Urteil
Petö-Therapie als heilpädagogische Maßnahme im Rahmen der Eingliederungshilfe

Gericht:

BVerwG


Aktenzeichen:

5 C 36.01 | 5 C 36/01


Urteil vom:

30.05.2002


Grundlage:

  • BSHG § 40 Abs. 1 Nr. 2 a und Nr. 3 |
  • EinglHVO § 11 |
  • EinglHVO § 12 Nr. 1

Der 1989 geborene Kläger begehrt vom beklagten Sozialhilfeträger im Wege der Eingliederungshilfe die Übernahme des durch seine Krankenkasse nicht gedeckten Teils der Therapiekosten nach der Petö-Methode. Die Kosten einer ersten vierwöchigen Therapie wurden jeweils zur Hälfte von der Krankenkasse und vom Sozialhilfeträger aus Mitteln der Eingliederungshilfe getragen. Die Übernahme der Restkosten für eine zweite Petö-Therapie lehnte der Beklagte unter Bezugnahme auf die ablehnende amtsärztliche Stellungnahme ab. Danach erhalte der Kläger seine wesentlichen Eingliederungsmaßnahmen durch die sonderpädagogische Förderung in einer entsprechenden Schule. Die zusätzliche Teilnahme an neuen Behandlungs- und Rehabilitationsversuchen könne für die Eltern zwar subjektiv eine Erleichterung bei der sehr schweren Pflege des mehrfach behinderten Kindes sein. Um spezifische Eingliederungsziele zu erreichen, sei dies aber nicht notwendig.

Die daraufhin erhobene Klage auf Übernahme der Restkosten hatte vor dem VG Osnabrück Erfolg ( Urteil vom 17. 06. 1999, Az. 4 A 104/97). Zur Begründung führte das Gericht aus, dass der Kläger einen Anspruch auf Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung im Rahmen der Eingliederungshilfe habe. Diese Hilfeart erfasse gemäß § 12 Nr. 1 der Eingliederungshilfeverordnung auch heilpädagogische und sonstige Maßnahmen, wenn sie erforderlich und geeignet seien, den Schulbesuch zu ermöglichen oder zu erleichtern. Dies treffe für die Petö-Therapie zu. Der Kläger gehöre nach dem Sachverständigengutachten trotz seiner schweren geistigen Behinderung zu den Kindern, die durch die konventionellen Therapien außerordentlich profitierten. Die beiden bislang durchgeführten Petö-Therapien hätten eine sichtbare Weiterentwicklung des Klägers bewirkt.

Auf die Berufung des Sozialhilfeträgers hin hat das OVG Lüneburg mit Urteil vom 11.10.2000 ( Az. 4 L 4857/99) die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass der zweite Petö-Therapieblock nicht erforderlich im Sinne der Eingliederungshilfe gewesen sei, weil diese Behandlungsmethode noch nicht allgemein ärztlich oder sonst fachlich anerkannt sei. Es erscheine sachgerecht, insoweit die Einschätzung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zugrunde zu legen. Danach sei die Petö-Methode bislang noch keine anerkannte Therapiemethode. Eine neue, in den Richtlinien noch nicht anerkannte Behandlungsmethode müsse nicht von der Allgemeinheit finanziert werden, solange die Möglichkeit bestehe, andere fachlich anerkannte Behandlungsmethoden zu nutzen.

Das Bundersverwaltungsgericht hat das Urteil des OVG Lüneburg aufgehoben und den Rechtsstreit mangels Entscheidungsreife an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das OVG habe zu Unrecht entschieden, dass die Gewährung heilpädagogischer Leistungen im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung voraussetze, dass nach allgemein ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis zu erwarten sei, dass hierdurch eine drohende Behinderung im Sinne von § 39 Abs. 1 BSHG verhütet werden könne oder die Folgen einer solchen Behinderung beseitigt oder gemildert werden könnten. Die Auslegung des OVG stehe im Widerspruch zu eindeutigen Wortlaut des § 12 Nr. 1 der Eingliederungshilfeverordnung. Danach umfasse die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung auch heilpädagogische sowie sonstige Leistungen, wenn diese erforderlich und geeignet seien, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Ein prognostisches Urteil über die Eignung einer heilpädagogischen Maßnahme nach dem Maßstab der allgemeinen oder sonstigen fachlichen Erkenntnis werde hier nicht gefordert. Der Verzicht auf das formale Erfordernis einer ärztlichen oder sonstigen fachlichen Anerkennung der betreffenden Methode lasse sich sachlich damit rechtfertigen, dass die Wirksamkeit der Methode hier einer laufenden Kontrolle besonders sachkundiger Personen, nämlich der (Sonder-)Pädagogen des Schulbereichs unterworfen sei. Das OVG habe nach alledem zu prüfen, ob die Petö-Therapie für den Kläger eine geeignete und neben den gewährten krankengymnastischen und logopädischen Förderungen erforderliche Maßnahme im Rahmen der Eingliederungshilfe war.

Entscheidungsgang:
vorhergehend - VG Osnabrück vom 17.06.1999 - 4 A 104/97
vorhergehend - OVG Lüneburg vom 11.10.2000 - 4 L 4857/99.

Rechtsweg:

VG Osnabrück, Urteil vom 17.06.1999 - VG 4 A 104/97
OVG Lüneburg, Urteil vom 11.10.2000 - OVG 4 L 4857/99

Quelle:

Rechtsdienst der Lebenshilfe 03/2002

Aus den Gründen:

Die Revision des Klägers, über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Das nagefochtene Berufungsurteil verletzt Bundesrecht. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und mangels Entscheidungsreife zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Zu Unreicht hat das Berufungsgericht entschieden, dass die Gewährung heilpädagogischer Maßnahmen im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (§ 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG i. d. F. der Bek. vom 23.3. 1994 (BGBl. I S. 646, 2975) i.V.m. § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO i.d.F. der Bekanntmachung vom 1.2. 1975 (BGBl. I S 433)) ebenso wie die Gewährung heilpädagogischer Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind (§ 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG F. 1994 i.V.m. § 11 Satz 1 EingliederungshilfeVO), voraussetzt, dass "nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis zu erwarten ist, dass hierdurch eine drohende Behinderung im Sinne des § 39 Abs. 1 des Gesetzes verhütet werden kann oder die Folgen einer solchen Behinderung beseitigt oder gemildert werden können". ( § 11 Satz 1 EingliederungshilfeVO).

Der Auslegung des Berufungsgerichts steht bereits der eindeutige Wortlaut des § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO entgegen, der die Gewährung heilpädagogischer Maßnahmen im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung - ebenso wie die der "sonstigen Maßnahmen zugunsten behinderter Kinder und Jugendlicher" - daran knüpft, dass "die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem Behinderten den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern". Ein prognostisches Urteil über die Eignung einer heilpädagogischen Maßnahme nach dem Maßstab der allgemeinen oder sonst fachlichen Erkenntnis wird hier nicht gefordert.

Auch aus der Entstehungsgeschichte der §§ 11 und 12 EingliederungshilfeVO und der sie tragenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen erschließt sich eine Forderung nicht. Heilpädagogische Maßnahmen als Maßnahmen der Eingliederungshilfe kannte das Sozialhilferecht bis zur Einführung des § 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG durch das 3. BSHG-Änderungsgesetz vom 25.3.1974 (BGBl. I S. 777) nur als Hilfe zur Vorbereitung künftigen Schulbesuchs (§ 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG i.V.m. § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO i.d.F. vom 28.5.1971 (BGBl. I S. 728)). Der damalige Tatbestand des § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO war - bis auf die den Schulbesuch konkretisierende Beifügung "künftigen" - mit dem heutigen wortlautidentisch. Mit der Streichung dieser Beifügung durch die Verordnung vom 15.6.1975 (BGBl. I S. 267) sollte lediglich klargestellt werden, dass die in § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO genannten Maßnahmen "nicht nur zur Vorbereitung künftigen Schulbesuchs angezeigt sein" können, "sondern auch während des Schulbesuchs, sei es, dass der Behinderungsfall erst im schulpflichtigen Alter eintritt oder sei es, dass im vorschulpflichtigen Alter begonnene Maßnahmen schulbegleitend fortgesetzt werden müssen" (Begründung zu § 12 EingliederungshilfeVO 1975, BR-Drs. 743/74 S.5). Eine Änderung im Beurteilungsmaßstab für die Eignung der in § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO genannten Maßnahmen war damit nicht beabsichtigt.

Eine entsprechende Absicht ließ sich auch nicht der die Aufnahme der heilpädagogischen Maßnahmen für Kinder im Vorschulalter in den Maßnahmekatalog der Eingliederungshilfe (§ 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG) begleitenden Änderung des § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG entnehmen. Das 3. BSHG-Änderungsgesetz fügte dort lediglich die Worte "einschließlich der Vorbereitung hierzu" ein, um klarzustellen, dass heilpädagogische wie alle anderen Eingliederungshilfemaßnahmen im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung auch Maßnahmen umfassen, "die unmittelbar der Voreberung auf den Schulbesuch dienen" (BT-Drs. 7/308 S. 14 zu Nummer 16 (§ 40) zu b).

Die Änderungen betragen also nicht die tatbestandlichen Anforderungen an Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung, sondern allein deren Abgrenzung zur heilpädagogischen Eingliederungshilfe im Vorschulalter. Dieser entstehungsgeschichtliche und systematische Hintergrund des § 11 EingliederungshilfeVO schließt es aus, die in Satz 1 dieser Vorschrift verordnete Bindung heilpädagogischer Eingliederungsmaßnahmen an die allgemeine ärztliche oder sonstige fachliche Anerkennung der betreffenden Behandlungsmethode als allgemeine, gleichsam "vor die Klammer gezogene" Regelung zu verstehen, die auch für heilpädagogische Maßnahmen nach Beginn der allgemeinen Schulpflicht gilt.

Auch Sinn und Zweck des § 11 EingliederungshilfeVO und der ihn tragenden formellgesetzlichen Grundlage rechtfertigen ein solches Normverständnis nicht. Der Gesetzgeber führte die heilpädagogischen Maßnahmen für Kinder im Vorschulalter einer ausdrücklichen formellgesetzlichen Regelung zu, um sie wegen ihrer Bedeutung für die Effektivität der Eingliederungshilfe für Kinder besonders hervorzuheben: "Eingliederungshilfe soll bei Kindern, die von Geburt oder der frühen Kindheit an behindert sind, so frühzeitig wie möglich einsetzen, damit ein nachhaltiger Erfolg der Eingliederungsmaßnahmen erreicht werden kann". (BT-Drs. 7/308 S. 14 zu Nummer 16 (§ 40) zu a). Dabei löst § 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG die heilpädagogischen Maßnahmen gegenüber dem früheren Rcht vorn der Ausrichtung auf den Schulbesuch im Rahmen der allgemeienen Schulpflicht. Die von ihm ermöglichte Eingliederungshilfe setzt vor Beginn der allgemeinen Schulpflicht ein und soll heilpädagogische Eingliederungsmaßnahmen im fürhen Kindeslater sowie in den Fällen ermlöglichen, in denen von vornherein ein späterer Schulbesuch oder eine spätere berufliche Ausbildung als ausgeschlossen angesehen werden muss (vgl. BT-Drs. 7/308 S- 14 zu Nummer 16 (§ 40) zu a) zweiter Absatz sowie die Begründung zu § 11 a EingliederungshilfeVO 1975, BR-Drs. 743/74 S. 4). In Ausfüllung dieser gesetzlichen Vorgabe bestimmt § 11 Satz 2 EingliederungshilfeVo, dass heilpädagogische Maßnahmen auch gewährt werden, wenn die Behinderung eine spätere Schulbildung oder eine Ausbildung für einen angemessenen Beruf oder für eine sonstige angemessene Tätigkeit voraussichtlich nicht zulassen wird. Damit stellt § 11 Satz 2 EingliederungshilfeVO "klar, dass die heilpädagogischen Möglichkeiten auch in schweren Behinderungsfällen ausgeschöpft weden sollen, wenn durch sie nur ganz allgemein die Möglichkeit zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft verbessert werden können oder die Pflegebedürftigkeit um einiges gemildert werden kann", während "Satz 1 das möglichst frühzeitige Einsetzen der heilpädagogischen Behandlung bezweckt" (Begründung zu § 11 a EingliederungshilfeVO 1975, BR-Drs. 743/74 S. 4).

Bei diesem weiten Verständnis der heilpädagogischen Eingliederungshilfe im Vorschulalter und bei der Bedeutung, die der Gesetzgeber der frühkindlichen Rehabilitation für den Erfolg seiner Eingliederungshilfe beimisst, erscheint sein Bemühen verständlich sicherzustellen, dass einerseits mit den begrenzten Mitteln der Eingliederungshilfe nicht heilpädagogische Versuche finanziert werden und andererseits nicht durch fragwürdige, fachlich nicht abgesicherte Maßnahmen die besondere Rehabilitationschancen des Vorschulalters verspielt werden. Dass die Effektivität der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung einer entsprechenen präventiven Wirksamieitskontrolle nach formalen Fachkirterien bedarf, hat der Verordnungsgeber verneint, indem er für diesen Bereich der Eingliederungshilfe sich mit der auch ansonsten geforderten Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Eingliederungsmaßnahme im Einzelfall begnügt hat. Dafür, dass er mit dieser Einschätzung sein Ermessen überschritten haben könnte, ist kein Anhaltspunkt ersichtlich. Der Verzicht auf das formale Erfordernis einer "allgemeinen" ärztlichen oder sonstigen fachlichen "Anerkennung" der betreffenden Methode bei Gewährung heilpädagogischer Maßnahmen im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung lässt sich - worauf die Revision zu Recht hinweist - sachlich damit rechtfertigen, dass die Wirksamkeit der Methode hier einer laufenden Kontrolle besonders sachkundiger Personen, nämlich der (Sonder-) Pädagogen des Schulbereichs, die sich an dem - leicht objektivierbaren - Kriterium der individuellen Schulfähigkeit des betreffenden Kindes orientieren, unterworfen ist. Ob konkrete Erfolge der betreffenden Methode Recht geben, dürfte sich in Bezug auf das eingegrenzte Kriterium der Schulfähigkeit leichter und eindeutiger beantworten lassen als in Bezug auf das bei behinderten Kindern im Vorschulalter nach dem Gesetz maßgebliche vagere und weit gefasste Kriterium der Verhütung einer Behinderung oder Beseitigung oder Milderung ihrer Folgen.

Nach alledem ist die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen, damit dieses in geeigneter Weise der Frage nachgeht, ob die dreiwöchige "Petö-Therapie" im März/April 1997 für den Kläger eine geeignete und neben den gewährten krankengymnastischen, heilpädagogischen und logopädischen Förderungen erforderliche Maßnahme war, um dem Kläger den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Dem Revisionsgericht sind derartige Feststellungen versagt.

Quelle: Behindertenrecht 3/2003, S. 89 f.

Referenznummer:

R/R1663


Informationsstand: 13.01.2003