Urteil
Versorgung mit einem individualisierten Sprachausgabesystem zu Lasten der Krankenversicherung

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 9. Senat


Aktenzeichen:

L 9 KR 182/09


Urteil vom:

13.04.2011


Tenor:

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. April 2009 sowie der Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 2007 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 600,00 Euro für die Aufzeichnung seiner Stimme für das Kommunikationsprogramm "meine eigene Stimme" zu erstatten sowie ihn mit diesem Programm zu versorgen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das gesamte Verfahren zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für die Versorgung mit dem elektronischen Sprachausgabesystem "meine eigene Stimme" (Preis: 2.600 Euro) sowie Kostenerstattung in Höhe von 600 Euro für die bereits erfolgte Aufzeichnung seiner eigenen Stimme.

Der im Jahre 1966 geborene Kläger leidet unter Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Die Krankheit wurde im Jahre 2004 bei ihm festgestellt. Eine der vielen gravierenden Folgen der Erkrankung besteht in der Lähmung der Sprechmuskulatur mit der Folge von Sprechstörungen bis hin zum völligen Verlust der eigenständigen Artikulationsmöglichkeit.

Mit Schreiben seines behandelnden Arztes Dr. T M, Oberarzt im CC für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie (ALS-Ambulanz nach § 116 b SGB V), vom 26. Februar 2007, eingegangen bei der Beklagten am 28. August 2007, beantragte der Kläger die Übernahme der Kosten für die Aufzeichnung seiner eigenen Stimme und für das elektronische Kommunikationsprogramm "meine eigene Stimme", das im Falle des Stimmverlusts über entsprechende Hardware die apparativ vermittelte Artikulation des Klägers mittels seiner eigenen Stimme ermöglicht. Herkömmliche Systeme ermöglichen lediglich die Artikulation mittels einer synthetischen Stimme.

Mit Bescheid vom 9. Oktober 2007, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 27. November 2007, lehnte die Beklagte die begehrte Kostenübernahme ab. Eine Versorgung mit dem beantragten Produkt übersteige das Maß des Notwendigen. Eine Kommunikationshilfe mit synthetischer Sprachausgabe sei im Sinne eines Basisausgleichs gegebenenfalls ausreichend.

Mit der am 20. Dezember 2007 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt.

Zu Beginn des Jahres 2008 hat der Kläger gegen Zahlung von 600 Euro seine Stimme vom Hersteller des Programms "meine eigene Stimme" aufnehmen lassen, um sich die Möglichkeit zu erhalten, dieses Programm später nutzen zu können; insoweit begehrt er nun Kostenerstattung. Seit dem Ende des Jahres 2008 ist der Kläger aufgrund eingetretenen Stimmverlusts auf ein Sprachausgabesystem als Hilfsmittel zur Kommunikation angewiesen; das ihm von der Beklagten zur Verfügung gestellte Hilfsmittel funktioniert mit einer synthetischen Stimme.

Der Kläger meint, weitestgehender Behinderungsausgleich sei nur mit dem Gebrauch der eigenen Stimme gewährleistet. Mit einer synthetischen Stimme gehe die Individualität der Stimme sowie ein wichtiges Identifizierungsmerkmal verloren. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schütze den Gebrauch der eigenen Stimme.

Das Sozialgericht Potsdam hat die Klage mit Urteil vom 21. April 2009 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Zum Zwecke des Behinderungsausgleichs sei die Versorgung mit einem herkömmlichen Sprachsystem ausreichend. Das Grundbedürfnis nach Kommunikation könne so erfüllt werden. Eine Versorgung mit dem begehrten Sprachprogramm sei auch unwirtschaftlich, da es naturgemäß nur einmal, nämlich beim Kläger, verwendet werden könne, anders als die herkömmlichen Kommunikationshilfen, die von der Beklagten stets einer Wiederverwendung zugeführt würden.

Gegen das ihm am 12. Mai 2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11. Juni 2009 Berufung eingelegt und mit dieser (erstmals) eine ärztliche Verordnung für das Programm "meine eigene Stimme" vom 10. Juni 2009 vorgelegt, ausgestellt vom behandelnden Arzt Dr. T M, versehen mit dem Stempel der ALS-Ambulanz der C. Zur Begründung bringt er im Wesentlichen vor: Das Sozialgericht habe das Gebot des möglichst weitgehenden Behinderungsausgleichs nicht berücksichtigt. Anzustreben sei ein Zustand, der dem eines gesunden Menschen am nächsten komme. Seine Behinderung liege gerade im Verlust der eigenen Stimme. Ein weitestgehender Ausgleich dieses Handicaps sei nur mit dem Gebrauch des begehrten Kommunikationsprogramms zu erzielen. Die begehrte Leistung ziele auch auf ein Grundbedürfnis des Klägers. Seine Erkrankung führe zunehmend zum Verlust seiner körperlichen Funktionen. Mit dem Gebrauch seiner eigenen Stimme könne er sich einen Teil seiner Identität bewahren. Die Nutzung der synthetischen Stimme werde dagegen aufgrund ihrer Künstlichkeit oft vermieden, was mit einem Kommunikationsverlust einhergehe. Immerhin sei das begehrte Programm im Hilfsmittelverzeichnis gelistet (Pos.-Nr. 16.99.06.3012). Viele andere gesetzliche Krankenkassen übernähmen diese Leistung.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. April 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm 600 Euro für die Aufzeichnung seiner Stimme für das Kommunikationsprogramm "meine eigene Stimme" zu erstatten sowie ihn mit diesem Programm zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat sich vom Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung das von der Beklagten zur Verfügung gestellte Sprachausgabesystem vorführen lassen sowie eine kurze Passage aus der Aufnahme seiner eigenen Stimme.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

Rechtsweg:

SG Potsdam Urteil vom 21.04.2009 - S 3 KR 290/07

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit dem Sprachausgabeprogramm "meine eigene Stimme" und auf Erstattung der Kosten für die bereits erfolgte Aufzeichnung seiner eigenen Stimme.

Nach § 33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).

Da mit dem elektronischen Sprachausgabesystem der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem das geschädigte, nicht mehr funktionstüchtige Sprachorgan einschließlich der verloren gegangenen eigenen, individuellen Stimme durch technisch vermittelte Sprache künstlich ersetzt wird, hat die Prüfung des Anspruchs anhand des § 33 Abs. 1 S. 1, dritte Alternative SGB V zu erfolgen. Im Vordergrund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion "Stimmgebrauch" selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 2/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 [Badeprothese]; Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12 ff. [C-Leg]; Senat, Urteil vom 9. März 2011, L 9 KR 152/08, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 [C-Leg]).

Hieran gemessen hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit dem Sprachprogramm "meine eigene Stimme", denn nur so erfolgt ein weitestgehender Ausgleich des bestehenden Funktionsdefizits, das nicht nur im Verlust der sprachvermittelten Kommunikationsmöglichkeit besteht, sondern gerade auch im Verlust der individuellen Stimme, die im Rahmen des Sprachgebrauchs einen eigenen messbaren Wert und Nutzen hat. Der Einwand der Beklagten, der Kläger sei mit dem zur Verfügung gestellten Sprachausgabesystem und der dort zum Einsatz kommenden synthetischen Stimme hinreichend versorgt, greift demgegenüber nicht. Diese synthetische Stimme schöpft die Möglichkeit des "Gleichziehens" mit Nichtbehinderten nicht hinlänglich aus.

Der Kläger hat dem Senat das derzeit genutzte Sprachvermittlungssystem im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgeführt. Der Senat konnte sich davon überzeugen, dass der Kläger sich mit Gebrauch dieses Systems sprachlich artikulieren kann; er bedient dabei einen Laptop und gibt dort mit Hilfe einer über Infrarotsignale gesteuerten Maus Text ein, der über entsprechende Software und Lautsprecher in Sprache umgesetzt wird. Die sprachliche Artikulation war klar vernehmbar. Die synthetische Stimme wirkte zwar einigermaßen natürlich, gleichzeitig aber austauschbar und wenig individuell. Vorgeführt hat der Kläger dem Senat auch einige wenige Textpassagen, die im Vorgriff auf die Nutzung des begehrten Systems "meine eigene Stimme" bereits mit seiner eigenen Stimme abgespeichert waren. Diese Worte wirkten erheblich individueller artikuliert als jene mit der synthetischen Stimme gesprochenen. Es war wahrnehmbar, dass hier ein authentischer, weniger künstlicher Tonfall vorlag. Die technisch vermittelte eigene Stimme glich dabei der tatsächlichen eigenen Stimme des Klägers weitestgehend. Davon konnte der Senat sich überzeugen, weil der Kläger teilweise auch noch in der Lage war, sich sehr mühevoll und langsam, aber verständlich und ohne technische Hilfe zu äußern.

Dass die Funktionseinbuße, unter der der Kläger leidet, nicht schon vollständig und weitestmöglich mit der synthetischen Stimme ausgeglichen ist, wird auch an Folgendem deutlich: Der Kläger hat erklärt, des Öfteren an Treffen von ALS-Kranken teilzunehmen, bei denen dasselbe Sprachausgabesystem mit derselben synthetischen Stimme von verschiedenen Leidensgenossen benutzt werde, so dass den Redebeiträgen jegliche individuelle Note fehle und zuweilen nicht feststellbar sei, wer etwas gesagt habe. Diese Einlassung ist nachvollziehbar und belegt, dass für ein vollständiges Gleichziehen mit Nichtbehinderten nicht nur irgendeine Sprachvermittlung, sondern nur eine solche basierend auf der eigenen Stimme des Versicherten den bestmöglichen Behinderungsausgleich gewährleistet. Ebenso nachvollziehbar ist es, dass die beim Kläger vorliegende Funktionseinbuße bei Telefonaten nur dann vollständig ausgeglichen ist, wenn der Gesprächspartner die eigene Stimme des Klägers und nicht nur eine synthetische vernimmt, denn am Telefon ist der Gesprächspartner ausschließlich am Klang der eigenen Stimme zu identifizieren.

Nach alledem hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit diesem Sprachausgabesystem, das den neuesten technischen Fortschritt verkörpert. Hieraus folgt zugleich, dass nach § 13 Abs. 3 SGB V 600 Euro im Wege der Erstattung verlangt werden können, denn die Kostenübernahme für die Aufzeichnung der eigenen Stimme des Klägers hat die Beklagte zu Unrecht abgelehnt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zuzulassen.

Referenznummer:

R/R3815


Informationsstand: 02.03.2012