1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 06.04.2005 - S 7 KR 86/04 - wird zurückgewiesen.
2. Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 06.04.2005 - S 7 KR 86/04 - abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten der Beschaffung des Rollfiets sowie der individuell angepassten Sitz- und Rückenschale in Höhe von 12.241,68
EUR zu erstatten.
3. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten eines Rollfiets als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung.
Der 1971 geborene und bei der Beklagten versicherte Kläger leidet an einer spastischen Tetraplegie mit Blasen-Darm- Inkontinenz nach frühkindlichem Hirnschaden. Es besteht eine weitgehende Versteifung der Gelenke in Fehlstellung. Er ist nicht gehfähig und kann nur unter Abstützung des Körpers sitzen. Eine eigenständige Fortbewegung auch mit einem Elektrorollstuhl ist ihm nicht möglich. Seine Kommunikationsfähigkeit ist erheblich eingeschränkt.
Die Beklagte hat ihn mit einem Sitzschalenrollstuhl, einem elektrischen Pflegebett und einem Bewegungstrainer ausgestattet. Im Jahr 1992 verschaffte sie ihm auch ein Rollfiets, welches jedoch nicht mehr funktionstüchtig ist.
Unter Vorlage einer Verordnung des
Dr. B und von Kostenvoranschlägen über 12.241,68
EUR beantragte er im Oktober 2003 die Versorgung mit einem Rollfiets mit Elektrofahrrad-Schiebeantrieb und einer individuell angefertigten Sitz- und Rückenschale. Ein Rollfiets ist eine Kombination aus Rollstuhl sowie Fahrrad ohne Vorderrad und Lenker. Das Fahrradteil wird mit dem Rollstuhl über ein Kupplungsgestänge verbunden und die Lenkung übernimmt die auf dem Fahrrad fahrende Begleitperson mit dem als Lenker ausgebildeten rückwärtigen oberen Teil der Rollstuhllehne.
Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheide vom 13.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.04.2004 ab. Es sei eine ausreichende Versorgung mit dem Rollstuhl gegeben. Die Ermöglichung von Fahrradausflügen bei Erwachsenen sei nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, da es sich um eine Freizeitbetätigung handele.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Speyer (SG) hat sich der Kläger auf Atteste des
Dr. H vom 03.05.2004, des
Dr. B vom 07.05.2004, des
Dr. K vom 15.07.2004 und des
Dr. S vom 15.07.2004 bezogen. Das SG hat Stellungnahmen bei
Dr. B ,
Dr. H und
Dr. K beigezogen.
Mit Urteil vom 06.04.2005 hat es die Bescheide vom 13.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.04.2004 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einem Rollfiets und einer individuell angepassten Sitzschale entsprechend der ärztlichen Verordnung von
Dr. B vom 25.09.2003 und den Kostenvoranschlägen vom 14.10.2003 zu versorgen. Das Rollfiets mit individuell angepasster Sitzschale sei erforderlich zum Ausgleich der Behinderung. Es erschließe dem Kläger einen weiteren körperlichen Freiraum und ermögliche ihm die Durchführung von gemeinsamen Fahrradausflügen mit der Familie, denen nach den Mitteilungen der behandelnden Ärzte eine große Bedeutung zukomme. Die Versorgung des Klägers mit einem Rollstuhl sei zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nicht ausreichend, zumal er sich nicht ohne Hilfsperson fortbewegen könne. Auch sichere das Rollfiets den Erfolg der Krankenbehandlung, da einer Reizverarmung entgegengewirkt, die Sinne stimuliert und die Koordination der Extremitäten und das Muskeltraining gefördert werde.
Gegen das ihr am 20.04.2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12.05.2005 Berufung eingelegt.
Sie trägt vor, dass ein Rollfiets für Personen im Erwachsenenalter kein Hilfsmittel darstelle, weil es weder zur Verwirklichung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens noch zur Krankenbehandlung notwendig sei. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (
BSG) zähle die Ermöglichung des Fahrradfahrens nicht zu dem von der Krankenversicherung zu leistenden Behinderungsausgleich. Auf den Gesichtspunkt einer sozialen Integration sei nur bei Kindern und Jugendlichen abzustellen. Das Rollfiets diene nicht der Krankenbehandlung, da es nicht im Rahmen eines ärztlichen Behandlungsplans, sondern im Rahmen der Freizeitgestaltung eingesetzt werde. Der therapeutische Nutzen eines Rollfiets sei nicht belegt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 06.04.2005 - S 7 KR 86/04 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Beklagte zur Erstattung der Kosten des Rollfiets sowie der Sitz- und Rückenschale in Höhe von 12.241,68
EUR verurteilt wird.
Er hat sich im August/Oktober 2005 das Rollfiets mit Sitz- und Rückenschale beschafft und die Kosten in Höhe von 12.241,68
EUR (Rechnungen vom 11.08.2005 und vom 25.10.2005) gezahlt. Ergänzend führt er aus, dass die Aufnahme eines Rollfiets in das Hilfsmittelverzeichnis ein Indiz für die Eigenschaft als Hilfsmittel darstelle. In seiner Familiensituation komme den gemeinsamen Fahrradausflügen eine große Bedeutung zu, da es sich um die einzige Möglichkeit der Freizeitgestaltung handele. Er befinde sich auf dem Entwicklungszustand eines Kleinkindes.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das SG hat im Ergebnis und in der Begründung zu Recht entschieden, dass dem Kläger ein Anspruch auf Versorgung mit einem Rollfiets sowie einer individuell angepassten Sitz- und Rückenschale zusteht. Die Bescheide der Beklagten vom 13.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.04.2004 sind rechtswidrig, verletzen den Kläger in seinen Rechten und sind deshalb aufzuheben.
Auf die Anschlussberufung des Klägers ist das Urteil des SG neu zu fassen. Der Übergang von der Verpflichtungs- zu der Leistungsklage stellt keine Klageänderung, sondern lediglich eine zulässige Erweiterung des Klageantrags gemäß § 99
Abs. 3
Nr. 3, § 153
Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) dar. Der Kläger verfolgt nach der Selbstbeschaffung des Hilfsmittels zu Recht nunmehr seinen Anspruch auf Erstattung der entstandenen Kosten in Höhe von 12.241,68
EUR.
Der Anspruch des Klägers auf Erstattung der Kosten des selbstbeschafften Hilfsmittels ergibt sich aus
§ 13 Abs. 3 Sätze 1 und 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) in Verbindung mit
§ 15 Abs. 1 Sätze 3 und 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (
SGB IX). Das SG hat zutreffend die Erforderlichkeit des Rollfiets zum Zwecke des Behinderungsausgleichs (
§ 33 Abs. 1 Satz 1 Dritte Alternative SGB V,
§ 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX) geprüft und die von der Rechtsprechung des
BSG hierzu entwickelten Grundsätze aufgezeigt. Es hat zu Recht auf das beim Kläger maßgebende Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" hingewiesen und dargelegt, dass sich hier die Notwendigkeit des Hilfsmittels in erster Linie danach richtet, ob dadurch der Bewegungsradius in einem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Das SG hat ausgeführt, dass die außergewöhnliche Bewegungseinschränkung des Klägers und die Bedeutung der gemeinsamen Fahrradausflüge der Familie Besonderheiten des konkreten Falles darstellen, die den Anspruch des Klägers auf Versorgung mit dem Rollfiets begründen. Zur Vermeidung von Wiederholungen sieht der Senat insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück (§ 153
Abs. 2
SGG).
Das Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren rechtfertigt kein anderes Ergebnis.
Das Grundbedürfnis gehunfähiger Menschen auf Ersetzung des Verlustes der Fortbewegungsfähigkeit betrifft nur die Möglichkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Hierzu zählt nicht das Zurücklegen längerer Wegstrecken, vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer. Der Wunsch, sich wie ein Radfahrer zu bewegen und
z.B. Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen, die damit verbundene Raumerfahrung, das Umwelterlebnis, Geschwindigkeitsempfinden, Gleichgewichtsgefühl oder sonstiges positives Erleben, zählt nicht mehr zu den Grundbedürfnissen, wenn die Fortbewegung im Nahbereich anderweitig sichergestellt ist (
BSG, Urteil vom 16.09.1999 -
B 3 KR 8/98 R, SozR 3-2500 § 33
Nr. 31; Urteil vom 16.09.1999 -
B 3 KR 9/98 R, SozR 3-2500 § 33
Nr. 32).
Maßgebend ist jeweils die Erforderlichkeit des Hilfsmittels "im Einzelfall", weshalb auf die individuellen Verhältnisse des Betroffenen abzustellen ist. Das Rollfiets dient beim Kläger nicht nur dem Zweck, den größeren Bewegungsradius eines Radfahrers zu erreichen. Der Kläger kann sich im Nahbereich seiner Wohnung überhaupt nicht selbst bewegen. Einen Elektrorollstuhl kann er nicht benutzen und zur Fortbewegung des handbetriebenen Rollstuhls ist er auf fremde Hilfe angewiesen.
Auch wenn durch den Schieberollstuhl der Bewegungsradius des Klägers im Nahbereich sichergestellt ist, kommt der konkreten Familiensituation eine erhebliche Bedeutung zu. In der Familie des Klägers ist das gemeinsame Fahrradfahren von wesentlicher Bedeutung und der Kläger wäre von solchen Unternehmungen ohne das streitige Hilfsmittel ausgeschlossen. Nach dem angesichts der Schwere seiner Behinderungen nachvollziehbaren Vortrag handelt es sich dabei nicht um eine von vielen oder mehreren Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, sondern um die einzige, die er wahrnehmen kann. Aufgrund dessen kommt dem Gesichtspunkt der Integration des Klägers in den Familienverbund entscheidende Bedeutung zu. Durch die Ausstattung mit dem Rollfiets kann eine Isolation des Klägers verhindert und seine gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der Familiengemeinschaft wesentlich gefördert werden.
Hinzu kommt, dass die Teilnahme an speziellen Freizeiten für Rollstuhlfahrradnutzer ermöglicht und dadurch eine Integration in eine Gruppe gewährleistet werden kann (Attest des
Dr. Konrad vom 15.07.2004 und Stellungnahme vom 11.01.2005). In Deutschland existiert ein Rollfiets-Club, der unter anderem regelmäßige mehrtägige Rollfiets-Club-Touren in verschiedenen Orten organisiert. Die Touren sind auf die Bedürfnisse von Behinderten zugeschnitten und auch Nichtmitglieder können hieran teilnehmen (www.rollfiets-club.de). Der Kläger hat mit dem Rollfiets die Möglichkeit, solche Veranstaltungen zu besuchen. Die Vermeidung einer Isolation durch Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und Kommunikation zur Vermeidung von Vereinsamung gehört jedoch auch bei älteren und behinderten Menschen zu den Grundbedürfnissen, welches die Eintrittspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung rechtfertigt (
BSG, Urteil vom 16.04.1998 - B 3 KR 9/97 R, SozR 3-2500 § 33
Nr. 27).
Dem Anspruch des Klägers auf Erstattung der Kosten des Rollfiets steht nicht entgegen, dass das begehrte Hilfsmittel nur unter Einschaltung Dritter genutzt werden kann (
BSG, Urteil vom 10.11.2005 -
B 3 KR 31/04 R, zur Veröffentlichung in SozR 4 bestimmt). Ein kostengünstigeres und zumindest gleich geeignetes Hilfsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Ausstattung mit einer individuell angepassten Sitz- und Rückenschale sowie mit einem Elektrofahrrad- Schiebeantrieb war notwendig. Insoweit sind entgegenstehende Gesichtspunkte von der Beklagten nicht geltend gemacht worden und auch sonst nicht ersichtlich.
Ob das Rollfiets auch erforderlich ist, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (§ 33
Abs. 1 Satz 1 Erste Alternative
SGB V, § 31
Abs. 1
Nr. 2
SGB IX), indem es einer Reizverarmung entgegenwirkt oder ob ein derartiges therapeutisches Ziel auch auf andere Weise erreicht werden kann, braucht damit nicht entschieden zu werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Revisionszulassungsgründe nach § 160
Abs. 2 Nrn. 1 und 2
SGG liegen nicht vor.