Urteil
Gesetzliche Krankenversicherung: Versorgung mit Hilfsmitteln - Übernahme der Kosten eines GPS-Navigationsgerätes für einen blinden Versicherten

Gericht:

SG Marburg 6. Kammer


Aktenzeichen:

S 6 KR 38/12


Urteil vom:

29.05.2013


Grundlage:

Tenor:

1. Der Bescheid vom 14.09.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2012 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger entsprechend dem Angebot der Firma D. das sprachgesteuerte Navigationssystem für Blinde "Trekker Breeze" als Sachleistung zur Verfügung zu stellen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung eines Navigationssystems für blinde Menschen mit Sprachausgabe mit dem Namen "Trekker Breeze" zum Preis von 880,00 EUR.

Unter Vorlage eines entsprechenden Angebots der Firma D. A-Stadt vom 14.06.2011 beantragte der Kläger, der keinen Blindenführhund besitzt, mit Schreiben vom 04.07.2011 die entsprechende Kostenübernahme. Im Straßenverkehr müsse er sich alleine auf sein Gehör bzw. die Unterstützung durch den Blindenlangstock verlassen. Durch den Einsatz eines modernen Navigationssystems, welches speziell für die Bedürfnisse blinder Nutzer entwickelt worden sei, würde seine Mobilität deutlich verbessert. Eine genaue Ortsbestimmung, die Orientierung in unbekannter Umgebung sowie die Planung von ganzen Routen seien mit diesem Hilfsmittel so bequem und ohne sehende Unterstützung möglich.

Die Beklagte beauftragte den MDK mit einer Beurteilung des Antrags. Frau Dr. C. kam in ihrem Gutachten vom 26.07.2011 zu der Einschätzung, dass der Versicherte bereits mit diversen Blindenlangstöcken ausgerüstet sei. Des Weiteren sei ein Rezept eines Allgemeinarztes vorgelegt worden. Gemäß Hilfsmittelrichtlinie sei jedoch zur Verordnung von blinden Hilfsmitteln grundsätzlich eine augenärztliche Verordnung erforderlich. Sie empfehle deshalb der Beklagten die Kostenübernahme abzulehnen.

In einem Gutachten vom 06.09.2011 bestätigte die Gutachterin des MDK erneut diese Auffassung. Mit Hilfe der Blindenlangstöcke und dem dazugehörigen Mobilitätstraining sei der Kläger befähigt, sich zu Hause und im Freien zu bewegen und seine notwendigen Geschäfte, Arztbesuche etc. zu erledigen. Er habe nicht den besonderen Bedarf für den "Trekker Breeze" dargelegt.

Auf dieser Grundlage wies die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 14.09.2011 zurück. Hiergegen richtet sich der Widerspruch des Klägers vom 28.09.2011. Zur Begründung führte er aus, dass er insbesondere keinen Blindenführhund besitze. Er sei sowohl beruflich auch als privat sehr viel unterwegs und da auf den Trekker angewiesen, insbesondere dann, wenn es um das Auffinden unbekannter Straßen, Arztpraxen, Geschäfte etc. gehe. Am Wochenende gehe er sehr viel mit seinem Hund im Wald spazieren. Dabei habe er sich bereits des Häufigeren verlaufen. Ein Trekker helfe ihm, seine Freizeit autonom zu gestalten und jederzeit die Orientierung wiederzuerlangen.

Die Beklagte leitete den Widerspruch erneut an Frau Dr. C. vom MDK weiter. Diese bekräftigte in einem Gutachten vom 14.10.2011 erneut ihre Vorauffassung. Es gebe inzwischen genügend Handys, auf die ein GPS-System heruntergeladen werden könne. Sowohl ein Handy als auch ein GPS-System seien Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. Hierfür sei die Krankenkasse nicht kostenpflichtig.

Mit Schreiben vom 06.02.2012 bat die Beklagte den LWV Hessen um Amtshilfe zur Prüfung des Sachverhalts nach den Vorschriften des SGB XII. Dieser leitete das Gesuch an den Magistrat der Stadt Marburg, Sozialamt, weiter. Mit Bescheid vom 28.02.2012, direkt adressiert an den Kläger, lehnte der Magistrat der Stadt Marburg einen Antrag auf die Gewährung von Eingliederungshilfe ab. Er verweist auf den absoluten Nachrang von Sozialhilfemitteln. Das Blindengeld diene unter anderem zur Deckung der behinderungsbedingten Mehraufwendungen und könne auch für die Anschaffung eines Navigationsgerätes verwendet werden.

Die Beklagte wies sodann den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2012 zurück. Im vorliegenden Fall gehe es um ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich, weil das Navigationsgerät nicht das behinderungsbedingt stark eingeschränkte Sehvermögen wiederherstellen könne, sondern die ausgefallene bzw. eingeschränkte Körperfunktion durch die Nutzung des nicht beeinträchtigen Hörvermögens kompensiere, indem die Information über eine Sprachausgabe für den sehbehinderten Menschen hörbar gemacht würden. Im Rahmen dieses mittelbaren Behinderungsausgleichs gehe es nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der GKV sei allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben zu führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinaus gehende berufliche oder soziale Rehabilitation sei hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich sei daher von der GKV nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitige oder mildere und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betreffe - sogenannter Basisausgleich. Nach ständiger Rechtsprechung gehörten zu diesem allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören und Nahrung aufnehmen, Ausscheiden, elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen, sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Das hier in Frage kommende Grundbedürfnis, Erschließen eines gewissen körperlichen Freiraumes, sei jedoch von der GKV nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung sicherzustellen und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden. Das BSG habe insoweit zunächst auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß zurücklege, später habe es das Grundbedürfnis auf die Fähigkeiten konkretisiert, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft zu kommen oder die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien. Dieser Basisausgleich sei durch die Versorgung mit Blindenlangstöcken sichergestellt. Dass sich der Kläger mit Hilfe des Langstocks im Nahbereich um die eigene Wohnung nicht zumutbar orientieren könne, vermöge man nicht festzustellen. Im Übrigen nahm die Beklagte Bezug auf die Einschätzungen des MDK sowie des Magistrats der Stadt Marburg.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage vom 09.03.2012, zunächst erhoben als Untätigkeitsklage, später geändert in eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage.

Der Kläger trägt vor, im Unterschied zu einem handelsüblichen Navigationssystem bzw. einer Navigationssoftware in einem Handy, sei der "Trekker Breeze" schon rein äußerlich den Bedürfnissen eines Blinden angepasst. So sei der Trekker mit einer Hand bedienbar und weise, wie auch beim Daisy Player gut tastbare große Tasten auf. Darüber hinaus sei er mit elementaren Funktionen ausgestattet, die ein handelübliches Navigationssystem nicht in der Lage sei zu leisten. So würden dem Blinden z. B. spezielle Informationen zur Bewältigung einer komplizierten Kreuzung, wie z. B. Ampelschaltung oder Beschaffenheit der Kreuzung geben. Dem Blinden sei es darüber hinaus möglich, Geschäfte, Behörden oder Hauseingänge eigenständig aufzufinden. Im Gegensatz dazu seien handelsübliche Navigationssysteme bzw. die entsprechende Software für ein Handy für einen blinden Menschen unbedienbar. Die Eingabe des Zieles setze zwingend das Sehvermögen voraus. Erst wenn das Ziel eingegeben und gefunden worden sei, werde der Nutzer mittels einer Sprachsteuerung geführt. Sonderinformationen, wie z. B. Ampelschaltung, Straßennamen oder die Rückführfunktion seien mit einem handelsüblichen Navigationssystem oder -software nicht möglich. Der Langstock, wie auch der Blindenführhund dienten zwar grundsätzlich dem Blinden zur Orientierung, doch seien beide nicht in der Lage, Straßennamen, Hausnummern, spezielle Hauseingänge etc. aufzufinden. Mit dem Trekker sei es dem Blinden auch möglich sich in völlig fremden Gebieten zurechtzufinden, wie z. B. in einem Wald. Auch hier führe der Trekker den Blinden sicher an sein Ziel. Sollte der Blinde sich einmal verlaufen, so biete der Trekker die Möglichkeit, exakt den zurückgelegten Weg in umgekehrter Reihenfolge zurückzulaufen, d. h. der Trekker führe den Blinden an den Ausgangspunkt zurück. Der Trekker versetze ihn in die Lage, eigenständig Ausflüge, Arztbesuche, Einkäufe etc., wie sie jeder sehende Mensch auch vornehmen könne, zu tätigen. Die Entfaltung der Persönlichkeit verbunden mit der Bewegungsfreiheit und Kommunikation durch Aufsuchen anderer Menschen, kultureller Veranstaltungen etc. gehöre zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Zur Wahrnehmung dieser Grundbedürfnisse sei der Trekker notwendig. Sowohl der Blindenlangstock als auch ein Blindenführhund seien geeignet, sich im öffentlichen Straßenverkehr sicher bewegen zu können, jedoch nur soweit es die eigene Orientierung zulasse. Genau dies sei der Ansatzpunkt für den "Trekker Breeze". Dieser erhöhe nicht notwendigerweise die Sicherheit im Straßenverkehr, ermögliche jedoch eine adäquate Orientierung, um sich dann mit dem Langstock und/oder dem Blindenführhund sicher fortbewegen zu können. Der Trekker stelle mithin keine Alternative zum Langstock bzw. Blindenführhund dar.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 14.09.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm entsprechend dem Angebot der Firma D. das sprachgesteuerte Navigationssystem für Blinde "Trekker Breeze" zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt im Wesentlichen Bezug auf die Gründe des Widerspruchsbescheides.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte, auch die Prozessakte zum Az.: S 6 KR 23/12 ER, verwiesen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Hessen

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 14.09.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat einen Anspruch auf Ausstattung mit dem "Trekker Breeze".

Rechtsgrundlage dieses Anspruchs ist § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Hiernach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, wenn sie erstens nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens oder nach § 34 Abs 4 SGB V aus der GKV-Versorgung ausgeschlossen und zweitens im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen.

Diese Voraussetzungen liegen vor. Das Gericht folgt in der Beurteilung des Hilfsmittels dem Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 25.06.2009, Aktenzeichen: B 3 KR 4/08 R. Danach kann ein GPS-System für blinde oder sehbehinderte Menschen ein Hilfsmittel zum Ausgleich von Behinderungsfolgen iS von § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V sein. Dem steht weder die fehlende Aufführung im Hilfsmittelverzeichnis der GKV noch eine Qualifizierung als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens entgegen.

Im vorliegenden Einzelfall gewährt das GPS-System auch Vorteile, die dem von der GKV abzudeckenden Bereich der medizinischen Rehabilitation zuzurechnen sind.

Für den Ausgleich von Folgen krankheitsbedingter Mobilitätseinschränkungen haben die Krankenkassen im Gefüge der verschiedenen Sozialleistungsträger nur einzustehen, soweit die Bewegung im Nahbereich der Wohnung eines Versicherten betroffen ist und das beanspruchte Hilfsmittel hierfür einen besonderen Gebrauchsvorteil bietet; Auch nach Inkrafttreten des SGB IX (vgl hier § 31 Abs 1 Nr 3 SGB IX) ist die GKV nicht für den Ausgleich sämtlicher direkter und indirekter Behinderungsfolgen zuständig. Ihre Aufgabe ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Für darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitationsziele haben hingegen andere Sozialleistungssysteme aufzukommen.

Demgemäß ist ein Hilfsmittel zum Ausgleich von direkten oder indirekten Folgen einer Behinderung - mittelbarer Behinderungsausgleich - nur "erforderlich" iS von § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (stRspr; vgl zuletzt BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7 jeweils RdNr 12 - schwenkbarer Autositz bei Wachkomaversorgung; BSGE 91, 60 RdNr 9 = SozR 4-2500 § 33 Nr 3 RdNr 10 - Rollstuhl-Ladeboy; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 31 S 185 - Rollstuhl-Bike; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 32 S 191 - Therapie-Tandem - jeweils mwN) . Räumlich bezieht sich dies im Bereich der Mobilität auf den Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 29, 31, 32 sowie BSG SozR 3-1200 § 33 Nr 1; stRspr). Dazu ist der Versicherte nach Möglichkeit zu befähigen, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegende Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 31 S 187 - Rollstuhl-Bike). Ausnahmen hiervon hat der Senat nur bei besonderen zusätzlichen Merkmalen gemacht - etwa im Hinblick auf die besonderen Entwicklungsanforderungen von Kindern und Jugendlichen (vgl zB BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 46 S 259 mwN - behindertengerechtes Dreirad für Kinder) oder unter besonderen Umständen im Rahmen der medizinischen Versorgung (vgl BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7, jeweils RdNr 13 - schwenkbarer Autositz bei Wachkomaversorgung; vgl auch Senatsurteil vom 20.11.2008 - B 3 KN 4/07 KR R -, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen (Urteilsabdruck RdNr 16) - Kraftknoten).

Für das hier beanspruchte Hilfsmittel gelten die vorgenannten Maßstäbe entsprechend. Ziel der Versorgung mit einem GPS-System ist die Milderung von Folgen des Ausfalls oder der wesentlichen Beeinträchtigung des Sehvermögens und damit der Ausgleich mittelbarer Behinderungsfolgen. Hierfür hat die GKV nach den dargelegten Maßstäben nur aufzukommen, soweit es der Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse dient. Das beurteilt sich bei Mobilitätseinschränkungen infolge von Blindheit oder Sehbehinderung nicht anders als bei Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates; in beiden Fällen erstreckt sich die Ausgleichsverpflichtung der Krankenkasse unabhängig von dem Grund der Beeinträchtigung räumlich nur auf den Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht, und dem Gegenstand nach auf diejenigen Mittel, die für diesen Nachteilsausgleich funktionell erforderlich sind.

Hiervon ausgehend besteht Anspruch auf Versorgung mit einem GPS-System für blinde und sehbehinderte Menschen durch die GKV, wenn sich der Versicherte nach den Umständen des Einzelfalls ohne diese Unterstützung im Nahbereich um die eigene Wohnung nicht zumutbar orientieren kann und das GPS-System deshalb einen wesentlichen Gebrauchsvorteil im dargelegten Sinne bietet. Das ist nicht der Fall, wenn dem Versicherten die Orientierung im Umfeld um die Wohnung trotz Blindheit oder Sehbehinderung aus eigenem Vermögen oder mit anderen Hilfsmitteln - insbesondere einem Blindenführhund - vertraut ist und Orientierungsdefizite insoweit nicht bestehen (BSG, Urteil vom 25.06.2009, Aktenzeichen: B 3 KR 4/08 R).

Der Kläger verfügt ausschließlich zu seiner Orientierung über Blindenlangstöcke und kann gerade nicht auf die Fähigkeiten eines Blindenführhundes zu seiner Orientierung zurückgreifen. Im Übrigen geht das Gericht davon aus, dass eine Orientierung in dem vom BSG definierten Nahbereich - nämlich dem Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß zu erreichen vermag - nur mit der Hilfe von Blindenlangstöcken nur höchst eingeschränkt, nämlich ausschließlich auf geübten und bekannten Wegen, möglich ist. Der Kläger hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es im Sinne des mittelbaren Behinderungsausgleichs auch gewährleistet sein muss, dass im Wohnungsumfeld Wege unternommen werden können, um so einen körperlichen und geistigen Freiraum zu erschließen. Dabei gehört es auch zur Erschließung dieses Freiraums, nicht auf einige wenige bekannte Wege im Sinne einer körperlichen Betätigung verwiesen zu werden, sondern im Sinne der Erschließung eines geistigen Freiraums, auch die Möglichkeit zu haben, sich bisher unbekannte Wege, Lokalitäten, Geschäfte etc. im Nahbereich zu erschließen, was für jeden Sehenden eine Selbstverständlichkeit ist. Bei weitem geht es dabei nicht darum, ein Gleichziehen mit den Möglichkeiten eines Sehenden zu erreichen, sondern auch um die absolute Basisversorgung.

Dem ortskundigen Gericht ist das häusliche Umfeld des Klägers bekannt. Es handelt sich um eine reine mit wenigen Gewerbebetrieben durchsetzte Wohnsiedlung in ländlicher Umgebung auf einem Berg. Die übliche Infrastruktur des Nahbereichs, d.h. Geschäfte, Ärzte etc. ist dort nicht anzutreffen, sondern der Kläger ist darauf angewiesen - auch für die üblichen alltäglichen Erledigungen - die Innenstadt A-Stadts aufzusuchen. Dies ist fußläufig möglich, jedoch mit einem breiten und auch ständig wechselnden Angebot im Hinblick auf alle alltäglichen Verrichtungen verbunden. Der Kläger lebt gerade nicht in dörflichen Strukturen, wo es im Nahbereich zum Beispiel darum gehen kann, den einen Bäcker, Supermarkt, Friseur oder Arzt aufzusuchen.

Vor diesem Hintergrund ist vor allem zur Erschließung auch eines geistigen Freiraums entscheidend, dass der Kläger gerade nicht zumutbar auf die Orientierung mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten der Wahrnehmung und seinen Blindenlangstöcken zu verweisen ist. Es ist vielmehr in seinem Lebensumfeld zu erwarten, dass seine Orientierung im Nahbereich um die Wohnung für die im Alltag üblichen Wege mit einem GPS-System für blinde und sehbehinderte Menschen wesentlich verbessert werden kann, zumal er gerade nicht über eine Führhund verfügt, der ihn sicherlich auch in der Orientierung mehr unterstützen könnte, als ein Blindenlangstock.

Nach alledem musste die Klage Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

Referenznummer:

R/R6154


Informationsstand: 24.03.2014