Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
1. Die Verbindung der Klagen vom 13.10.2011 und vom 17.04.2012 über die Grenzen der gerichtsinternen Zuständigkeit hinweg war
gem. § 113
Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig (siehe Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, Kommentar, 10. Aufl. 2012, § 113 Rn. 2b) und im Interesse einer zeitnahen, umfassenden und einheitlichen Entscheidung geboten.
2. Gem.
§ 53 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von
§ 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Gem. § 53
Abs. 3
SGB XII besteht die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe darin, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.
Leistungen der Eingliederungshilfe sind
gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit
§ 55 SGB IX sowie
§ 8 der Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) Hilfen zur Beschaffung eines Kraftfahrzeugs. Diese werden
gem. § 8
Abs. 1 Satz 2 EinglHV in angemessenem Umfang gewährt, wenn der behinderte Mensch wegen Art oder Schwere seiner Behinderung, insbesondere zur Teilhabe am Arbeitsleben, auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen ist. Gem.
§ 10 Abs. 6 EinglHV kann Hilfe in angemessenem Umfang auch zur Erlangung der Fahrerlaubnis, zur Instandhaltung sowie durch Übernahme von Betriebskosten eines Kraftfahrzeugs gewährt werden, wenn der behinderte Mensch wegen seiner Behinderung auf die regelmäßige Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen ist.
3. Nach diesen Grundsätzen besteht im vorliegenden Fall ein Anspruch auf Hilfe zur Beschaffung eines behindertengerechten Kraftfahrzeuges. Es handelt sich dabei um einen gebundenen Anspruch (siehe Bayerisches Landessozialgericht -
LSG, Urteil vom 29.06.2010,
L 8 SO 132/09 in: juris).
a) Die Klägerin gehört aufgrund ihrer Behinderung zu dem nach § 53
Abs. 1 Satz 1
SGB XII grundsätzlich leistungsberechtigten Personenkreis; insoweit besteht zwischen den Beteiligten kein Streit. Folgende Einschränkungen liegen bei der Klägerin vor:
- Lähmung beider Beine ("Zustand nach" Poliomyelitis), deshalb auf den Rollstuhl angewiesen,
- Wirbelsäulenbeschwerden (Kyphoskoliose),
- Depression mit wiederkehrender Dekompensation,
- chronischer Erschöpfungszustand,
- Angst- und Paniksyndrom, deshalb unfähig, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
b) Die Klägerin ist wegen Art und Schwere ihrer Behinderung auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen, wie § 8
Abs. 1 Satz 2 EinglHV fordert.
(1) Entgegen der Ansicht des Beklagten ist hierfür nicht Voraussetzung, dass die Benutzung eines Kraftfahrzeugs ähnlich häufig wie im Falle der Teilnahme am Arbeitsleben (also in der Regel an etwa 22 Tagen pro Monat) anfällt (so aber Bayerisches
LSG, Urteil vom 29.06.2010, a.a.O.). Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erfordert, anders als das Erwerbsleben, wo die Verpflichtung besteht, arbeitstäglich den Arbeitsplatz aufzusuchen, in einem strengen Sinne wohl niemals die beinahe tägliche Benutzung eines Pkws. Vielmehr wird man immer darüber streiten können - und ist es auch eine Frage der jeweiligen Persönlichkeit und der individuellen Lebensgewohnheiten - wie viele Wege "erforderlich" sind, um dem behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Legte man die vom Beklagten bevorzugte Auslegung zugrunde, so wäre der Anwendungsbereich des § 8 EinglHV praktisch vollständig auf die Fälle beschränkt, in denen es um die Teilnahme am Arbeitsleben geht. Für eine solche Interpretation bietet jedoch das Gesetz keine Grundlage. Vielmehr kann die Hilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeugs
gem. § 8
Abs. 1 Satz 1 EinglHV eine Leistung der Teilhabe am Arbeitsleben (
§ 33 SGB IX), aber auch eine Leistung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 55
SGB IX) sein. Deshalb erscheint es unzulässig, die Vorschrift so auszulegen, dass sie abseits der Teilnahme am Arbeitsleben faktisch keinen Anwendungsbereich mehr hat.
(2) Die gesetzliche Voraussetzung des Angewiesenseins auf ein eigenes Kraftfahrzeug ist vielmehr grundsätzlich bereits dann erfüllt, wenn der behinderte Mensch nur mit Hilfe eines Pkws den Nahbereich seiner Wohnung verlassen, sich also außerhalb der Wohnung (über längere Strecken) bewegen kann, sofern das Bedürfnis, die Wohnung zu verlassen, gerade aus Gründen besteht, denen die Eingliederungshilfe dient und wenn sich schließlich ein solches Bedürfnis regelmäßig stellt (so zutreffend
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.05.2007,
L 8 SO 20/07 ER, in: juris).
(a) Die Klägerin kann ihre Wohnung nur mit Hilfe eines Kraftfahrzeugs verlassen. Sie kann diese Wege nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere den fachärztlichen Attesten vom 18.01.2010 und vom 14.12.2011 (obwohl sie im Stadtgebiet von A-Stadt wohnt, wo grundsätzlich mit einer relativ guten Verkehrsanbindung gerechnet werden kann), aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen, ihrer Neigung zu Erschöpfungszuständen und ihrer seelischen Beeinträchtigungen mit Angst- und Panikzuständen nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen. Ein eigenes Auto kann sie hingegen (weiterhin) sicher führen, zumal sie dabei (wie sie dem Gericht geschildert hat) die Möglichkeit hat, das Fahrzeug beim Auftreten von Schwäche oder Unwohlsein kurz abzustellen, bis sie sich wieder gefangen hat.
(b) Das Bedürfnis der Klägerin, ihre Wohnung zu verlassen, besteht aus Gründen, die mit den Zwecken der Eingliederungshilfe (hier: Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) zusammenhängen. Zu diesen gehören
gem. § 55
Abs. 2
Nr. 7
SGB IX Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Diese wiederum umfassen
gem. § 58 Nr. 1 SGB IX Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nicht behinderten Menschen und
gem. § 58
Nr. 2
SGB IX Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen. Im Falle der Klägerin gehören hierzu:
- Besuche bei Freunden, Wahrnehmung kultureller Angebote (Kino, Theater, Flohmärkte),
- Einsatz im 400-Euro-Job (nach der Einschätzung des Gerichts überwiegt hier der Zweck der Teilhabe die wirtschaftliche Bedeutung) und als Souffleuse beim Theater,
- Teilnahme an Treffen ihrer Glaubensgemeinschaft,
- ehrenamtliche Mitwirkung an Veranstaltungen von Behindertenverbänden, in Schulen
etc.,
- Behindertensport, Schwimmen, als Möglichkeit, unter Menschen zu kommen, und gleichzeitig zur Erhaltung der körperlichen und geistigen Spannkraft und des seelischen Wohlbefindens.
(c) Die Klägerin ist schließlich auf die regelmäßige Benutzung eines (eigenen) Kraftfahrzeugs angewiesen.
Die Formulierungen in § 8
Abs. 1 EinglHV ("insbesondere zur Teilhabe am Arbeitsleben", "angewiesen") machen deutlich, dass der Zweck dieser Vorschrift nicht darin besteht, jeden behinderten Menschen, der aufgrund seiner Behinderung in seiner Mobilität eingeschränkt ist, mit einem eigenen Kraftfahrzeug auszustatten. Voraussetzung ist vielmehr eine gegenüber dem durchschnittlichen Fall deutlich heraufgesetzte Dringlichkeit, die sich auf die Zwecke der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bezieht und es im Einzelfall gebietet, dass der behinderten Person ein eigener Pkw zur Verfügung gestellt wird. Die Ausstattung mit einem Kraftfahrzeug aus Mitteln der Eingliederungshilfe erscheint somit nur in den Fällen gerechtfertigt, in denen eine Ablehnung dieser Leistung das Recht des Hilfesuchenden auf ein menschenwürdiges Dasein verletzen würde; dabei sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.
Das Gericht ist der Auffassung, dass ein solcher Fall hier vorliegt. Die Ablehnung der Hilfe zur Beschaffung eines neuen Kraftfahrzeugs würde das Recht der Klägerin auf ein menschenwürdiges Dasein verletzen. Die Kammer hat sich dabei von folgenden Erwägungen leiten lassen:
- Die Klägerin ist geschieden und lebt derzeit noch mit ihrem erwachsenen Sohn im gleichen Haushalt. Dieser wird aber bald ausziehen, weil das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn nicht (mehr) gut ist. Die Klägerin hat also im Alltag keine Unterstützung durch einen Partner oder durch einen sonstigen nahen Angehörigen. Umso mehr ist sie auf Kontakte zu anderen Menschen angewiesen.
- Die Klägerin ist nicht nur durch ihre körperlichen Behinderungen beeinträchtigt, welche sich infolge des Alterungsprozesses (Verschleiß am Skelettsystem
etc.) tendenziell verschlimmern, sondern leidet zusätzlich (und zum Teil wohl infolge dieser Beeinträchtigungen) an gravierenden seelischen Erkrankungen in Form von wiederkehrenden Depressionen, Angst, Panik und chronischer Erschöpfung. Die Begegnung mit anderen Menschen und der Besuch von Veranstaltungen
etc. sind geeignet, der Klägerin die Bewältigung ihrer seelischen Leiden zu erleichtern, ihre Lebensfreude zu steigern und einer Isolierung und somit auch der drohenden Verschlimmerung dieser Leiden vorzubeugen.
- Andererseits ist die Klägerin geistig wach, von ihrer Persönlichkeit her kommunikativ und kulturell interessiert. Sie fühlt sich, wie sie dem Gericht überzeugend dargelegt hat, unter Menschen wie ein "Fisch im Wasser". Deshalb leidet gerade sie sehr darunter, wenn sie aufgrund ihrer Behinderung tage- oder gar wochenlang ihre Wohnung nicht verlassen kann.
- Die vom Beklagten angesprochenen Leistungen der Mobilitätshilfe sind nicht geeignet, den Bedarf der Klägerin an Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in menschenwürdiger Weise zu decken. Das beruht schon darauf, dass für den üblichen Satz in Höhe von 225,00
EUR monatlich nach dem Vortrag des Beklagten nur etwa ein bis zwei einfache Fahrten in der Woche (mit dem Behindertenfahrdienst) finanziert werden können. Dies reicht bei weitem nicht aus, um den notwendigen Bedarf der Klägerin an Teilhabe zu decken. Die Klägerin kann auch nicht darauf verwiesen werden, (weiterhin) die Hilfe von Freunden und Bekannten in Anspruch zu nehmen. Das (sinngemäß geäußerte) Argument der Klägerin, dass es für sie entwürdigend ist, immer wieder als Bittstellerin auftreten zu müssen und dass sie befürchtet, die Hilfsbereitschaft ihrer Freunde übermäßig zu strapazieren und diese möglicherweise dadurch zu verlieren, erscheint überzeugend.
c) Nach alledem sind der Klägerin Leistungen zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges zuzusprechen. Diese sind in entsprechender Anwendung von
§ 5 Abs. 1 Kraftfahrzeughilfe-Verordnung (KfzHV) grundsätzlich auf 9.500,00
EUR (reine Anschaffungskosten, ohne behinderungsbedingte Zusatzausstattung) begrenzt, sofern nicht Art oder Schwere der Behinderung ein Kraftfahrzeug mit höherem Kaufpreis zwingend erfordert (§ 5
Abs. 2
KfzHV); für letzteres gibt es hier keine Anhaltspunkte. Dem behinderten Menschen ist grundsätzlich die Anschaffung eines gebrauchten Pkws zumutbar, wenn dieser geeignet ist, den Bedarf an Teilhabe zu sichern; so auch hier.
Hinzu kommt im vorliegenden Fall ein Betrag von 2.500,00
EUR für die Zusatzausstattung.
Hiervon sind die der Klägerin zugesagten 4.900,00
EUR aus Stiftungsmitteln abzuziehen, weil diese geeignet sind, den Bedarf insoweit abzudecken. Es sind somit Leistungen in Höhe von (bis zu) 7.100,00
EUR (in Form der Übernahme der entsprechenden - zum Beispiel durch Kostenvoranschlag - nachgewiesenen Aufwendungen) zu gewähren.
4. Nach dem oben Gesagten sind auch die (weniger strengen) Voraussetzungen des
§ 10 Abs. 6 EinglHV erfüllt. Die Klägerin hat somit auch Anspruch auf Übernahme der beantragten "Betriebskostenpauschale" für das Jahr 2010. Dahinstehen kann, ob diese Bestimmung "mittlerweile den Charakter einen gebundenen Vorschrift" erhalten hat (so
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.05.2007, L 8 SO 20/07 ER, in: juris). Denn in Anbetracht der Tatsache, dass der Beklagte die hier streitigen Leistungen im Regelfall im Wege einer Betriebskostenpauschale bewilligt (hat) und Abweichungen von diesem Regelfall nicht ersichtlich sind, ist das Ermessen des Beklagten auf "Null" reduziert.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
6. Gegen diese Entscheidung ist
gem. § 143
SGG das Rechtsmittel der Berufung eröffnet.