Urteil
Ersatzanspruch eines Menschen mit Demenz gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung für den Verlust eines Hörgerätes

Gericht:

SG Speyer 19. Kammer


Aktenzeichen:

S 19 KR 679/19


Urteil vom:

19.02.2021


Grundlage:

Tenor:

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 11.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2019 verurteilt, dem Kläger die Kosten für die Ersatzbeschaffung des im Jahr 2018 verlorenen Hörgerätes in Höhe von 708,50 Euro zu erstatten.

2. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

3. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger macht als Rechtsnachfolger seines am 06.02.2020 verstorbenen Vaters (im Folgenden: Versicherter) einen Anspruch auf Erstattung von Kosten für die Ersatzbeschaffung eines verlorenen Hörgerätes geltend.

Der 1929 geborene Versicherte war bei der Beklagten in der Krankenversicherung der Rentner pflichtversichert. Bei ihm war ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen "B, G, aG, H und RF" anerkannt. Aufgrund einer beidseitigen Schallempfindungsstörung war er mit Hörgeräten versorgt. Bei dem Versicherten bestand zudem eine Demenz.

Im Rahmen eines stationären Aufenthaltes im Westpfalzklinikum Kaiserslautern kam im August 2018 das rechte Hörgerät abhanden. Unter anderem aufgrund der demenziellen Erkrankung des Versicherten konnte der Verlust nicht näher erklärt werden.

Unter Vorlage einer Verordnung des HNO-Arztes Dr. M. vom 09.10.2018 beantragte der Versicherte bei der Beklagten die Gewährung eines neuen Hörgerätes für das rechte Ohr.

Mit Bescheid vom 11.10.2018 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab, da dem Versicherten bereits im Juli 2016 nach Verlust eine vorzeitige Versorgung ("aus Kulanz") bewilligt worden war. Bereits bei dieser Bewilligung sei dem Versicherten mitgeteilt worden, dass eine nochmalige Kostenübernahme bei Verlust aufgrund des in § 12 SGB V festgeschriebenen Wirtschaftlichkeitsgebotes ausgeschlossen sei.

Der hiergegen für den Versicherten eingelegte Widerspruch wurde u.a. damit begründet, dass der Versicherte aufgrund der bei ihm .bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen im Krankenhaus voll und ganz auf die Hilfe der Pflegekräfte angewiesen gewesen sei. Aufgrund der bestehenden Hilflosigkeit habe er demnach das Hörgerät weder selbst verlegen noch verlieren können. Bereits zuvor sei das Hörgerät bei einem Kleidungswechsel herausgerissen worden und in der Schmutzwäsche gelandet. Es sei von einem Pfleger entdeckt und auf den Nachttisch gelegt worden. Wann und wie es von dort verschwunden sei, wisse man nicht. Der Versicherte sei unschuldig an dem Verlust. Es sei ihm nicht zuzumuten, mit nur einem Hörgerät auszukommen oder das zweite Gerät auf eigene Kosten zu ersetzen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 13.02.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Werde die Instandsetzung oder Ersatzbeschaffung infolge einer Pflichtwidrigkeit des Versicherten erforderlich, trete die Leistungspflicht der Krankenkasse nicht ein, wenn dem Versicherten Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last falle. Die Beklagte sei ihrer Verpflichtung zur Ersatzbeschaffung innerhalb des Versorgungszeitraums von 6 Jahren bereits mit der Genehmigung im Juli 2016 nachgekommen, da bereits die damals vorhandene Versorgung verloren worden war. Eine nochmalige Ersatzbeschaffung sei im Gesetz nicht vorgesehen und widerspreche auch dem in § 12 Abs. 1 SGB V geregelten Wirtschaftlichkeitsgebot. Versicherte könnten ansonsten beliebig oft eine Ersatzbeschaffung verlangen.

Der Versicherte hat das Hörgerät auf eigene Kosten ersetzt. Mit Rechnung vom 21.12.2018 hat der Leistungserbringer Hörgeräte O. dem Versicherten für die Ersatzversorgung des rechten Ohres 1.303 Euro in Rechnung gestellt, wovon der Haftpflichtversicherer des Krankenhauses dem Kläger einen Kostenanteil von 594,50 Euro erstattet hat.

Am 13.03.2019 hat der Versicherte die vorliegende Klage erhoben, mit der er geltend machte, er sei im Krankenhaus völlig auf die Hilfe des Pflegepersonals angewiesen gewesen. Ihm könne daher weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden. Das Hörgerät sei im Krankenhaus verloren gegangen, wo er es aufgrund seiner Hilflosigkeit weder selbst habe verlegen noch verlieren können. Das Hörgerät sei zuvor schon mal beim Kleidungswechsel herausgefallen und in der Schmutzwäsche gelandet.

Nachdem der Versicherte am 06.02.2020 verstarb, hat der Sohn des Versicherten als dessen Rechtsnachfolger das Verfahren fortgeführt.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2019 zu verurteilen, an den Kläger 708,50 Euro netto zu zahlen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung macht die Beklagte nunmehr geltend, der Versicherte habe die ihm obliegende Sorgfaltspflicht in besonders schwerem Maße verletzt, da er schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt habe. Es läge auf: der Hand, dass ein kleiner Gegenstand wie ein Hörgerät schnell verloren gehe, wenn er offen auf einem Nachttisch im Krankenhaus liege. Dem Versicherten habe einleuchten müssen, dass er das Hörgerät zumindest in eine Verpackung und in die Schublade habe legen müssen. Deshalb sei dem Versicherten grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung war.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

DGB Rechtsschutz GmbH

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung über den Rechtsstreit durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erteilt haben.

Die als Anfechtungs- und Leistungsklage zulässige Klage ist begründet. Der Kläger kann als Erbe den fälligen Anspruch seines verstorbenen Vaters auf Erstattung der Kosten gegenüber der Beklagten weiterverfolgen (§ 58 Erstes Buch des Sozialgesetzbuches [SGB I]). Der Versicherte hatte gegen die Beklagte einen Sachleistungsanspruch auf Ersatzversorgung mit einem Hörgerät nach Verlust. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 11.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2019 ist rechtswidrig, so dass die Beklagte die Kosten für die Ersatzbeschaffung zu erstatten hat.

Anspruchsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch ist § 13 Abs. 3 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V). Danach sind Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war. Dieser Kostenerstattungsanspruch tritt an die Stelle eines ansonsten bestehenden Sachleistungsanspruchs und reicht nicht weiter als dieser. Er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Leistung zu denjenigen Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (vgl. etwa BSG, Urteil vom 27.09.2005 - B 1 KR 28/03 R; Urteil vom 17.12.2019 - B 1 KR 18/18 R, Rn. 8; alle Entscheidungen zitiert nach juris). § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V setzt zudem einen Kausalzusammenhang zwischen dem die Haftung der Krankenkasse begründenden Umstand (Unvermögen zur rechtzeitigen Leistung bzw. rechtswidrige Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) voraus (vgl. BSG, Urteil vom 30.11.2017 - B 3 KR 11/16 R, Rn. 18).

Vorliegend hatte der Versicherte einen Sachleistungsanspruch gegenüber der Beklagten auf Versorgung mit einem Ersatzhörgerät, den die Beklagte rechtswidrig ablehnte. Anspruchsgrundlage für die Versorgung mit Hilfsmitteln ist § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Gemäß Satz 5 der Vorschrift umfasst der Anspruch u.a. auch die Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln.

Der grundsätzliche Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit einer Hörgerät zur Herstellung seiner Hörfähigkeit steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Es handelt sich insofern um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, das dem unmittelbaren Ausgleich der Hörbehinderung des Versicherten diente, Der Versicherte hatte aus § 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf Ersatzbeschaffung für das verlorene Hörgerät. Dieser gesetzlich eingeräumte Anspruch besteht unabhängig von der Frage, ob dem Versicherten tatsächlich der Vorwurf eines grob fahrlässigen Verschuldens im Hinblick auf den Umstand des Verlusts gemacht werden konnte und ob bereits zuvor eine Ersatzbeschaffung erfolgte.

Solange die Versorgungsnotwendigkeit hinsichtlich eines Hilfsmittels zum Behinderungsausgleich gegeben ist, kann einem Anspruch auf Ersatzbeschaffung nach § 33 Abs. 1 Satz 4 SGB V der Umstand nicht entgegenstehen, dass bereits zuvor ein Ersatz gewährt wurde. § 33 Abs. 1 SGB V enthält keine zeitliche oder zahlenmäßige Beschränkung des Anspruchs auf Versorgung mit den medizinisch notwendigen Hilfsmitteln. § 12 Abs. 1 SGB V kann nicht hilfsweise zu einer derartigen Begrenzung herangezogen werden. in dieser Vorschrift ist geregelt, dass Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Dass der Versicherte ein Hörgerät benötigte, steht im vorliegenden Verfahren außer Streit. Dass es "wirtschaftlicher" ist, die notwendige Leistung nicht zu erbringen, ist aber nicht der Maßstab des § 12 SGB V.

Sofern die Beklagte davon ausgeht, ein Anspruch auf Ersatzbeschaffung bestünde dann nicht, wenn ein Versicherter die Notwendigkeit derselben zumindest grob fahrlässig verschuldet hätte, ist nicht ersichtlich, inwiefern ein Verschulden des Versicherten der Leistungspflicht der GKV gem. § 33 SGB V entgegenstehen könnte. Die für diese Annahme in der Literatur (vgl. nur Nolte in: KassKomm, SGB V, Stand September 2020, § 33 Rn. 54) herangezogene Entscheidung des BSG aus dem Jahr 1987 (Urteil vom 06.08.1987 - 3 RK 21/86 -, in dem das BSG entgegen dem in § 182g RVO enthaltenen Leistungsausschluss vor Ablauf von drei Jahren seit der vorangegangenen Versorgung bei nicht mindestens grob fahrlässig verschuldeter Versorgungsnotwendigkeit einen Anspruch gleichwohl bejahte) enthielt die (verneinende) Formulierung, der Anspruch sei jedenfalls dann nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte die Notwendigkeit der Ersatzbeschaffung nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt habe. Hieraus lässt sich aber nicht im Wege des Umkehrschlusses (entgegen dem Versorgungsanspruch im Gesetz) ein grundsätzliches Einwendungsrecht des Selbstverschuldens ableiten. Ein Verschuldensausschluss, wie er beispielsweise in dem hier nicht einschlägigen § 13 Abs. 4 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ausdrücklich enthalten ist, besteht im Anwendungsbereich des § 33 SGB V gerade nicht. Leistungsansprüche gegen die Krankenkasse bestehen grundsätzlich verschuldensabhängig. Hierauf hatte auch das BSG in der Entscheidung vom 06.08.1987 (BSG, Urteil vom 06.08.1987 - 3 RK 21/86 -, Rn. 15, 18) hingewiesen. Die Gewährung von Leistungen der Krankenversicherung hängt grundsätzlich nicht davon ab, worauf die Notwendigkeit zurückzuführen, ob sie insbesondere vom Erkrankten schuldhaft herbeigeführt ist (so schon BSG, a.a.0.). In dem hier nicht einschlägigen § 52 Abs. 1 SGB V ist in den von der Norm erfassten Fällen lediglich eine Beteiligung an den Kosten in angemessener Höhe vorgesehen, wenn sich Versicherte eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen haben. Eine Beschränkung des Sachleistungsanspruchs enthält auch diese Norm nicht. Der Versicherte erhält auch im Falle der vorsätzlichen Herbeiführung der Krankheit die Versorgung in vollem Umfang. Es besteht lediglich die Möglichkeit der | "angemessenen" Beteiligung an den Kosten der Versorgung.

Zudem ist selbst bei Zugrundelegung des von der Beklagten im Klageverfahren geltend gemachten Maßstabes ein grob fahrlässiges Verhalten des Versicherten nicht auszumachen. Sofern die Beklagte ausführt, der Versicherte habe die ihm obliegende Sorgfaltspflicht in besonders schwerem Maße verletzt, da er schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht 'angestellt habe, lässt sie offenbar völlig unberücksichtigt, dass es sich bei dem Versicherten um einen hilflosen schwerbehinderten Patienten handelte, der noch dazu gerade stationär in ein Krankenhaus aufgenommen worden war. Aufgrund der beim Versicherten bestehenden Demenz konnten konkrete Umstände des Verlustes gar nicht angegeben werden. Ein vorwerfbares Verschulden des Versicherten kann bei den bekannten Umständen jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Der Umstand, dass das Hörgerät verloren ging, reicht allein nicht für die von der Beklagten. gezogene Schlussfolgerung, der: Versicherte müsse grob fahrlässig gehandelt haben. Der Anspruch auf Ersatz setzt voraus, dass das Hilfsmittel nicht mehr vorhanden ist. Daher kann der schlichte Verlust nicht bereits als Grund für das Entfallen des Anspruchs herhalten. Nach eigenen Angaben hat | der Versicherte das Hörgerät während eines stationären Aufenthaltes verloren. Weder die Mitnahme ins Krankenhaus noch der Umstand, dass das Gerät während des Aufenthaltes verloren ging, kann dem im Hinblick auf seinen gesundheitlichen Zustand offenbar hilflosen Versicherten als eigenes Verschulden vorgeworfen werden.

Ob im Falle eines vorwerfbaren Verschuldens eine Krankenkasse vom Versicherten Schadenersatz verlangen kann, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183 Satz 1, 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

Referenznummer:

R/R8720


Informationsstand: 16.07.2021