Urteil
Anspruch auf Erstattung der Anschaffungskosten für ein Rollstuhlzuggerät

Gericht:

LSG Thüringen


Aktenzeichen:

L 6 KR 568/08


Urteil vom:

30.04.2013


Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 25. April 2008 wird zurückgewiesen und das Urteil insoweit neu gefasst, als die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2006 verurteilt wird, die Kosten für ein Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 in Höhe von 4.884,83 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Januar 2011 zu erstatten. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch des Klägers zur Erstattung der Anschaffungskosten für ein Rollstuhlzuggerät der Marke Speedy DUO 2 in Höhe von 4.884,83 EUR.

Der 1961 geborene und bei der Beklagten gesetzlich versicherte Kläger leidet u.a. an einer kompletten Querschnittlähmung unterhalb TH 3. Er ist von Seiten der Beklagten mit einem manuell zu bewegenden Aktivrollstuhl und einem Sportrollstuhl versorgt. Im Mai 2006 beantragte er unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung vom 15. Mai 2006 und eines Kostenvoranschlages eines Sanitätshauses vom 31. Mai 2006 die Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät mit Hilfsmotor des Fabrikats Speedy DUO 2. Der Kläger hatte das Gerät zuvor an seinem Wohnort am 21. April 2006 getestet. Ausweislich des Ergebnisberichtes über die Vorführung stellt das Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 für ihn ein geeignetes Hilfsmittel dar, um wieder selbständig Besorgungen machen und an Veranstaltungen in seinem Umfeld teilnehmen zu können. Die Kettenschaltung sei für Anforderungen des Handbetriebes ausgelegt und ermögliche die kraftsparende Fortbewegung in der Ebene und das Überwinden von leichten Steigungen. Der eingebaute Radnabenmotor könne jederzeit zugeschaltet werden und erleichtere das Anfahren und Überwinden von größeren Steigungen, die im häuslichen Umfeld vorzufinden seien. Die kompakte Bauweise und das geringe Gewicht erlaubten das einfache Verladen und den Transport des Hilfsmittels in einem PKW.

Mit Bescheid vom 31. Mai 2006 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, dass für Erwachsene ein Rollstuhlbike als Hilfsmittel ausgeschlossen sei. Das Hilfsmittel diene nicht der Bewältigung der allgemeinen Grundbedürfnisse, insbesondere zähle hierzu nicht eine dem Radfahren vergleichbare Mobilität. Hiergegen legte der Kläger am 26. Juni 2006 Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren bot die Beklagte mit Schreiben vom 25. Juli 2006 die Übernahme der Kosten für einen elektrischen Zusatzantrieb an, sofern die Fortbewegung mit einem handbetriebenen Rollstuhl zum unmittelbaren Ausgleich der Behinderung im Nahbereich nicht ausreiche. Mit Bescheid vom 12. Oktober 2006 wies sie den Widerspruch zurück. Der Kläger sei von Seiten der Beklagten bereits mit einem Aktivrollstuhl und einem Sportrollstuhl versorgt. Diese reichten zur Erfüllung seiner Grundbedürfnisse aus. Zur Sicherung der ärztlichen Behandlung sei das beantragte Rollstuhlbike ebenfalls nicht notwendig. Sofern die bisherige Rollstuhlversorgung aus medizinischer Sicht nicht mehr ausreichend sei, bestehe die Möglichkeit, den Aktivrollstuhl mit einem elektrischen Restkraftverstärker auszurüsten. Gegebenenfalls könne auch die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl angezeigt sein.

Hiergegen hat der Kläger am 8. November 2006 Klage erhoben und geltend gemacht, dass er allein mit dem Gerät Speedy DUO 2 in der Lage sei, die in der Umgebung seines Wohnhauses vorhandenen Steigungen und Unebenheiten sicher zu überwinden.

Das Sozialgericht (SG) hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. W ... Dieser kommt in seinem Gutachten vom 6. November 2007 zu dem Ergebnis, dass das Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 unter Berücksichtigung seines Wohnumfeldes und seiner krankheitsbedingten körperlichen Einschränkung am besten geeignet ist, die körperlichen Einschränkungen wenigstens teilweise auszugleichen. In einer weiteren Stellungnahme vom 7. Februar 2008 hat der Sachverständige seine Auffassung vertieft.

Mit Urteil vom 25. April 2008 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2006 verurteilt, die Kosten für ein Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 als Sachleistung im Sinne von § 2 Abs. 2 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) laut dem Kostenvoranschlag vom 31. Mai 2006 als Hilfsmittel nach § 33 Abs. 1 SGB V zu übernehmen. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die medizinische Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Versorgung mit dem genannten Rollstuhlzuggerät nachvollziehbar aus dem Sachverständigengutachten des Dr. W. ergebe. Die individuellen Wohnverhältnisse seien zu berücksichtigen, da ansonsten ein Verstoß gegen Artikel 11 des Grundgesetzes (GG) vorliege.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 13. Mai 2008 zugestellte Urteil am 2. Juni 2008 Berufung eingelegt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien Besonderheiten des Wohnortes bei der Klärung der Frage, wann ein Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich sei, um eine Behinderung auszugleichen, nicht zu berücksichtigen. Auch ein eventueller Trainingseffekt rechtfertige eine Versorgung nicht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 25. April 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen und das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 25. April 2008 insoweit neu zu fassen, als die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2006 verurteilt wird, die Kosten für ein Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 in Höhe von 4.884,83 EUR nebst Zinsen in Höhe von 4 % seit dem 1. Januar 2011 zu erstatten.

Er ist der Ansicht, dass ein Rollstuhlbike ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sei und zwar nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern bei zusätzlichen qualitativen Merkmalen auch für Erwachsene. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V stelle auf die Verhältnisse im Einzelfall ab. Damit sei bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Hilfsmittelversorgung sehr wohl das örtliche Umfeld im Nahbereich zu beachten.

Der Kläger hat am 2. März 2010 bei der Speedy Reha-Technik GmbH den Auftrag zur Lieferung des Rollstuhlzuggeräts Speedy DUO 2 erteilt. Dieses wurde ihm am 29. April 2010 geliefert, ausweislich der Rechnung vom 10. September 2010 sind ihm hierfür Kosten in Höhe von 4.884,83 EUR entstanden.

Der Senat hat im Berufungsverfahren auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein weiteres Gutachten bei Dr. M. in Auftrag gegeben. Dieser hat am 12. April 2011 u.a. eine Röntgenuntersuchung beider Schultergelenke durchgeführt und ein Impingement-Syndrom beidseits bei mäßiggradiger AC-Gelenkarthrose, subacromialer Enge und Tendinosis calcarea rechts festgestellt. Er kommt in seinem Gutachten vom 8. Juni 2011 zu dem Ergebnis, dass es dem Kläger mit den vorhandenen Hilfsmitteln nicht möglich sei, sein nächstes Umfeld aufgrund der Steilheit des Geländes selbständig zu erfahren. Aus diesem Grund sei das begehrte Hilfsmittel erforderlich, andere Möglichkeiten, wie eine Versorgung mit einem Elektrorollstuhl, einer elektrischen Restkraftunterstützung, einem Rollstuhlzuggerät mit Elektroantrieb oder einem handbetriebenen Handbike ohne elektrische Unterstützung seien nicht gleich geeignet.

Der Senat hat bei Dr. Sch. ein orthopädisches Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben, wobei nur die Schulter-Arm-Situation des Klägers beurteilt werden sollte. Ausweislich seines Gutachtens vom 27. November 2011 hat der Kläger bei der Untersuchung unter Vorlage eines Berichts seiner behandelnden Physiotherapeutin angegeben, dass er seit sechs Jahren eine Physiotherapie erhalte und bei dieser Behandlung immer wieder über Schmerzen in beiden Schultern geklagt habe. Die durch Dr. Sch. durchgeführte aktive Funktionsprüfung der Schultergelenke ergab beidseits erhebliche Einschränkungen der Armseit- und -vorhebung. Die erstmals durchgeführte sonographische Untersuchung der Schultergelenke hat das Vorliegen eines vorderen Impingement-Syndrom bestätigt. Das nunmehr selbst angeschaffte Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 ist nach Auffassung von Dr. Sch. in der Lage, die Progredienz der Veränderungen an den Schultergleitgeweben zu vermindern und dem Kläger wieder einen Aktionsradius zu verschaffen, wie er üblicherweise schultergesunden Rollstuhlfahrern zur Verfügung steht. Das Gerät habe außerdem noch den Vorteil, dass ein gewisser Trainingseffekt erhalten bleibt.

Der Senat hat durch seinen Berichterstatter am 21. September 2009 einen Erörterungstermin durchgeführt und am 26. Juni 2012 eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Zum genauen Inhalt wird auf die Sitzungsniederschriften (Bl. 193 f. und 290 ff. der Gerichtsakte) Bezug genommen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung zugestimmt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten es Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte, die Gegenstand der geheimen Beratung gewesen sind, Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Altenburg Urteil vom 25.04.2008 - S 4 KR 3095/06

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte aufgrund des ausdrücklich erklärten Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Da der Kläger sein Klagebegehren im Berufungsverfahren im Wege einer zulässigen Klageänderung (§ 153 Abs. 1 iVm § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG) auf Kostenerstattung umgestellt hat, war hierüber zu entscheiden. Der Tenor des Urteils der Vorinstanz vom 25. April 2008 war entsprechend abzuändern, weil der Kläger einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Beschaffung des Rollstuhlzuggerätes Speedy DUO 2 in Höhe von 4.884,31 EUR hat.

Rechtsgrundlage für die Erstattung der Kosten ist § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der Anspruch ist nur gegeben, wenn die Krankenkasse die Erfüllung eines Naturalleistungsanspruchs rechtswidrig abgelehnt und der Versicherte sich die Leistung selbst beschafft hat, wenn weiterhin ein Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung besteht, die selbst beschaffte Leistung notwendig ist und die Selbstbeschaffung eine rechtlich wirksame Kostenbelastung des Versicherten ausgelöst hat (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2012 - Az.: B 3 KR 20/08 R, nach Juris Rn. 10). Der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkasse allgemeiner Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen hat (ständige Rechtsprechung vgl. nur BSG, Urteil vom 21. Februar 2006 - Az.: B 1 KR 29/04 R, zitiert nach Juris Rn. 9). Ob die begehrte Leistung zu Unrecht abgelehnt wurde, ist nach dem für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsrecht und für Leistungen der GKV somit nach den Bestimmungen des SGB V zu prüfen.

Die Beklagte hat die Versorgung des Klägers mit dem streitgegenständlichen Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 im Sinne von § 13 Abs. 3 Satz 2 SGB V zu Unrecht abgelehnt. Maßgebende Vorschrift für die Leistungspflicht der GKV im Bereich der Hilfsmittelversorgung ist § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Die Erforderlichkeit im Einzelfall im Sinne der Vorschrift setzt voraus, dass das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet. Weder eine vertragsärztliche Verordnung des begehrten Hilfsmittels noch seine Listung im Hilfsmittelverzeichnis sind verbindlich für die Leistungspflicht der Krankenkasse (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2011 - Az.: B 3 KR 9/10 R, zitiert nach Juris).

Dem begehrten Rollstuhlzuggerät (auch Rollstuhlbike, Rollstuhlhandbike oder Speedy Bike genannt) kann auch in Bezug auf erwachsene Versicherte nicht generell die Eigenschaft als Hilfsmittel abgesprochen werden. Hilfsmittel im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind alle sächlichen Mittel, die den Erfolg einer Krankenbehandlung sichern, einer drohenden Behinderung vorbeugen oder eine bestehende Behinderung ausgleichen, selbst dann, wenn ihre Anwendung durch den Versicherten selbst sicher zu stellen ist. Das Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 erfüllt diese Voraussetzungen, denn die Hilfsmitteleigenschaft wird allein nach objektiven Kriterien bestimmt. Personenbezogene Merkmale, wie zum Beispiel das Alter des Versicherten, sind nicht ausschlaggebend. Gegenteiliges kann der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 16. September 1999 (vgl. Urteil vom 16. September 1999 - Az.: B 3 KR 8/98 R in NZS 2000 S. 236/238) nicht entnommen werden. Das Gericht hat in einer späteren Entscheidung klar gestellt, dass mit dieser Aussage nicht die Hilfsmitteleigenschaft des Rollstuhlbikes für erwachsene Versicherte generell in Frage gestellt, sondern nur dessen Eignung und Erforderlichkeit zur Erreichung der Versorgungsziele des § 33 SGB V im Einzelfall beurteilt werden solle (vgl. BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 - Az.: B 3 KR 12/10 R zitiert nach Juris).

Das als Hilfsmittel zu qualifizierende Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 ist grundsätzlich nicht zur Sicherstellung der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Versorgungsziele erforderlich, weswegen eine Leistung regelmäßig ausscheidet. Es liegen aber im Fall des Klägers besondere qualitative Umstände vor, die gleichwohl eine Leistungspflicht der Beklagten für das Rollstuhlzuggerät begründen. Ein Rollstuhlzuggerät ist als Hilfsmittel der GKV grundsätzlich nicht zur Gewährleistung der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Versorgungsziele erforderlich. In Betracht kommt allein der sogenannte mittelbare Behinderungsausgleichs, weil durch das begehrte Hilfsmittel nicht das Gehen selbst ermöglicht wird, sondern lediglich die Folgen einer Funktionsbeeinträchtigung der Beine ausgeglichen werden sollen. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der GKV nur zu gewähren, wenn es die Auswirkung der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, worunter auch das Erschließen eines körperlichen Freiraums in der eigenen Wohnung und dem umliegenden Nahbereich zu fassen ist. (vgl. BSG, Urteile vom 10. März 2011 - Az.: B 3 KR 9/10 R und vom 7. Oktober 2010 - Az.: B 3 KR 13/09 R, jeweils zitiert nach Juris). Für die Bestimmung des Nahbereiches gilt ein abstrakter, von den Besonderheiten des jeweiligen Wohnortes unabhängiger Maßstab (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. nur Urteil vom 19. April 2007 - Az.: B 3 KR 9/06 R = BSGE 98,213/219 und zuletzt Urteil vom 18. Mai 2011- Az.: B 3 KR 12/10 R, zitiert nach Juris). Nicht die konkreten Wohnverhältnisse des behinderten Menschen sind maßgebend, weil der Nahbereich ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens konkretisiert und somit die Eignung und Erforderlichkeit des Hilfsmittels als objektive Anspruchsvoraussetzung betrifft (vgl. BSG, Urteile vom 18. Mai 2011 - Az.: B 3 KR 7/10 R und B 3 KR 12/10 R, jeweils zitiert nach Juris).

Ausgehend von diesen Grundsätzen eröffnet das Rollstuhlzuggerät den behinderten Menschen eine dem Radfahren vergleichbare und somit eine über den in der GKV abzudeckenden Nahbereich hinausgehende Mobilität. Mit Hilfe des Rollstuhlzuggerätes können nicht nur die im Nahbereich der Wohnung liegenden Ziele erreicht, sondern darüber hinaus auch Arbeits- und Freizeitwege jeglicher Art in Angriff genommen werden.

Bei dem Kläger ist die Gewährung des Rollstuhlzuggerätes als Hilfsmittel im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V jedoch nicht ausgeschlossen, weil besondere qualitative Momente dieses Mehr an Mobilität erfordern. Solche besonderen qualitativen Momente liegen vor, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist (vgl. BSG, Urteile vom 18. Mai 2011 - Az.: B 3 KR 7/10 R und B 3 KR 12/10 R, jeweils zitiert nach Juris). Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar ist, weil Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können oder die vom Hilfebedürftigen benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt. Abzustellen ist dabei jeweils auf die Umstände des Einzelfalles. Ein besonderes qualitatives Moment kann nicht bereits darin gesehen werden, dass der Kläger die sich in seinem Wohnumfeld befindlichen Steigungen nicht mehr ohne weiteres bewältigen kann. Das BSG hat in den genannten Urteilen vom 18. Mai 2011 ausdrücklich betont, dass im Zusammenhang mit der Prüfung dieser besonderen qualifizierenden Umstände, welche ausnahmsweise eine Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät rechtfertigen können, ausschließlich auf die medizinische Aspekte im Einzelfall abzustellen ist. Dabei steht die Frage, ab welcher Strecke die Fortbewegung zu gesundheitlichen Beschwerden führt, im Vordergrund. Das konkrete Wohnumfeld hat hingegen Außen vor zu bleiben, da nach wie vor der abstrakte, von den Besonderheiten des jeweiligen Wohnortes unabhängige, Maßstab gilt. Soweit die Sachverständigen Dr. W. und Dr. M. die Notwendigkeit der Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 mit den konkreten Umständen des Wohnumfeldes des Klägers begründen, kann dem der Senat nicht folgen.

Der Senat kann die von der Vorinstanz aufgeworfene Frage offen lassen, ob durch diese Auslegung eine Verletzung von Artikel 11 GG gegeben ist. Die besonderen qualitativen Umstände ergeben sich hier unabhängig vom konkreten Wohnumfeld des Klägers aus den schon von Dr. M. beschriebenen und von Dr. Sch. dargelegten degenerativen Veränderungen der Schultergelenke des Klägers. Bei ihm liegt ein vorderes Impingement-Syndrom an beiden Schultern vor, welches sich bereits in konkreten Funktionseinschränkungen bemerkbar macht. Dr. Sch. konnte beidseits eine erhebliche Einschränkung der Armseit- und -vorhebung feststellen. Dies deckt sich mit den Angaben des Klägers und seiner behandelnden Physiotherapeutin, dass er seit sechs Jahren eine Physiotherapie erhalte und bei dieser Behandlung immer wieder über Schmerzen in beiden Schultern geklagt habe. Es handelt sich um einen typischen Befund, der verstärkt bei Rollstuhlfahrern auftritt, insbesondere, wenn eine so lange Nutzung wie im Fall des Klägers vorliegt. Auch wenn dies zur Zeit noch relativ gut kompensiert werden kann, ist aufgrund des Alters des Klägers und des Umstandes, dass in den letzten eineinhalb Jahren ein deutliches Fortschreiten zu verzeichnen ist, damit zu rechnen, dass in Kürze durch den Rollstuhlgebrauch ohne Antriebshilfe eine konfluierende Defektzone im cranialen Rotatorenmanschettenbereich entsteht, die im ganz normalen Lebensalltag erhebliche Probleme bei der Bedienung des Rollstuhls mit sich bringt und dem Kläger nicht mehr der Aktionsradius verbleibt, der schultergesunden Rollstuhlfahrern zur Verfügung steht. Auch wenn das selbst angeschaffte Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 die Krankheit nicht aufhalten kann, so ist es doch nach den überzeugenden Ausführungen des Dr. Sch. in der Lage, die Progredienz, also das Fortschreiten, der Veränderungen an den Schultergleitgeweben zu vermindern.

Andere in Betracht kommende Geräte sind insoweit nicht gleich geeignet. Die Versorgung mit einem zusätzlichen Elektrorollstuhl ist - worauf Dr. M. bereits hingewiesen hat - aufgrund des erforderlichen Transfers vom Elektrorollstuhl in den Aktivrollstuhl und umgekehrt nicht sinnvoll, da es aufgrund von Problemen im Bereich der unteren Extremitäten schon häufiger zu Frakturen beim Übersetzen gekommen ist. Eine elektrische Restkraftunterstützung hat den erheblichen Nachteil, dass das Zusatzgewicht für die beiden Elektroantriebe sowie die Batterie vom Rollstuhlfahrer ständig mitbewegt werden muss, selbst wenn keine Restkraftunterstützung notwendig ist. Hierdurch dürften sich die Schulterbeschwerden eher verstärken. Gegen ein Rollstuhlzuggerät mit reinem Elektroantrieb spricht, dass nur eine eingeschränkte Reichweite besteht und bei Batterieversagen keine selbständige Fortbewegung mehr möglich ist. Ein Handbike ohne elektrische Unterstützung ist von Nachteil, da bei aufkommenden Schulterschmerzen keine Möglichkeit der Entlastung besteht und der Kläger gezwungen ist, sich unter Schmerzen oder nur mit fremder Hilfe fortzubewegen. Diese Nachteile vermeidet allein das Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2, so dass es auf den von den Sachverständigen angesprochene Trainingseffekt nicht ankommt, der - worauf die Beklagte zu Recht hinweist - eine Versorgung als Hilfsmittel allein nicht rechtfertigen kann.

Auch die übrigen Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V sind erfüllt. Der Kläger hat sich das Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 selbst beschafft, weil die Beklagte die Leistung abgelehnt hat. Anhaltspunkte dafür, dass das Rollstuhlzuggerät Speedy DUO 2 nicht notwendig im Sinne von § 12 SGB V ist, bestehen nicht. Durch die Selbstbeschaffung wurde auch eine rechtlich wirksame Kostenbelastung des Klägers ausgelöst.

Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 44 Abs. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I). Der Senat war nach § 153 Abs. 1 iVm § 123 SGG an den beantragten Beginn zum 1. Januar 2011 gebunden, auch wenn ein früherer Zeitpunkt nach § 44 Abs. 1 iVm § 41 SGB I möglich gewesen wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG).

Referenznummer:

R/R6932


Informationsstand: 18.04.2016