Urteil
Krankenversicherung - Hilfsmittel - keine Kostenübernahme des Elektrostimulationssystems "Motionstim 8"

Gericht:

SG Mainz 14. Kammer


Aktenzeichen:

S 14 KR 223/14


Urteil vom:

22.11.2016


Grundlage:

Leitsatz:

Das Hilfsmittel "Motionstim 8" ist aufgrund der funktionellen Elektrostimulation der Muskeln an Beinen oder Armen Teil einer neuen Behandlungsmethode. Es dient der Wiederherstellung der Beweglichkeit an Beinen oder Armen und dem Training der Muskeln und geht über den unmittelbaren Behinderungsausgleich hinaus. Bis der Gemeinsame Bundesausschuss hierzu eine positive Empfehlung abgegeben hat, ist sie keine Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Landesrecht Rheinland-Pfalz

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Versorgung des Klägers mit einem Elektrostimulationsgeräts "Motionstim 8".

Der Kläger ist bei der Beklagten gegen das Risiko der Krankheit versichert. Er leidet seit Oktober 2009 an einer inkompletten Querschnittslähmung mit weitgehendem Funktionsverlust der Beine. Er ist Rollstuhlfahrer und kann nur mit Hilfe stehen.

Der Kläger legte der Beklagten am 25. Oktober 2013 die Verordnung für das Elektrostimulationsgerät "Motionstim 8" sowie einen Kostenvoranschlag in Höhe von 4.512,00 Euro vor. Er beantragte Kostenübernahme. Bei dem Gerät der Firma K.T. handelt es sich laut Produktblatt um ein Hilfsmittel mit mehreren Kanälen zur funktionellen Elektrostimulation zum Behinderungsausgleich zum Beispiel bei inkompletten Querschnittslähmungen mit dem Ziel der Wiederherstellung verlorener Körperfunktionen wie Hand- / Armfunktionen oder Mobilisierung der Beine. Die acht Kanäle seien flexibel für die unterschiedlichsten Behandlungsanforderungen. Jetzt könnten mehr Muskeln zeitsparend in einer Behandlungssitzung gleichzeitig stimuliert werden. Dies eröffne die Möglichkeit, funktionelle Bewegungsabläufe im Rahmen einer Bewegungstherapie (z.B. Laufen) zu realisieren. Die Muskelimpulse bei Querschnittsgelähmten könnten nicht mehr vom Gehirn über das Rückenmark gesteuert werden. Die Nervenbahnen und Muskeln seien dagegen in der Regel intakt. Das Motionstim 8 reize die Nervenbahnen, die zu den einzelnen Muskeln ziehen, muskelnah mit kurzen elektrischen Impulsen und brächten den Muskel so zur Kontraktion. Damit erhielten Behinderte eine begründete Chance, wesentliche Bewegungsfunktionen wieder zu erlangen. Das Merkblatt beschreibt u.a. die Therapien Gangtraining in medizinischen Einrichtungen, Spastikbehandlung durch muskulären Aufbau sowie allgemeines Muskelaufbautraining.

Am 31. Oktober 2013 fand eine Erprobung des Geräts beim Physiotherapeuten und Berater der Firma KT. TB. statt. Laut Kreuz auf einem Vordruck zum Testbericht könne durch den Einsatz des Geräts eine Erhöhung der bisherigen Physiotherapie von zweimal wöchentlich 45 Minuten vermieden werden.

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK), der von der Beklagten mit der Sachprüfung beauftragt wurde, empfahl am 22. November 2013 den Antrag abzulehnen. Das Gerät sei indiziert, wenn im stationären Rahmen der Nachweis erbracht worden sei, dass die verlorengegangene muskuläre Funktion der oberen oder unteren Extremität durch elektrische Stimulation zeitlich begrenzt wieder hergestellt werden könne oder wenn im rehabilitativen Rahmen eine positive Geräteanwendungserprobung erfolgt sei. Der Kläger sei mit Sprunggelenksorthesen versorgt. Im Erprobungsbericht seien keine Verbesserung der Funktionen festgestellt worden Laut Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bestünden zwischen einer Sprunggelenksorthese und funktioneller Elektrostimulation in den funktionellen Parametern wie Ganggeschwindigkeit und Schrittzahl keine Unterschiede. Die Notwendigkeit des Geräts sei nicht nachvollziehbar. Ausreichend seien neben einem suffizienten orthopädischen Schuhwerk Physiotherapie, Ergotherapie und eine fachneurologische ambulante Behandlung.

Mit Bescheid vom 5. Dezember 2013 lehnte die Beklagte mit den vom MDK geäußerten Gründen die Versorgung ab. Er sei seit der Neuanfertigung des orthopädischen Schuhwerks im Januar 2012 mit suffizienten Sprunggelenksorthesen versorgt.

Hiergegen wandte sich der Kläger mit dem Widerspruch vom 10. Dezember 2013, der per E-Mail eingelegt wurde. Er teilt mit, dass er die orthopädischen Schuhe auf Anweisung eines Beklagtenvertreters in den Müll geworfen habe. Die Schuhe seien ohne Erfolg mehrfach geändert worden. Er habe neue Schuhe in einem anderen Sanitätshaus bestellen sollen, was er nicht getan habe.

Die Beklagte bat den MDK erneut um Beurteilung. Dieser kam am 3. Februar 2014 zu keinem anderen Ergebnis.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. April 2014 zurück. Sie bezieht sich auf das Ergebnis der MDK-Begutachtung. Die Versorgung mit dem Gerät überschreite das medizinisch Notwendige.

Der Kläger hat am 9. Mai 2014 Klage erhoben. Er Kläger habe das Gerät nicht zu Hause sondern auf einer Reha-Messe erprobt. Der behandelnde Arzt habe das Gerät als Therapiekonzept verordnet. Die Beklagte schrecke vor den Kosten zurück.


Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 5. Dezember 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. April 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger das Elektrostimulationsgerät "Motionstim 8" zu gewähren.


Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Inhalt der Verwaltungsakte, die Gutachten des MDK und ihres Widerspruchsbescheids.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch einen Befundbericht und medizinische Unterlagen des behandelnden Arztes Dr. G. Das Gericht hat ergänzend Dr. G. um Auskunft zur medizinischen Notwendigkeit der Versorgung gebeten. Der Kläger sei mit Hilfsmitteln versorgt, die eine Alternative zu dem Motionstim 8 darstellten. Er erwarte durch das Gerät eine Erstverbesserung der neurologischen Befunde. Die Spastik sei durch die bisherige Behandlung nicht im Griff.

Das Gericht hat Prof. Dr. W. (UH), bei dem der Kläger in Behandlung war, um Auskunft zur medizinischen Notwendigkeit der Versorgung gebeten. Er teilt mit, dass er hierzu keine Auskunft geben könne, da in keinem ihm vorliegenden Befundbericht zur ambulanten oder stationären Versorgung eine funktionelle Elektrostimulation empfohlen oder verordnet worden sei.

Eine vom Kläger angeregte fachärztliche Sachverständigenbegutachtung kam nicht zu Stande, da die Firma KT das Gerät nicht ausleihen sondern durch einen Vertreter beim Sachverständigen vorführen wollte.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichts- und beigezogenen Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten erweist sich als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen subjektiven Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf die Versorgung mit einem Motionstim 8.

Rechtsgrundlage für die begehrte Versorgung mit dem Motionstim 8 ist § 33 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative SGB V i.V.m. § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Ein Anspruch auf die Versorgung mit einem Hilfsmittel besteht nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse gemäß § 12 Abs. 1 SGB V nicht bewilligen. Sofern ein Hilfsmittel den Erfolg einer ambulanten Krankenbehandlung im Sinne von § 33 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. SGB V sichern soll und dabei in einem untrennbaren Zusammenhang mit einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V steht, ist Voraussetzung für den Anspruch des Versicherten, dass die neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) anerkannt worden ist. Es handelt sich insoweit nicht nur um ein Hilfsmittel sondern ist Teil der Behandlung, die ihrerseits vom Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung umfasst sein muss.

Nach § 135 Abs 1 Nr. 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Abs. 2 Satz 1, einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung, die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung.

Die Aufnahme eines solchen Hilfsmittel durch den GKV-Spitzenverband in das Hilfsmittelverzeichnis ändert ohne positive Empfehlung des GBA nichts daran, dass es als vertragsärztliche Leistungen nicht zu Lasten der Krankenkasse erbracht werden darf (BSG, Urteil vom 8.7.2015, Az.: B 3 KR 5/14 R, Rn. 26 ff., zitiert nach Juris).

Bei dem vom Kläger begehrten Motionstim 8 handelt es sich um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGB V. Es ist Teil einer Behandlungsmethode. Nach dem aus den vorliegenden technischen und medizinischen Unterlagen gewonnen Verständnis der Kammer geht die Wirkung des Motionstim 8 über den reinen Behinderungsausgleich oder die Behinderungsvorbeugung hinaus. Ziel ist vielmehr Spastiken durch Muskelstärkung abzubauen und die Gehfähigkeit zu trainieren, wie es sich aus der Zuschrift des Dr. G. ergibt. Das Hilfsmittel unterstützt dieses Ziel nicht nur im Sinne einer Erfolgssicherung sondern soll dieses durch Muskelstimulation bewirken. Es wird nicht ausschließlich in der Praxis eingesetzt sondern trainiert auch in Heimanwendung.

Diese ärztliche Behandlung der funktionalen Elektrostimulation von Muskeln ist eine neue Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Abs. 1 SGB V.

Neu ist eine Behandlungsmethode dann, wenn sie bislang nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im einheitlichen Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) enthalten ist (vgl. ebenso: SG Speyer, Urteil vom 28. April 2016 - S 17 KR 476/14 - juris Rn. 45).

Die gezielte Elektrostimulation bei spastischen und/oder schlaffen Lähmungen ist im EBM unter Ziffer 02512 enthalten. Dabei handelt es sich jedoch um Elektrostimulationen die ausschließlich durch eine medizinische Fachkraft erfolgen und nicht um eine Kombination mit Heimanwendung. Eine solche Therapie hat der GBA auch nicht in die Anlage I der Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung aufgenommen.

Ein Ausnahmefall, in dem eine Behandlungsmethode ausnahmsweise ohne positive Empfehlung des GBA zur Versorgung in der GKV zuzulassen ist, liegt nicht vor.

Ein Systemversagen ist nicht gegeben. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse kann ausnahmsweise dann bestehen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 27.03.2007, Az.: B 1 KR 30/06 R, in juris). Dies kann u.a. nur dann in Betracht kommen, sobald nach dem Stand der medizinischen Erkenntnisse eine positive Abschätzung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss wahrscheinlich ist und auch im Übrigen eine positive Bewertung der Methode - etwa wegen fehlender Wirtschaftlichkeit - nicht ausgeschlossen ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn Kriterien der evidenzbasierten Medizin erfüllt sind. Voraussetzung dafür ist der Beleg von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlungsmethode anhand so genannter randomisierter, doppelblind durchgeführter und placebokontrollierter Studien (so BSG, Urteil vom 12.08.2009. Az.: B 3 KR 10/07 R, in juris).

Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Denn es fehlt bereits an wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien, aus denen sich die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Es gibt auch keine qualitätsgesicherten Leitlinie einer Fachgesellschaft zum Einsatz des Motionstim 8. Es lassen sich auch nicht bestehende Leitlinien übertragen. Für die Behandlung von Spastiken ist in der S-1 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie "Therapie des spastischen Syndroms" dargestellt, dass in Studien eine Reduktion der Spastik durch Anwendung von Orthesen mit integrierter funktioneller Elektrostimulation und Kombination von FES mit Tape-Verbänden als Therapie beschrieben ist (ebenda S. 4). Eine der S2-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologische Rehabilitation "Motorische Therapien für die obere Extremität zur Behandlung des Schlaganfalls" (derzeit in Überarbeitung), in der die Neuromuskuläre, EMG-getriggerte und funktionelle Elektrostimulation als eine in Betracht kommende Therapievariante von Armlähmungen nach einem Schlaganfall aufgeführt und diskutiert wird (Vergl. Nr. 5.15 der Leitlinie), vergleichbare Leitlinie für die untere Extremität existiert nicht.

Die Voraussetzungen des § 2 Absatz 1a SGB V, durch den die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 6.12.2005, Az.: 1 BvR 347/98) kodifiziert worden ist, sind ebenfalls nicht gegeben.

Die Klage konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R8354


Informationsstand: 25.10.2019