Urteil
Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für ein Behindertenfahrrad

Gericht:

LSG Hessen


Aktenzeichen:

L 8 KR 247/06


Urteil vom:

13.09.2007


Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 11. September 2006 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Behindertendreirad.

Der bei der Beklagten versicherte Kläger ist im Jahr 1984 geboren. Bei ihm besteht eine infantile Cerebralparese mit ausgeprägter Tetraspastik rechts mehr als links, Beinverkürzung links, erheblicher Dysiadochokinese (gestörte Koordination), Teilbewegungsstörungen im Bereich der Wirbelsäule, eine progrediente Hüftbeuge-/Adduktionskontraktur, ein spastisch pes plano valgus, schwere grob- und feinmotorische Störungen, Hüftluxation links. Der Kläger erhielt im Kindesalter auf Kosten der Beklagten ein Therapierad mit zwei Stützrädern. Aufgrund einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen (MDK) vom 15. Januar 2001 bezieht der Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe III. Der Kläger ist in Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie mit den Merkzeichen "G" und "aG". Er ist ausgestattet u.a. mit Gehstöcken und einem Rollstuhl.

Am 29. Mai 2002 ging bei der Beklagten der Antrag des Klägers auf Versorgung mit einem Therapierad ein. Dazu legte er eine entsprechende Hilfsmittelverordnung von Dr. EW. (Facharzt für Orthopädie, Sportmedizin/Chirotherapie) und dessen Arztbrief vom 20. Juni 2001 sowie einen Kostenvoranschlag der Firma G. Reha Technik für ein Haverich-Therapierad vor. Dr. EW. führt in seinem Arztbrief aus, nach intensivem und jahrelangem Training sei der Kläger in der Lage, seine Mobilität für komplexmotorische Bewegungsmuster zu erhalten. Dies setzte jedoch die konsequente Fortführung des Trainings voraus. Mit dem bisherigen Therapierad sei dem Kläger dieses Training möglich gewesen. Da dieses Therapierad nunmehr zu klein geworden sei, werde der Antrag auf Ausstattung mit einem neuen Therapierad gestellt. Sollte diese Versorgung nicht erfolgen, so sei nicht nur mit sekundären Schäden im Sinne einer Verschlechterung der Mobilität und des Gesamtbewegungsmusters zu rechnen, sondern auch mit einer Zunahme der Kontraktur und der Gelenkfehlstellung sowie mit einer drastischen Reduzierung der Muskelleistung.
Der MDK (Dr. E., Facharzt für Orthopädie) vertrat die Auffassung, eine Indikation für die beantragte Versorgung liege nicht mehr vor. Die Therapieziele ließen sich auch auf anderem Wege erreichen.

Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 4. Juni 2002 ab. Dazu führte die Beklagte aus, die Versorgung mit einem Therapierad falle nicht in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung, weil ein Therapierad in überwiegendem Maße Merkmale eines handelsüblichen Fahrrades aufweise. Bei Kindern erfülle das Therapierad hohe therapeutische Anforderungen, während bei Jugendlichen und Erwachsenen Zwei- und Dreiräder primär der Fortbewegung dienten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seien Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, auch wenn sie wegen einer Krankheit angeschafft würden, nicht vom Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenkasse erfasst. Dies gelte auch für Gegenstände, die wegen einer Krankheit oder Behinderung benötigt und besonders gestaltet seien. Die Kosten könnten deshalb für das Therapierad nicht übernommen werden.

Die Mutter erhob für den Kläger Widerspruch und führte ergänzend aus, die Nutzung eines Therapierades bedeute für ihn die einzige Möglichkeit, sich selbständig fortzubewegen. Auch sei die Bewegung auf dem Fahrrad mit den therapeutischen Maßnahmen wie Krankengymnastik und Ergotherapie nicht gleichzusetzen.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 1. August 2002 als unbegründet zurück und führte ergänzend aus, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 16. September 1999, u.a. Az.: B 3 KR 9/98 R und vom 10. Oktober 2000, Az.: B 3 KR 29/99 R) gehöre das Radfahren nicht zu den körperlichen Grundfunktionen von Jugendlichen ab 16 Jahren und von Erwachsenen und gehöre auch nicht zu den Grundbedürfnissen, für deren Sicherstellung die Krankenversicherung einzutreten habe. Auch der therapeutische Gesichtspunkt eines Therapierades führe zu keiner anderen Entscheidung, da die gesundheitsfördernde körperliche Betätigung dem Bereich der Eigenverantwortung des Versicherten zuzurechnen sei. Im Falle einer medizinischen Indikation gäbe es die Möglichkeit der Verordnung von Krankengymnastik.

Dagegen hat der Kläger am 27. August 2002 Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben.

Das Sozialgericht hat einen Befundbericht bei Dr. QT. vom 10. April 2003 und bei Dr. EW. vom 3. April 2003 eingeholt.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe ihm die Kosten seines im September 2002 angeschafften Therapierades (1.449,06 EUR), abzüglich der Kosten eines handelsüblichen Fahrrades zu erstatten. Es handele sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Es sei zur Therapie zweckmäßig und notwendig. Mit Gehstöcken könne er maximal 50 Meter zu Fuß zurücklegen. Er habe durch intensives Training mit dem Therapierad seine schwere grob- und feinmotorische Störung deutlich reduzieren können. Nur mit dem Therapierad könne er komplexmotorische Bewegungsmuster in erforderlichem Umfang trainieren. Das Therapierad sei zur Behandlung seiner Spastik erforderlich.

Das Sozialgericht hat die Mutter des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung angehört und mit Urteil vom 11. September 2006 die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Kosten des selbstbeschafften Therapierades in Höhe von 1.449,06 EUR abzüglich der Kosten eines handelsüblichen Fahrrades zu erstatten. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch nach § 13 Abs. 3 i.V.m. § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) auf Teil-Erstattung der Kosten seines selbstbeschafften Therapierades. Da die Beklagte eine Neuversorgung des Klägers zu Unrecht abgelehnt habe, sei der Kläger gezwungen gewesen, sich das notwendige Hilfsmittel selbst zu beschaffen. Ein Versicherter habe nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich seien, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, eine drohende Behinderung vorzubeugen und eine Behinderung auszugleichen, soweit das Hilfsmittel nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sei.
Das wesentliche Kriterium für die Leistungspflicht der Krankenkasse sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die Eignung des Gerätes als Hilfsmittel (§ 33 SGB V) und seine Notwendigkeit. Nicht notwendige oder nicht wirtschaftliche Leistungen könne der Versicherte nicht beanspruchen (§ 12 Abs. 1 SGB V). Ein Hilfsmittel müsse zum Ausgleich eines körperlichen Funktionsdefizits geeignet und notwendig sein. Genügend sei insoweit, dass die beeinträchtigte Körperfunktion ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt werde. Werde eine Körperfunktion nur mittelbar oder nur teilweise ersetzt, so müsse die Auswirkung der Behinderung nicht nur in bestimmten Lebensbereichen, sondern allgemein und im gesamten Leben beseitig bzw. gelindert werden und ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betreffen. Zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehörten allgemeine Verrichtungen wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, selbständiges Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit Anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissen) umfasse (Bundessozialgericht in SozR 3-2500 § 33 Nr. 29, 31). Dabei könne ein vollständiges Gleichziehen mit den Möglichkeiten eines Gesunden nicht gefordert werden. Soweit das Grundbedürfnis des selbständigen Gehens betroffen sei, falle darunter nur die Entfernung, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklege. Zu den Grundbedürfnissen zähle auch die Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen und die Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte, wie das Einkaufen von Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs, stattfänden. Das vom Kläger beanspruchte Behindertendreirad sei kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Gebrauchs (Bundessozialgericht, u.a. Urteil vom 23. Juli 2002, Az.: B 3 KR 3/02 R). Es werde nicht von Gesunden genutzt und sei nach § 34 Abs. 4 SGB V nicht ausgeschlossen. Vorliegend sei das Behindertendreirad auch erforderlich nach § 33 SGB V um eine Behinderung des Klägers auszugleichen und es werde zur Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses benötigt. Bei dem Kläger bestehe eine Behinderung, die ihn an der Fortbewegung im Rahmen des allgemeinen Grundbedürfnisses hindere. Der erheblich eingeschränkte Bewegungsradius des Klägers werde durch das Behindertenrad in geeigneter Weise erweitert. Das Grundbedürfnis auf Bewegungsfreiheit werde im Fall des Klägers durch den Gebrauch der ihm zur Verfügung gestellten Gehstöcke nicht befriedigt. Nach den Befundberichten von Dr. QT. und von Dr. EW. seien die Gehfähigkeit sowie die grob- und feinmotorische Koordination erheblich gestört. Nach der Darstellung der Mutter in der mündlichen Verhandlung sei der Kläger bei Nutzung der Gehstöcke in der Lage, maximal 100 Meter zu Fuß zurückzulegen. Somit könne der Kläger mit Gehstöcken nicht annähernd den Bewegungsradius eines Gesunden erreichen. Das streitige Behindertendreirad sei für den Kläger mehr als nur ein Fahrradersatz.
Für den nicht nur körperlich, sondern auch geistig behinderten Kläger sei die Nutzung eines Behindertendreirades die einzig erlernte Alternative, sich im Freien im Bewegungsradius eines Gesunden fortzubewegen. Damit stelle das Behindertendreirad die einzige Möglichkeit für den Kläger dar, aus eigener Kraft, ohne fremde Hilfe und ohne Gefährdung seiner Gesundheit den häuslichen Bereich zu verlassen und im Nahbereich Alltagsverrichtungen zu erledigen. Dem stehe nicht entgegen, dass die Mutter des Klägers ihm beim Auf- und Absteigen des Dreirades behilflich sein müsse und dem Kläger das Fahren nur in Begleitung möglich sei. Dies dürfe nicht zu seinem Nachteil gereichen. Entscheidend sei, dass er seine Mutter auf dem Behindertenrad bei der Verrichtung von Alltagsgeschäften im Nahbereich begleiten könne. Das Grundbedürfnis der Fortbewegung könne mit der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 5. Mai 2004, Az.: L 4 KR 277/01) nicht auf 500 Meter begrenzt werden, da zunehmend Großmärkte im Außenbereich kleinere Geschäfte im Nahbereich ersetzten. Auch könne der Kläger auf einen manuell zu bedienenden Krankenfahrstuhl nicht verwiesen werden. Nach den glaubhaften Angaben der Mutter im Termin zur mündlichen Verhandlung könne der Kläger mit dem ihm zur Verfügung gestellten Leichtrollstuhl lediglich eine Strecke von 50 bis 100 Meter zurücklegen. Es sei zudem nachvollziehbar, dass der Kläger die bestehende Mobilität verlieren werde, wenn die Nutzung des Behindertendreirades nicht mehr möglich sei. Dies sei von den behandelnden Orthopäden in den beigezogenen Befundberichten ausgeführt worden. Der Kläger trainiere komplexmotorische Bewegungsmuster bei der Nutzung des Behindertenfahrrades. Dies diene der Stärkung der Beinmuskulatur und damit der Sicherstellung der Mobilität des Klägers.

Gegen das am 30. Oktober 2006 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. November 2006 Berufung eingelegt.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, der Kläger besitze keinen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V, da die Versorgung des Klägers mit einem Therapierad weder zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung noch zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V bzw. zur Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung oder zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung erforderlich sei. Die von dem behandelnden Orthopäden dargelegten Ziele (Verbesserung der Mobilität des Klägers und Training komplexmotorischer Bewegungsmuster) könnten auch durch die Verordnung von Heilmitteln erreicht werden. Zudem sei in keiner Weise belegt, dass in Zukunft die Verordnung von Heilmitteln durch die Nutzung des Therapierades ersetze werde. Im Hinblick auf den Ausgleich der Behinderung sei zu berücksichtigen, dass der Kläger im Jahr 2003 mit einem Heidelberger Stehgerät und einem Aktivrollstuhl ausgestattet worden sei. Damit sei das Grundbedürfnis des Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums befriedigt. Zu berücksichtigen sei auch, dass der Kläger aufgrund seiner Behinderungen das Therapierad nicht ohne Hilfe einer Pflegeperson (Pflegestufe III) nutzen könne. Des Weiteren bestünden im ambulanten physiotherapeutischen Bereich ausreichende Möglichkeiten, wetterunabhängig ähnliche Effekte zu erreichen.


Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 11. September 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, das Sozialgericht habe zutreffend entschieden.
Auch wenn er der Hilfe seiner Pflegeperson bei der Nutzung des Therapierades benötige, ändere dies nichts daran, dass er sich nur mit diesem im Radius der Gehstrecke eines Gesunden bewegen könne. Dies ermöglichen ihm weder sein Rollstuhl noch seine Gehstöcke. Entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 24. Mai 2006, Az.: B 3 KR 16/05 R) habe er den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch auf die behindertengerechte Zusatzausstattung eines handelsüblichen Fahrrades beschränkt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung war. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Rechtsweg:

SG Frankfurt/Main Urteil vom 11.09.2006 - S 25 KR 2894/02

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über die Berufung ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.

Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 11. September 2006 ist nicht zu beanstanden. Es ist zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Kosten seines selbst beschafften Haverich-Therapierads in Höhe von 1.449,06 EUR abzüglich der Kosten eines handelsüblichen Fahrrades besitzt.

Der Senat schließt sich dem Urteil des Sozialgerichts an und weist die Berufung aus den zutreffenden und ausführlichen Gründen des angefochtenen Urteils gemäß § 153 Abs. 2 SGG zurück.

Lediglich ergänzend weist der Senat auf folgendes hin:
Nach Überzeugung des Senats ist ein behindertengerechtes Fahrrad als Hilfsmittel von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung weder generell ausgeschlossen noch generell erfasst. Ob eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht, ist vielmehr nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 23. Juli 2002, B 3 KR 3/02 R), der sich der Senat anschließt, für jeden Einzelfall nach den gesetzlichen Vorgaben der §§ 33, 34 SGB V zu prüfen. Danach fällt die Ermöglichung des Fahrradfahrens für einen behinderten Menschen, der ein handelsübliches Fahrrad nicht benutzen kann, nicht von vorne herein in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung. Der gesetzlichen Krankenversicherung obliegt allein die medizinische Rehabilitation ( Reha) und damit die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein möglichst selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Reha, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen kann, ist Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Die Einführung des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch ( SGB IX) "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" hat daran nichts geändert. Daraus folgt, dass die Förderung der Selbstbestimmung des behinderten Menschen und seiner gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft durch Versorgung mit Hilfsmitteln nur dann in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung fällt, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigt oder mildert und damit ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betrifft (vgl. dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 6. August 1998 - B 3 KR 3/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 29; SozR 3-2500 § 33 Nrn. 5, 27 und 32 sowie zuvor bereits: SozR 2200 § 182b Nrn. 12, 30, 34, 37 jeweils m. w. N.).

Diesen Anforderungen entspricht die Entscheidung des Sozialgerichts mit Urteil vom 11. September 2006. Der Vortrag des Beklagten im Berufungsverfahren konnte zu keiner anderen Entscheidung führen.

Der Anspruch des Versicherten auf eine Versorgung mit einem Hilfsmittel setzt nicht voraus, dass die Nutzung des Hilfsmittels für die Zukunft die Verordnung von Heilmitteln einspart. Dies ist zwar wünschenswert, kann jedoch § 33 Abs. 1 SGB V nicht als Voraussetzung für eine Hilfsmittelversorgung entnommen werden.

Die Beklagte kann dem Anspruch des Klägers im Hinblick auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V auch nicht entgegenhalten, die Verbesserung der Mobilität des Klägers und das Trainieren komplexmotorischer Bewegungsmuster könne durch die Verordnung von Heilmitteln in gleicher Weise und kostengünstiger erreicht werden. Dieser Vortrag der Beklagten ist zu allgemein gehalten, um die Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Urteil, das sich auf die ausführliche Darlegung der behandelnden Orthopäden stützt, erschüttern könnten.
Darüber hinaus kann die Beklagte dem Anspruch des Klägers nicht die bereits erfolgte Versorgung mit dem Heidelberger Stehgerät bzw. Aktivrollstuhl entgegen halten. Wie das Sozialgericht in seinem Urteil vom 11. September 2006 ausführlich und nachvollziehbar dargelegt hat, wird durch diese Hilfsmittelversorgung das allgemeine Grundbedürfnis des Klägers auf einen Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt, nicht befriedigt.

Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht entgegen, dass er bei der Nutzung des Behindertendreirads auf die Hilfe seiner Pflegeperson angewiesen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann ein Versicherter im Rahmen der Hilfsmittelversorgung nicht das Gleichziehen an die Möglichkeiten eines Gesunden verlangen. Dies bedeutet jedoch auf der anderen Seite, dass die Krankenkasse die Versorgung mit einem Hilfsmittel nicht davon abhängig machen kann, dass die Behinderung durch das Hilfsmittel in dem Maße ausgeglichen wird, dass der Versicherte mit einem Gesunden vergleichbar wäre. Der Kläger ist aufgrund seiner körperlichen Behinderung zur Befriedigung seines elementaren Grundbedürfnisses auf Bewegung im Nahbereich auf die Nutzung eines Behindertendreirades angewiesen. Aufgrund seiner geistigen Behinderung benötigt er fremde Hilfe beim Auf- und Absteigen und beim Fahren mit diesem Hilfsmittel. Diese Hilfe ist nach dem Pflegegutachten des MDK vom 15. Januar 2001 sichergestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Referenznummer:

R/R3058


Informationsstand: 31.07.2008