Die Klage ist zulässig und begründet.
Gem.
§ 53 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von
§ 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Gem. § 53
Abs. 3
SGB XII besteht die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe darin, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.
Leistungen der Eingliederungshilfe sind
gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit
§ 55 SGB IX sowie
§ 8 der Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) Hilfen zur Beschaffung eines Kraftfahrzeugs. Diese werden
gem. § 8
Abs. 1 Satz 2 EinglHV in angemessenem Umfang gewährt, wenn der behinderte Mensch wegen Art oder Schwere seiner Behinderung insbesondere zur Teilhabe am Arbeitsleben auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen ist.
Bei den genannten Hilfen handelt es sich um Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
gem. § 55
SGB IX. Zu diesen gehören
gem. § 55
Abs. 2
Nr. 7
SGB IX Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Diese wiederum umfassen
gem. § 58 Nr. 1 SGB IX Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nicht behinderten Menschen und
gem. § 58
Nr. 2
SGB IX Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen.
Gem. § 9
Abs. 1
SGB XII richten sich die Leistungen der Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Bedarfs, den örtlichen Verhältnissen, den eigenen Kräften und Mitteln der Person oder des Haushalts bei der Hilfe zum Lebensunterhalt. Gem. § 9
Abs. 2 Satz 1
SGB XII soll Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, entsprochen werden, soweit sie angemessen sind. Der Träger der Sozialhilfe soll jedoch
gem. § 9
Abs. 2 Satz 3
SGB XII in der Regel solchen Wünschen nicht entsprechen, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre.
Nach diesen Grundsätzen besteht im vorliegenden Fall ein Anspruch auf Hilfe zur Beschaffung eines behindertengerechten Kraftfahrzeuges. Es handelt sich dabei um einen gebundenen Anspruch (siehe Bayerisches Landessozialgericht -
LSG, Urteil vom 29.06.2010,
L 8 SO 132/09 in: juris).
1. Der Kläger gehört aufgrund seiner Behinderung zu dem nach § 53
Abs. 1 Satz 1
SGB XII grundsätzlich leistungsberechtigten Personenkreis; insoweit besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.
2. Der Kläger ist wegen Art und Schwere seiner Behinderung auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen, wie § 8
Abs. 1 Satz 2 EinglHV fordert. Diese gesetzliche Voraussetzung ist bereits dann erfüllt, wenn der behinderte Mensch nur mit Hilfe seines Kraftfahrzeugs den Nahbereich seiner Wohnung verlassen, sich also außerhalb der Wohnung (über längere Strecken) bewegen kann, sofern das Bedürfnis, die Wohnung zu verlassen, gerade aus Gründen besteht, denen die Eingliederungshilfe dient und wenn sich schließlich ein solches Bedürfnis regelmäßig stellt (so zutreffend
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.05.2007,
L 8 SO 20/07 ER, in: juris). Dies ist hier der Fall: Nach der - im Hinblick auf die dokumentierten gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers - schlüssigen und nachvollziehbaren Stellungnahme des behandelnden Kinderarztes
Dr. C. vom 05.07.2010 ist der Kläger aufgrund seiner Behinderung auf ein rollstuhlgerechtes Kraftfahrzeug angewiesen, um an den regelmäßigen Aktivitäten der Familie teilnehmen und den Nahbereich der elterlichen Wohnung verlassen zu können, zumal an seinem Wohnort praktisch keine Busse verkehren. Dies wird vom Beklagten auch nicht bestritten.
a) Allerdings überzeugt in diesem Zusammenhang die Argumentation des Beklagten nicht, wonach dem vom Kläger geltend gemachten Anspruch der Umstand entgegenstehe, dass dieser in Bezug auf die gemeinsam mit der Familie durchgeführten Aktivitäten oder die notwendigen "Transportfahrten" keinen höheren Bedarf habe als ein nicht behindertes Kind gleichen Alters, und die Eltern bereits aufgrund der Wohnsituation der Familie ein Kraftfahrzeug vorhalten müssten. Vielmehr hat die Klägerseite dagegen zu Recht eingewandt, dass die der Familie zum Zeitpunkt der Antragstellung und des Erlasses der angefochtenen Entscheidung zur Verfügung stehenden Fahrzeuge, insbesondere der Pkw Dacia Sandero der Mutter, nicht behindertengerecht waren und also der Kläger damit nicht befördert werden konnte.
b) Weiterhin ist es für eine regelmäßige Benutzung eines Kraftfahrzeugs entgegen der Ansicht des Beklagten nicht erforderlich, dass diese ähnlich häufig wie im Falle der Teilnahme am Arbeitsleben (also in der Regel an etwa 22 Tagen pro Monat) anfällt (so aber Bayerisches
LSG, Urteil vom 29.06.2010, a.a.O.). Gegen eine solche Auslegung spricht insbesondere, dass nicht erkennbar ist, welche Fallgestaltungen dem Beklagten vorschweben, in denen ein solcher Anspruch auch dann anzuerkennen sein könnte, wenn es nicht um die Teilnahme am Erwerbsleben geht. Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (
§ 55 SGB IX) erfordert, anders als im Erwerbsleben, wo die Verpflichtung besteht, arbeitstäglich den Arbeitsplatz aufzusuchen, in einem strengen Sinne wohl niemals die beinahe tägliche Benutzung eines Pkws. Vielmehr wird man immer darüber streiten können - und ist es auch eine Frage der jeweiligen Persönlichkeit und der individuellen Lebensgewohnheiten - wie viele Wege "erforderlich" sind, um dem behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Legte man die vom Beklagten bevorzugte Auslegung zugrunde, so wäre also der Anwendungsbereich des § 8 EinglHV praktisch vollständig auf die Fälle beschränkt, in denen es um die Teilnahme am Arbeitsleben geht. Für eine solche Interpretation bietet jedoch das Gesetz keine Grundlage. Vielmehr sind die Teilhabe am Arbeitsleben (
§ 33 SGB IX) und die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 55
SGB IX) als grundsätzlich gleichberechtigte Zwecke der Eingliederungshilfe in § 8
Abs. 1 Satz 1 EinglHV genannt, was wesentlich dagegen spricht, die Vorschrift so auszulegen, dass sie abseits der Teilnahme am Arbeitsleben faktisch keinen Anwendungsbereich mehr hat (siehe auch bereits Sozialgericht München, Gerichtsbescheid vom 02.12.2011 - S 48 SO 498/10). Im Übrigen zeigen die von der Klägerseite vorgelegten Aufstellungen (siehe insbesondere Blatt 50/51 Behördenakte; Blatt 103/104 Gerichtsakte), dass im familiären Umfeld des Klägers umfangreiche gemeinsame Aktivitäten außer Haus, nicht zuletzt in Form der Kontaktpflege zu den Verwandten und der Kirchengemeinde, üblich sind. Gerade dies aber ermöglicht es dem Kläger, aktiv am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen und sich nicht permanent als auf seine behinderungsbedingten Einschränkungen "zurückgeworfen" erleben zu müssen.
Nach alledem kommt es nicht darauf an, ob die Zwecke der Eingliederungshilfe es erfordern, dass dem Kläger täglich oder fast täglich ein behindertengerechtes Kraftfahrzeug zur Verfügung steht. Vielmehr sind bereits aufgrund des Umstandes, dass er für Einkaufsfahrten, Verwandtenbesuche, Teilnahme am Gottesdienst, Restaurantbesuche, Familienausflüge, aber auch für Arztbesuche, Behördengänge, körperliche Betätigung (Schwimmen) sowie zur Pflege seiner sozialen Kontakte mit Gleichaltrigen (Treffen mit Freunden, Kinobesuche
etc.), also für seine gesamte Lebensgestaltung, zwingend auf ein behindertengerechtes Kraftfahrzeug angewiesen ist, die Voraussetzungen von § 54
Abs. 1 Satz 1
SGB XII in Verbindung mit § 55
SGB IX sowie § 8 EinglHV erfüllt.
c) Der Kläger kann insbesondere auch nicht darauf verwiesen werden, für all diese Wege jeweils den Behindertenfahrdienst in Anspruch zu nehmen. Dieser steht, wie die Klägerseite im Termin vom 27.03.2012 glaubhaft dargelegt hat, am Wohnort des Klägers nur sehr eingeschränkt zur Verfügung; die Wartezeiten sind lang, der Organisationsaufwand hoch. Ginge es nur um die notwendigen Arztbesuche und Behördengänge sowie die regelmäßig (an einem bestimmten Wochentag, zu einer festen Uhrzeit) anfallenden Termine (wie
z. B. den Weg zur Schule, für den offensichtlich solche Hilfen genutzt werden), so wäre es dem Kläger möglicherweise zumutbar, hierfür den Fahrdienst in Anspruch zu nehmen; dieser taugt jedoch im Falle des Klägers nicht dazu, umfassend eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sicherzustellen. Zu Recht weist zudem die Klägerseite darauf hin, dass speziell die für die Entwicklung und das Wohlergehen des Klägers elementare Pflege des Kontakts zu gleichaltrigen Kindern, insbesondere zu Klassenkameraden, eine gewisse Spontaneität und Flexibilität erfordert, die bei der Nutzung eines Fahrdienstes überhaupt nicht gegeben ist. Dem lässt sich nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die Probleme des Klägers insoweit mit seinem "selbst gewählten" Wohnsitz zusammenhängen. Denn nach § 9
Abs. 1
SGB XII richten sich die Leistungen der Sozialhilfe nach den Besonderheiten des Einzelfalles und unter anderem auch nach den örtlichen Verhältnissen. Dieser Umstand ist somit entgegen der Auffassung des Beklagten nicht per se unbeachtlich. Im Übrigen sind die Wohnverhältnisse der meisten Menschen, insbesondere von Familien, nur selten in vollem Umfang das Ergebnis einer "freien Wahl", vielmehr meist von diversen Faktoren wie Nähe zum Arbeitsplatz, Vorhandensein erschwinglicher Wohnungen
etc. abhängig.
d) Wollte man davon ausgehen, dass der Bedarf des Klägers auch durch die vom Beklagten angebotenen Mobilitätshilfen sichergestellt werden kann, so wäre hier ferner das Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten
gem. § 9
Abs. 2
SGB XII zu beachten. Die bis zum 31.10.2011 für den vorliegenden Fall zuständige Vorsitzende der 8. Kammer hat hierzu im Erörterungstermin vom 31.08.2011 überzeugend dargelegt, dass sich die Kosten dieser Hilfen im Laufe der Jahre voraussichtlich so sehr summieren würden, dass eine Kostenersparnis der öffentlichen Hand (gegenüber den vom Kläger gewünschten Hilfen) kaum mehr gegeben wäre (siehe dazu die Sitzungsniederschrift vom 31.08.2011). Dies als zutreffend unterstellt, würde es sich jedoch bei der vom Kläger beantragten Art der Leistung jedenfalls um einen angemessenen Wunsch im Sinne von § 9
Abs. 2 Satz 1
SGB XII handeln mit der Folge, dass diesem Wunsch zu entsprechen wäre. Der Wunsch des Klägers erscheint im Übrigen auch noch unter einem anderen Aspekt als angemessen: Der Kläger hat nämlich für das Gericht überzeugend dargelegt, dass dann, wenn sich der Stomabeutel, den er tragen muss, unterwegs löst, oder der Beutel aufgrund des Drucks des von ihm getragenen Korsetts platzt, was immer wieder vorkommt, das eigene Fahrzeug für ihn auch ein Refugium darstellt, welches es ihm erspart, sich in einer solchen peinlichen und unangenehmen Lage den Blicken fremder Personen aussetzen zu müssen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
4. Gegen diese Entscheidung ist
gem. § 143
SGG das Rechtsmittel der Berufung eröffnet.