Urteil
Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit einem Steh- und Bewegungstrainer

Gericht:

SG Nürnberg 21. Kammer


Aktenzeichen:

S 21 KR 613/16


Urteil vom:

20.10.2017


Grundlage:

Leitsätze:

1. Ein Hilfsmittel, das erhebliche Gebrauchsvorteile bietet, die sich nicht nur auf die Bequemlichkeit und den Komfort beschränken, ist von der Krankenkasse im Rahmen des Sachleistungsanspruchs zu übernehmen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

2. Der Anspruch auf Versorgung mit einem bestimmten Hilfsmittel ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil es nicht in dem nach § 128 SGB V aF erstellten Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist; bei dem Hilfsmittelverzeichnis handelt es sich lediglich um eine Auslegungshilfe, die für die Gerichte nicht verbindlich ist (ebenso BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 44 = BeckRS 9999, 00050). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Rechtsweg:

LSG München, Beschluss vom 22.08.2019 - L 20 KR 50/18
LSG München, Beschluss vom 18.09.2019 - L 20 KR 50/18

Quelle:

BAYERN.RECHT

Tenor:

I. Der Bescheid der Beklagten vom 16.03.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.09.2016 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte wird verurteilt die Klägerin mit dem Hilfsmittel I. zu versorgen.

III. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Übernahme der Kosten für das Hilfsmittel "I.", einen Steh- und Bewegungstrainer.

Die Klägerin ist 2005 geboren und bei der Beklagten krankenversichert. Bei der Klägerin besteht eine Mehrfachbehinderung, es werden Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 4 gewährt. Es ist ein GdB von 100 anerkannt und Merkzeichen B, G, aG, H und RF festgestellt. Die Klägerin besucht die G.-Schule in A-Stadt und die Tagesstätte der L. A-Stadt.

Im Jahr 2015 beantragte die Klägerin eine Probeversorgung mit dem streitgegenständlichen Hilfsmittel. Mit Bescheid vom 11.08.2015 wurde eine Probeversorgung für die Dauer von 6 Monaten bewilligt. Die Kosten hierfür beliefen sich auf 3504,35 EUR.

Unter Vorlage einer Verordnung des sozialpädiatrischen Zentrums der U. A-Stadt und eines Kostenvoranschlags vom 05.02.2016 in Höhe von 14.933,00 EUR beantragte die Klägerin am 15.02.2016 die Übernahme der Kosten für das streitgegenständliche Hilfsmittel. Mit Schreiben vom 25.02.2016 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) eingeholt werde. Mit Stellungnahme vom 29.02.2016 bat der MDK um Vorlage eines Erprobungsberichts. Mit Bescheid vom 16.03.2016 lehnte die Beklagte eine Übernahme der Kosten ab. Dagegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 22.03.2016, dem ein Therapiebericht der L. A-Stadt beilag, Widerspruch ein. Mit Schreiben vom 09.05.2016 reichte die Klägerin eine ärztliche Stellungnahme der Kinder- und Jugendklinik am U. A-Stadt, zwei Berichte des W. A-Stadt und einen Therapiebericht der Physiotherapeutin der Klägerin sowie Videoaufzeichnungen über die Benutzung des streitgegenständlichen Hilfsmittels ein. Diese Unterlagen wurden dem MDK vorgelegt. Mit Gutachten vom 25.05.2016 stellte der MDK fest, dass der medizinische Nutzen nicht belegt sei und die Versorgung sozialmedizinisch nicht zu begründen sei. Mit Schreiben vom 01.06.2016 teilte die Beklagte das Ergebnis der Begutachtung mit und bat um Mitteilung, ob der Widerspruch aufrechterhalten werde. Nachdem die die Klägerin erklärte, dass der Widerspruch aufrechterhalten bleibe, leitete die Beklagte den Fall an den Widerspruchsausschuss weiter. Mit Widerspruchsbescheid vom 28.09.2016 lehnte die Beklagte eine Übernahme der Kosten ab.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Klage vom 07.10.2016. Das Hilfsmittel sei medizinisch notwendig gemäß § 33 SGB V. Es diene der Gesamtverbesserung der körperlichen Situation. Nicht nur die Bewegung der Beine, sondern auch die Kopf- und Rumpfkontrolle, die Stabilisierung des Beckens, die oralen Funktionen wie Speichelfluss und Nahrungsaufnahme usw. würden verbessert. Das beantragte Hilfsmittel verbinde Bewegung und Stehen. Bei einer anderen Versorgung wäre keine Stehfunktion vorhanden. Während der Erprobung habe sich eine deutliche Verbesserung der Gesamtsituation der Klägerin gezeigt. Die Muskulatur im Becken- und Oberschenkelbereich und zum Teil auch im Rumpf sei während der Probephase deutlich verbessert worden. Ebenfalls sei die Nieren- und Blasentätigkeit angeregt worden. Die Eigenaktivität der Beine sei erhöht, die Stehbereitschaft und die Schluckfähigkeit sowie die Kopfkontrolle seien deutlich verbessert worden.


Die Klägerin beantragt,

die Beklagte wird verurteilt unter Aufhebung des Bescheides vom 16.03.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.09.2016 die Klägerin mit einem Bewegungstrainer I. zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

Im gerichtlichen Verfahren wurden Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt und der Orthopädietechnikmeister Herr H. mit einem Sachverständigengutachten beauftragt. In seinem Gutachten vom 24.03.2017 kommt der Gutachter zu folgendem Ergebnis: Bei dem begehrten Hilfsmittel handle es sich um einen Steh- und Bewegungstrainer. Es bedürfe keiner selbständigen Steh- oder Gehfähigkeit, um im I. trainieren zu können. Derzeit sei die Klägerin mit einem Stehständer versorgt. Dieser sei jedoch vor ca. einem Jahr zuletzt genutzt worden und befinde sich im Keller der Familie. Die individuell angefertigte Stehorthese sei nicht mehr passgerecht und sei in Kombination mit dem Stehständer genutzt worden. Im Rahmen der aktuellen Begutachtung sei die Klägerin in dem Stehständer mobilisiert worden. Die Einstellmöglichkeiten seien nahezu ausgereizt, der Stehständer nur noch sehr eingeschränkt funktionell passgerecht. Zur Verbesserung der Lastaufnahme der unteren Extremitäten würden die passgerechten Orthesen genutzt werden. Die Klägerin nehme die Stehtherapie gut an, die Einnahme einer anderen Körperposition sei vorteilhaft und werde gut toleriert. Das vorhandene Bauchschrägliegebrett C. sei nur noch bedingt passgerecht und müsse ersetzt werden. Unterschenkelorthesen seien vorhanden und passgerecht und würden unabhängig von einer Steh- oder Bewegungstherapie benötigt.

Bis zur leihweisen Versorgung mit dem streitgegenständlichen Hilfsmittel im Herbst 2015 sei in der G.-Schule keine Steh- oder Bewegungstherapie erfolgt. Eine Stehtherapie sei ausschließlich zuhause und nicht regelmäßig erfolgt. Die Versorgung mit dem I. habe nach Angabe der Therapeuten zu einer Verbesserung der Stehbereitschaft geführt und es sei zu einer allgemeinen Verbesserung des Krankheitsbildes gekommen. Auch der Speichelfluss und das Schlucken hätten sich verbessert. Nachdem die Klägerin das Hilfsmittel wieder habe abgeben müssen, sei der Speichelfluss wiederum deutlich schlechter geworden, wie auch das Schlucken und die Harnableitung. Das streitgegenständliche Hilfsmittel diene dazu, den Erfolg eine Krankenbehandlung zu sichern. Mit dem I. werde eine passive motorunterstützte Bewegungsführung der unteren Extremitäten in einer vertikalisierten Position ermöglicht. Eine Stehtherapie und auch eine Therapie mit einem Bewegungstrainer seien als notwendig anzusehen. Es würde jedoch zur Erreichung der beabsichtigten medizinischen Ziele wirtschaftlichere und gleichermaßen geeignete Alternativen zu Verfügung stehen. Es stünde die getrennte Versorgung mit einem Stehständer und einem Bewegungstrainer (wie zum Beispiel m.) für die unteren Extremitäten zur Verfügung. Die Kosten für beide Hilfsmittel gemeinsam würden sich auf ca. 8.500-10.000 EUR belaufen. Mit einer getrennten Versorgung sei eine Nutzung in unterschiedlichen Lebensbereichen denkbar.

Mit Schreiben vom 24.04.2017 bot die Beklagte an, die Kosten für die alternative Versorgung zu übernehmen. Dies lehnte die Klägerin ab und legte Stellungnahmen der betreuenden Einrichtung der L., der behandelnden Ärzte des W. und der behandelnden Neurologin im U. A-Stadt vor. Die Physiotherapeutin der L. A-Stadt hat betont darin nochmals die zum Teil auch unerwarteten Fortschritte, die bei Nutzung des Geräts entstanden seien. Darüber hinaus sprächen gegen eine Versorgung mit zwei Geräten praktische Aspekte. Man bräuchte Raum für zwei Geräte und das Stehgerät könne nur mithilfe von zwei Personen verwendet werden. Der behandelnde Arzt des W. Herr Prof. Dr. med. F. erläuterte, dass mit dem streitgegenständlichen Hilfsmittel sowohl ein Stehtraining als auch eine Mobilisierung der Gelenke der unteren Extremitäten erreicht werden könne. Die Versorgung mit dem I. könne auch einen positiven Einfluss auf die Körperwahrnehmung durch die komplexen Bewegungen bewirken. Das Training sei unter Einwirkung des Gewichts im Gegensatz zu dem M. möglich. Die Auswirkung auf den gesamten Bewegungsapparat bei der Kombination des Stehens und der Mobilisierung der Gelenke mit dem I. sei viel komplexer und effektiver als mit einem M. und einem Stehständer. Das streitgegenständliche Hilfsmittel verfüge darüber hinaus über eine individuell einstellbare Spasmenkontrolle, so dass eine Verletzungsgefahr bei Abwehrbewegungen und Kontraktion während des Trainings ausgeschlossen werden könne. Die Versorgung mit zwei Geräten habe den Nachteil, dass diese zwei Geräte auch bedient werden müssten und zusätzliche Zeiträume sowohl für das Stehen im Stehständer als auch für die Übungen mit dem M. notwendig seien. Die Handhabung der Geräte sei sehr aufwändig, so dass entsprechende Behandlungszeiten nicht möglich sein. Im M. könnten die Beinbewegungen nur im Sitzen ausgeführt werden. Die Klägerin toleriere die liegende Position nicht. Weder in sitzender noch in liegender Position sei eine positive Beeinflussung der Hüftgelenke unter Belastung möglich. Auch beim starren Fixieren im Stehständer sei eine aktive Gewichtsverlagerung nur eingeschränkt möglich.

Die Neurologin am U. A-Stadt Frau Dr. L. führt in ihrer Stellungnahme vom 23.06.2017 aus: Prinzipiell bestünden für alle Hilfsmittel medizinische Indikationen. Aus alltagspraktischen Gründen sei eine Kombination der Hilfsmittel (wie mit dem streitgegenständlichen Hilfsmittel) von großem Vorteil, da sich die Trainingseinheiten verlängern und damit die Effektivität erhöhen ließe. Es sei nicht praktikabel, dass in der Einrichtung täglich beide Hilfsmittel eingesetzt werden könnten. Auch ein wirkungsvoller Einsatz eines der Hilfsmittel zuhause sei nicht mehr möglich, da die Klägerin dann zu müde sei. Medizinisch gesehen sei es ein großer Unterschied, ob das Bewegungstraining liegend oder sitzend oder stehend durchgeführt werde. Gerade die alternierende Bewegung im Stehen sei für die Körperwahrnehmung einer aufrechten Position sowie für das Training der Muskeln und des Halteapparats enorm wertvoll. Durch die geführte Bewegung gegen die Schwerkraft und die Ausrichtung des Körpers in der senkrechten Position bei gleichzeitiger Bewegung der Extremitäten könnten Trainingseffekte erzielt werden, die weder mit einem Stehständer noch mit einem M. erreicht werden könnten. Der Trainingseffekt steigere sich mit dem streitgegenständlichen Hilfsmittel gerade durch die Kombination und es bestehe ein weitaus höherer Therapieerfolg als derjenige, der durch ein zeitlich getrenntes statisches Stehen und eine rhythmische Bewegung ohne Stehen erzielt werden könne. Die Bewegung im streitgegenständlichen Hilfsmittel käme der physiologischen Schreitbewegung am nächsten.

Diese Stellungnahmen wurden den gerichtlichen Sachverständigen zu ergänzenden Stellungnahme vorgelegt. Dieser verblieb jedoch bei seiner Einschätzung. Es sei nachvollziehbar, dass ein großer Unterschied sei, ob das Bewegungstraining liegend oder sitzend oder stehend durchgeführt werde. So sei gerade die alternierende Bewegung im Stehen für die Körperwahrnehmung einer aufrechten Position sowie für das Training der Muskeln und des Halteapparats enorm wertvoll. So komme die Bewegung im streitgegenständlichen Hilfsmittel der physiologischen Schreitbewegung am nächsten. Ein überlegener Effekt der Kombination der Bewegungstherapie mit der Stehtherapie sei jedoch nicht durch Studien belegt. Die genannten Ziele könnten größtenteils auch mit einer getrennten Versorgung erreicht werden.

Am 20.01.2017 fand ein Termin zur mündlichen Verhandlung statt. In diesem führte die Mutter der Klägerin aus, dass sie die Klägerin nicht allein in den Stehständer stellen könne. Hierzu würde sie eine weitere Hilfe brauchen. Bei dem I. sei es so, dass sich das Kind im Sitzen in das Hilfsmittel setze und der Sitz dann hochgefahren werde. Nach einem längeren Stehen im Stehständer hätten der Klägerin die Füße wehgetan und sie hätte Druckstellen an den Füßen gehabt.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen. Bezüglich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten sowie auf die von den Beteiligten im Verfahren gewechselten aktenkundigen Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Versorgung mit dem Hilfsmittel "I.". Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte hat die Versorgung mit dem I. zu Unrecht abgelehnt.

Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung im Hinblick auf "die Erforderlichkeit im Einzelfall" nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse nach § 12 Abs. 1 SGB V nicht bewilligen. Dagegen ist weder die vertragsärztliche Verordnung (§ 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB V) des begehrten Hilfsmittels noch seine Listung im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) Voraussetzung für die Leistungspflicht der Beklagten (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urteile vom 18. Mai 2011 - Az.: B 3 KR 12/10 R und B 3 KR 7/10 R m.w.N, nach juris).

Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind hier erfüllt.

1. Das streitgegenständliche I. versehen ist, stellt ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V dar (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, 15.12.2011, L 5 KR 31/10 unter Rn. 22, veröffentlicht in juris).

2. Es handelt es sich bei dem I. nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens (BSG, 16.04.1998, B 3 KR 9/97 R, juris; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, 15.12.2011, L 5 KR 31/10).

3. Die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Hilfsmittel ist auch erforderlich im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V, da es der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dient. Der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dient ein bewegliches sächliches Mittel nach der Rechtsprechung des BSG, soweit es spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird, um zu ihrem Erfolg beizutragen (BSG, Urteil vom 19. April 2007 - B 3 KR 9/06 R -, BSGE 98, 213-219, Rn. 11). Eine unmittelbare Bedienung des Hilfsmittels durch den Arzt selbst ist dabei nicht zwingend erforderlich, so dass ein Hilfsmittel nicht schon deshalb nach § 33 Abs. 1 SGB V ausgeschlossen ist, weil die praktische Anwendung durch den Versicherten selbst erfolgt (BSGE 87, 105, 109 = SozR 3-2500 § 139 Nr. 1 S. 5 - Magnetfeldtherapiegerät; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 39 S. 220 - Therapie-Dreirad). Ein weitergehender spezifischer Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung i.S. von § 27 Abs. 1 SGB V kommt nur solchen Maßnahmen zur körperlichen Mobilisation zu, die in einem engen Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen und für die gezielte Versorgung i.S. der Behandlungsziele des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V als erforderlich anzusehen sind. Das Hilfsmittel wird von allen Beteiligten als medizinisch erforderlich angesehen.

4. Dem Sachleistungsanspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel stehen Fragen der Wirtschaftlichkeit nicht entgegen. Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist in § 2 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 12 Abs. 1 SGB V verankert. § 12 Abs. 1 SGB V bestimmt, dass die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Wählen Versicherte Hilfsmittel, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen (§ 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V; ebenso § 31 Abs. 3 SGB IX). Krankenkassen haben insofern nicht für solche Verbesserungen aufzukommen, die keine Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern in erster Linie die Bequemlichkeit und den Komfort bei der Nutzung des Hilfsmittels bzw. lediglich ästhetische Vorteile betreffen (vgl. nur BSG, 25.06.2009, B 3 KR 10/08 R zu einer Salzwasserprothese; BSG, 21.03.2013, B 3 KR 3/12 R zu einer Unterschenkel-Sportprothese).

Nach Ansicht des Gerichts stellt die Versorgung mit dem Stehständer und dem M. Bewegungstrainer keine gleichwertige Alternativversorgung dar, vielmehr hat die Versorgung mit dem I. für die Klägerin erhebliche Gebrauchsvorteile. Diese beschränken sich nicht nur auf den Komfort und die Bequemlichkeit. Dies steht für das Gericht fest aufgrund der Stellungnahmen des Herrn Prof. Dr. med F. und der Neurologin Frau Dr. L. vom U. A-Stadt. Die Unterbringung zweier doch erheblichen Platz in Anspruch nehmender Geräte stellt einen erheblichen Nachteil dar. Es ist für das Gericht auch ohne weiteres nachvollziehbar, dass die Effektivität des Trainings deutlich besser ist, wenn die Klägerin die Trainingseinheiten in einem Gerät absolvieren kann und nicht erst von einem zum anderen Gerät befördert werden muss. Des Weiteren hat die Versorgung mit dem I. den Vorteil, dass die Klägerin von nur einer Person in das Gerät befördert werden kann und dafür nicht zwei Personen - wie bei dem Stehständer - erforderlich sind. Dies ermöglicht eine wesentlich schnellere und praktikablere Handhabung des Geräts. Entscheidend ist jedoch, dass das Hilfsmittel - wie die behandelnden Ärzte und Therapeuten übereinstimmend erklärt haben - einen wesentlich größeren therapeutischen Nutzen hat, als die Versorgung mit zwei einzelnen Geräten. Es ist für das Gericht nachvollziehbar, dass es medizinisch gesehen ein großer Unterschied ist, ob das Bewegungstraining liegend oder sitzend oder stehend durchgeführt werde. Ebenso ist es nachvollziehbar, dass gerade die alternierende Bewegung im Stehen für die Körperwahrnehmung einer aufrechten Position sowie für das Training der Muskeln und des Halteapparats wertvoll ist und daher durch das begehrte Hilfsmittel Trainingseffekte erzielt werden, die weder mit einem Stehständer noch mit einem M. erreicht werden könnten. Darüber hinaus verfügt das streitgegenständliche Hilfsmittel über eine individuell einstellbare Spasmenkontrolle, so dass eine Verletzungsgefahr bei Abwehrbewegungen und Kontraktion während des Trainings ausgeschlossen werden kann. Diese Aspekte werden auch von dem gerichtlichen Sachverständigen in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21.07.2017 für nachvollziehbar erklärt. Damit steht für das Gericht fest, dass die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel im Vergleich zu der angebotenen Alternativversorgung erhebliche Gebrauchsvorteile bietet, die sich nicht nur auf die Bequemlichkeit und den Komfort beschränken.

5. Der Anspruch auf die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel ist schließlich nicht deswegen ausgeschlossen, weil es nicht in dem nach § 128 SGB V von den Spitzenverbänden der Krankenkassen erstellten Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei dem Hilfsmittelverzeichnis nicht um eine Anspruchsvoraussetzung, sondern lediglich um eine Auslegungshilfe, die für die Gerichte nicht verbindlich ist (BSG, Urteil vom 06.06.2002, Az. B 3 KR 68/01 R).

Der Klage war daher stattzugeben.

6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R8454


Informationsstand: 02.03.2020