte ihre Leistungspflicht als erfüllt an, wenn sie sich darauf beschränkt, die Kosten des Hörgerätes bis zur Höhe des Festbetrages nach § 36 SGB V zu übernehmen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden, dass die Festbetragsregelungen grundsätzlich mit Verfassungsrecht in Einklang stehen (vgl. Urteil vom 17.12.2002, 1 BvL 28/95). Es bestehe allerdings Anlass darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber das Sachleistungsprinzip nicht habe aufgeben wollen. Soweit in den Gesetzesmaterialien erwähnt werde, es könne sich vorübergehend, insbesondere in der Anfangsphase, ergeben, dass für den Festbetrag kein Mittel auf dem Markt zur Verfügung stehe, so dass Versicherte sogar notwendige Mittel nur mit Zuzahlung erhalten könnten, findet dies im Gesetzestext keine Stütze. Die Versicherten müssten sich nicht mit Teilkostenerstattung zufrieden geben. Welche Bedeutung der Zusatz "im Allgemeinen" in § 35 Abs. 5 Satz 1 SGB V i.V.m. § 36 Abs. 3 SGB V zukomme, würden die Gerichte zu klären haben. Die Landesverbände hatten bei der Festsetzung der Festbeträge jedenfalls darauf zu achten, dass sie den gesetzlichen Rahmen nicht verletzten. Eine Abkehr von Sachleistungsprinzip sei von so erheblicher Tragweite für das System der gesetzlichen Krankenversicherung, dass nur der Gesetzgeber selbst sie verantworten könnte, er habe diese Entscheidung ersichtlich nicht getroffen und sie auch ungeachtet der Frage nach ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit nicht in das Gestaltungsermessen der Verbände gegeben.

Dem folgend hat auch das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass der für ein Hilfsmittel festgesetzte Festbetrag die Leistungspflicht dann nicht begrenzt, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht (vgl. Urteil vom 23.01.2003, B 3 KR 7/02 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 1). Die Beurteilung, ob ein Hilfsmittel für das ein Festbetrag festgesetzt ist, gleichwohl ohne Beschränkung auf den Festbetrag durch die gesetzliche Krankenversicherung bereitzustellen ist, um den gebotenen Behinderungsausgleich zu erzielen, richtet sich nach der Entscheidung des BSG nach einem an der konkreten Behinderung des Versicherten ausgerichteten individuellen Maßstab.

Der Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Hörgeräten richtet sich darauf, ihn soweit es seine Behinderung zulässt und technisch machbar ist, in die Lage zu versetzen, im Alltag mit normal Hörenden gleichzuziehen.

Ziel der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln ist die Förderung ihrer Selbstbestimmung und ihrer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch). Die sich daraus ergebende Frage, welche Qualität und Ausstattung ein Hilfsmittel haben muss, um als geeignete, notwendige, aber auch ausrechende Versorgung des Versicherten gelten zu können, beantwortet sich danach, welchem konkreten Zweck die Versorgung im Einzelfall dient. Soll ein Hilfsmittel die Ausübung einer beeinträchtigten Körperfunktion unmittelbar ermöglichen, ersetzen oder erleichtern, ist grundsätzlich ein Hilfsmittel zu gewähren, das die ausgefallene bzw. gestörte Funktion möglichst weitgehend kompensiert, also den umfassendsten Gebrauchsvorteil bietet. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen müssen insoweit dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V). Nur wenn es um einen Ausgleich ohne Verbesserung elementarer Körperfunktionen allein zur Befriedigung eines sonstigen allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens geht, bemisst sich der Umfang der Leistungspflicht der Krankenkasse nicht nach dem technisch Machbaren (vgl. BSG, Urteil vom 23.07.2002, B 3 KR 66/01 R). Sind die Gebrauchsvorteile eines konkreten Hilfsmittels im Vergleich mit einem anderen weder auf spezielle Lebensbereiche begrenzt, noch in der Bequemlichkeit oder im Komfort der Nutzung erschöpft, sondern bieten sie deutliche Gebrauchsvorteile im Alltag, erstreckt sich der Sachleistungsanspruch des Versicherten auf das technisch fortschrittlichere Hilfsmittel (vgl. BSG, Urteil vom 06.06.2002, B 3 KR 68/01 R).

Bei Hörgeräten handelt es sich um Hilfsmittel, die unmittelbar dem Ausgleich einer körperlichen Grundfunktion - dem Hören - dienen. Sie setzen direkt an der Behinderung an und unterstützen die Funktion des Hörens in jeder Situation und an jedem Ort, mithin in allein Lebensbereichen.
Kann ein optimaler Ausgleich der konkreten Hörbeschädigung nicht mit dem zum Festbetrag angebotenen Hörgeräten erzielt werden, sondern nur mit teureren Geräten, ist die Krankenkasse deshalb zur Versorgung ohne Beschränkung auf den Festbetrag verpflichtet. Das Risiko, Mittel zur Hilfsmittelversorgung weit über den an Hand der Festbeträge prognostizierten Finanzbedarf hinaus bereitstellen zu müssen, geht in diesem Falle zu Lasten der Versicherungsträger, deren Spitzenverbände die unzureichend differenzierten Festbeträge festgesetzt haben.

Die Kammer sieht es als erwiesen an, dass die Klägerin den im Sinne von § 12 Abs. 1 SGB V erforderlichen Versorgungsstandard zum Ausgleich ihrer Hörminderung nur mit den beantragten Hörgeräten "Oticon Syncro 2 Compact" oder technisch gleichwertig ausgestatteten Geräten erreichen kann. Sie schließt dies aus den Ergebnissen der vergleichenden Anpassungen der Hörgeräte durch die Firma KIND gemäß deren Erläuterungen vom 19.09.2008 und der diesem Schreiben beigefügten Anpassungsberichte.

Die Kammer hat vor dem Hintergrund der bereits vorliegenden Anpassungsberichte darauf verzichtet, weitergehend, gleichsam "auf Verdacht", zu ermitteln, ob es nicht auf dem Markt für Hörgeräte noch andere Hörgeräte mit vergleichbaren Gebrauchsvorteilen geben könnte, die einzelne Hörgeräteakustiker oder Hersteller preiswerter abzugeben bereit wären. Dies würde die Grenzen der Amtsermittlung sprengen. Das Hilfsmittelverzeichnis nach § 128 SGB V weist in der für die Klägerin einschlägigen Produktgruppe eine Vielzahl von Geräten aus. Es wäre nicht vertretbar, auf die spekulative Überlegung hin, es könne bei vergleichbarem Anpassungserfolg ein preiswerteres als das angepasste Hörgerät geben, sämtliche infrage kommenden Hörgeräte auf ihre Eignung und ihre aktuellen Marktpreise hin zu überprüfen. Kein als Sachverständiger in Betracht kommender Hörgeräteakustiker verfügt in seiner Niederlassung über eine derart breite Produktpalette und den Überblick über sämtliche Abgabepreise. Die Preise für Hörgeräte werden ohnehin frei kalkuliert und können ständigen Änderungen unterliegen. Eine vergleichende Anpassung wäre zudem nur unter Mitwirkung des Versicherten denkbar. In der gebotenen Breite wäre dies praktisch nicht durchführbar. In Anlehnung an die Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen in anderen Bereichen des sozialen Leistungsrechts geht die Kammer deshalb auch hier von einer gestuften Darlegungs- und Beweislast aus. Hat der Versicherte mit der Anpassung eines bestimmten Hörgerätetyps durch einen Hörgeräteakustiker oder einen anderen beruflich qualifizierten Leistungserbringer nachgewiesen, dass das angepasste Hörgerät im Alltag wesentliche Gebrauchsvorteile gegenüber den bisherigen Geräten aufweist, dann ist es Sache der gegebenenfalls sachverständig beratenen Krankenkasse, nachprüfbar darzulegen, welche konkreten Hörgeräte sie als preiswertere Versorgungsalternative für geeignet und ausreichend erachtet, um einen vergleichbaren Versorgungserfolg zu erzielen. Nur wenn die Überlegenheit des vom Versicherten gewählten Hilfsmittel gegenüber dem von der Krankenkasse zu benennenden Gerät in einer vergleichenden Funktionserprobung nicht positiv feststellen lässt, geht die Unerweislichkeit zu Lasten des Versicherten. Eine solche Situation lag hier jedoch nicht vor. Die von der Beklagten in ihrem Schreiben vom 15.08.2007 aufgezeigten Versorgungsalternativen bieten nach der nachvollziehbar begründeten Stellungnahme der Firma KIND vom 24.06.2007 keinen ausreichenden Behinderungsausgleich bzw. waren zum Zeitpunkt der Hörgeräteanpassung am Markt noch gar nicht verfügbar.
Im Verhältnis zum Versicherten rechnet die Kammer den Hörgeräteakustiker als Leistungserbringer grundsätzlich dem Lager der Krankenkasse zu. Die Krankenkasse ist gegenüber dem Versicherten zur Sachleistung verpflichtet. Sie stellt diese Sachleistung allerdings nicht selbst zur Verfügung, sondern bedient sich insoweit eines vertraglich gebundenen Leistungserbringers. Ist dieser - wie hier - nicht in der Lage, eine ausreichende Versorgung zum Festbetrag zu erbringen, kann es nach Auffassung der Kammer nicht ausreichen, wenn sich die Krankenkasse pauschal auf die Festbetragsregelung zurückzieht, ohne gleich geeignete und preisgünstigere Versorgungsmöglichkeiten vorzuschlagen.

Die Versorgung der Klägerin mit den beantragten Hörgeräten bürdet der Beklagten nicht zu Unrecht versicherungsfremde Leistungen der beruflichen Rehabilitation bzw. der Eingliederungshilfe auf. Auf den konkreten Anlass der Neuanpassung kommt es dabei nicht an. Die Gebrauchsvorteile der von der Klägerin ausgewählten Hörgeräte wirken sich in allen Lebensbereichen aus. Die Versorgung mit Hörgeräten ist keinem der speziellen Sicherungssysteme für die Eingliederung Behinderter ausschließlich oder vorrangig zugewiesen. Deren Ziele treten hinter dem angestrebten allgemeinen Behinderungsausgleich zurück. Nach den Grundsätzen in der Rechtsprechung des BSG ist die Versorgung mit Hörgeräten unabhängig von deren technischer Ausstattung stets eine originäre Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. Urteile vom 06.06.2002, B 3 KR 68/01 R und vom 23.07.2002, B 3 KR 66/01 R).

Die Zuerkennung der zum Ausgleich der konkreten Hörschädigung im Einzelfall erforderlichen Hörgeräte zu einem Beschaffungspreis, der notfalls über dem Festbetrag hinausgeht, widerspricht schließlich auch nicht dem gesetzlichen Zweck der Festbetragsregelung, die Hilfsmittelversorgung durch Preiswettbewerb wirtschaftlicher zu gestalten. Die von der Klägerin beantragten Hörgeräte bieten durch die Ausstattung mit Richtmikrofon und digitaler Sprachverarbeitung wesentliche Vorteile im privaten und beruflichen Alltag.

Sie sind deshalb nach den Maßstäben für die Versorgung mit Hilfsmitteln, welche eine Einschränkung der körperlichen Grundfunktion direkt ausgleichen, für die konkrete Erforderlichkeit der Hilfsmittelversorgung ausschlaggebend. Der Nutzen dieser Ausstattung beschränkt sich nicht auf eine bloße Verbesserung der Bequemlichkeit oder des Komforts. Die Festbetragsregelungen berücksichtigen jedoch die Gebrauchsvorteile dieser Ausstattungsmerkmale nicht, Ein Abweichen von den Festbeträgen, soweit dies im konkreten Fall zum Ausgleich der Behinderung erforderlich ist, kann den Steuerungszweck einer Festbetragsregelung nicht unterlaufen, wenn die Gruppierung der Festbeträge die maßgeblichen Versorgungskriterien ohnehin verfehlt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Referenznummer:

R/RBIH6757


Informationsstand: 21.07.2015