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Urteil
Versorgung im Wege einer einstweiligen Anordnung mit zwei Prothesenfüße, einem Unterdrucksystem sowie zwei neuen Unterschenkelprothesenschäften

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 9. Senat


Aktenzeichen:

L 9 KR 132/14 B ER


Urteil vom:

13.08.2014


Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 25. März 2014 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Rechtsweg:

SG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 25.03.2014 - S 27 KR 18/14 ER

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Gründe:

1.) Der Vorsitzende und Berichterstatter konnte über die Beschwerde gemäß §§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) allein entscheiden, weil die Verfahrensbeteiligten hierzu ihr Einverständnis zu Protokoll erklärt haben.

2.) Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 25. März 2014 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat seinen Antrag, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihn vorläufig, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, mit zwei Prothesenfüßen "Echelon VT", einem LimbLogic Unterdrucksystem sowie zwei neuen Unterschenkelprothesenschäften zu versorgen, im Ergebnis rechtsfehlerfrei abgelehnt.

3.) Ein Anordnungsanspruch lässt sich mit der für das einstweilige Rechtsschutzverfahren erforderlichen Wahrscheinlichkeit derzeit nicht feststellen (vgl. § 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

a) Nach § 33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).

Da mit den Unterschenkelprothesen der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem die nicht vorhandenen Gliedmaßen künstlich ersetzt werden, hat die Prüfung des Anspruchs anhand des § 33 Abs. 1 Satz 1, dritte Alternative SGB V zu erfolgen. Im Vordergrund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 2/08 R juris, dort RdNr. 18 [Badeprothese]; Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, juris, dort RdNr. 12 ff. [C-Leg], Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 9. Senat, Urteil vom 09. März 2011 - L 9 KR 152/08 -, juris).

b) Mit einer stattgebenden Entscheidung des Senats wäre eine endgültige Vorwegnahme der Hauptsache verbunden, weil der vom Antragsteller geltend gemachte Anspruch nicht nur in vollem Umfang erfüllt würde, sondern die einstweilige Versorgung für die Antragsgegnerin auch nicht ohne eine erhebliche Kostenbelastung rückgängig zu machen wäre. Denn die von der Antragsgegnerin zu finanzierenden Unterschenkelprothesen könnten wegen der Notwendigkeit der Anpassung auf die spezielle Behinderungssituation des Antragstellers - anders als bei anderen Hilfsmitteln - im Falle des Unterliegens des Antragstellers im Hauptsacheverfahren nicht mehr für andere Versicherte verwendet werden. Die Antragsgegnerin wäre deshalb in diesem Fall auf den Weg des Schadensersatzes nach § 935 ZPO verwiesen, der bei so teuren Hilfsmitteln wie im vorliegenden Fall (ca. 28.000 EUR 2013) regelmäßig nur schwer durchzusetzen wäre. Deshalb sind an das Vorliegen der oben genannten Voraussetzungen für den Behinderungsausgleich als Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs im einstweiligen Verfahren die gleichen Anforderungen zu stellen wie für einen Anspruch in einem Hauptsacheverfahren, zumal der Antragsteller bei einer stattgebenden einstweiligen Entscheidung an der Durchführung eines solchen Hauptsacheverfahrens wegen der vollen Vorwegnahme der Hauptsache kein Interesse mehr haben dürfte, so dass eine endgültige Klärung der zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfrage für die Antragsgegnerin nur schwer zu erlangen wäre.

c) Auch wenn der Antragsteller durch sein detailliertes Vorbringen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zahlreiche Anhaltspunkte dafür vorgebracht hat, dass die von ihm begehrten Unterschenkelprothesen die derzeit fortschrittlichsten, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel in diesem Bereich darstellen, so dass sie dem aktuellen Stand des medizinischen und technischen Fortschritts auf diesem Gebiet entsprechen könnten, bleiben daran im Hinblick auf das schlüssige Vorbringen der Antragsgegnerin nicht unerhebliche Zweifel, die durch eine Beweiserhebung ausgeräumt werden müssten. Aus den von der Antragsgegnerin eingeholten Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 03. Juli 2013 und 04. September 2013 ist zu entnehmen, dass der MDK einen überlegenen therapeutischen Nutzen der begehrten Unterschenkelprothesen gegenüber einer alternativen (und preiswerteren) Versorgung sowohl im Hinblick auf die tatsächliche Gehfähigkeit des Antragstellers als auch die medizinische Datenlage nach aussagekräftigen klinischen Studien nicht zu erkennen vermochte. Es bedürfte deshalb - auch nach Auffassung des MDK - der Erprobung verschiedener Prothesenelemente zur Feststellung, mit welchem klinisch erprobten System der Antragsteller am besten laufen könnte; zur Beurteilung der hierbei zu klärenden medizinischen und technischen Fragen müssten ein medizinischer Sachverständiger und ein sachverständiger Orthopädiemeister eingeschaltet werden. Für die Antragsgegnerin könnte dies bedeuten, dass sie dem Antragsteller mehrere alternative Unterschenkelprothesen - auf seine anatomischen Verhältnisse zugeschnitten - allein für diese Hilfsmittelerprobung zur Verfügung stellen müsste, was erhebliche Kosten verursachen könnte, weil am Ende nur ein System zu bewilligen wäre. Die damit zusammenhängenden Fragen sind jedoch im Hauptsacheverfahren zu klären.

4.) Die Sozialgerichte dürfen sich bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in denen Leistungsansprüche eines Versicherten gegen eine gesetzliche Krankenkasse streitig sind, nicht schlechthin auf die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren beschränken. Drohen dem Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216); NJW 2003,1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren; in diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat (vgl. hierzu Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 32 RdNr. 177 mit umfassendem Nachweis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. NZS 2000, 510 ff.). Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 (73)). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, dass diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfGE 68, 193 ( 218)) aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgeabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtsschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz, sowie dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. zuletzt: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Februar 2014, L 9 KR 293/13 B ER, juris).

5.) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze steht dem Antragsteller bei einer Folgenabwägung kein Anspruch auf die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel zu. Dabei lässt sich der Senat von folgenden Überlegungen leiten: Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller mit Bescheid vom 09. Juli 2013 ein Paar neue Unterschenkelprothesenschäfte und ein Paar neue Prothesenfüße herkömmlicher Art bewilligt. Es ist dem Antragsteller - auch nach dem Ergebnis der Gehprobe beim MDK - bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zuzumuten, von dieser Bewilligung Gebrauch zu machen, die bewilligten Hilfsmittel anzunehmen und seinen Versorgungsanspruch mit der von ihm gewünschten Alternativversorgung in einem Hauptsacheverfahren weiterzuverfolgen. Denn es ist nicht erkennbar, dass er in diesem Fall schwerwiegenden, nicht wieder rückgängig zu machenden Nachteilen ausgesetzt wäre. Entspräche die von ihm gewünschte Versorgung dem aktuellen Stand des medizinischen und technischen Fortschritts, hätte die Antragsgegnerin mit der Zurverfügungstellung eines anderen, technisch veralteten Hilfsmittels seinen Leistungsanspruch nicht erfüllt mit der Folge, dass er trotz anderweitiger Versorgung dessen Erfüllung weiterhin verlangen könnte. Demgegenüber würde die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Leistung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht nur zu den oben bereits beschriebenen für sie nur schwer rückgängig zu machenden Nachteilen führen; vielmehr liefe sie Gefahr, bei der vom Antragsteller begehrten Versorgung diesem eine Leistung zu bewilligen, deren klinische Wirksamkeit derzeit nicht belegt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens selbst.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

Referenznummer:

R/R6440


Informationsstand: 05.02.2015