Urteil
Zuerkennung des Merkzeichens G (erheblich gehbehindert)

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 11. Senat


Aktenzeichen:

L 11 SB 193/08


Urteil vom:

11.12.2008


Grundlage:

Leitsätze:

1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" sind erfüllt, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Kann der Betroffene eine Wegstrecke von 2.000 m zu Fuß nicht mehr in einer halben Stunde zurücklegen, ist das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.(Rn.21)

2. Für die Gewährung des Merkzeichens "G" kommt es ausschließlich auf eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens an und nicht darauf, ob die Bewegungsfähigkeit aus anderen Gründen, z. B. wegen einer Minderung des Sehvermögens, eingeschränkt ist.(Rn.32)

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Tenor:


Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2007 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt im Rahmen eines Erstfeststellungsantrages, nachdem der Beklagte im Klageverfahren einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 ab Juni 2004 anerkannt hat, noch die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erheblich gehbehindert).

Die 1938 geborene Klägerin beantragte am 12. Juli 2004 die Feststellung einer Behinderung, eines GdB und von Merkzeichen. Sie machte unter anderem geltend, sie leide unter einem Glaucom, einem Tinnitus, einem Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, einer chronischen Bronchitis, einer Neurodermitis, Knoten in Schilddrüse und Brust, einem Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule, einer Arthrose/Spondylose der Lendenwirbelsäule sowie einer Polyneuropathie der Beine und Hände. Nach Einholung und Auswertung von Unterlagen der die Klägerin behandelnden Ärzte erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 21. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2005 einen GdB von 40 wegen folgender Behinderungen:

Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden der Halswirbelsäule, chronisches Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom, Knochenkalksalzminderung (Einzel-GdB 30),

Polyneuropathie (Einzel-GdB 20),
Seelische Störung (Einzel-GdB 20),
Bluthochdruck,
Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB 20),
Ohrgeräusche (Einzel-GdB 10),
Chronische Bronchitis (Einzel-GdB 10),
Neurodermitis (Einzel-GdB 10)
und Hüftgelenksverschleiß beidseits (Einzel-GdB 10)

an (die der Beklagte mit den jeweils genannten lediglich verwaltungsinternen Einzel-GdB bewertet hat). Die Anerkennung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" lehnte der Beklagte ab.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 1. November 2006 einen GdB von 50 ab Juli 2004 an. Dieser Höherbewertung des Gesamt-GdB lag eine Erhöhung des Einzel-GdB von 20 auf 30 für die psychosomatische Störung zu Grunde.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der Fachärztin für Innere Medizin Dr. K vom 13. März 2006, der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. Dr vom 20. März 2006, des Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dü vom 19. März 2006, der Ärztin für Augenheilkunde Dr. Sp vom 28. März 2006, der Fachärztin für Orthopädie Diplom-Medizinerin L vom 30. März 2006 und der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Diplom-Medizinerin G vom 21. Mai 2006 eingeholt.

Mit Urteil vom 13. März 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Bescheid vom 1. November 2006 sei rechtmäßig. Mit der am 1. August 2006 erhobenen Klage habe die Klägerin die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises beantragt. Dies setze die Zuerkennung eines GdB von mindestens 50 voraus. Einen GdB von 50 habe der Beklagte im Klageverfahren anerkannt. Damit sei dieses Klagebegehren erledigt. Soweit die Klägerin nunmehr einen höheren GdB als 50 begehre und sich auf nach ihrer Ansicht eingetretene Verschlechterungen und Verschlimmerungen unter anderem der Dauerschmerzsymptomatik und des Sehvermögens sowie einen neu hinzu getretenen Vitamin-B-12-Mangel sowie einen Diabetes mellitus berufe, stelle dies eine Klageänderung dar. Das Gericht lasse dahinstehen, ob diese Klageänderung zulässig sei, da auch unter Berücksichtigung des neuen Vorbringens keine andere Entscheidung möglich sei. Übliche seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen seien bei der Bewertung des GdB bereits berücksichtigt. Das bei der Klägerin vorliegende Sehvermögen rechtfertige keinen GdB von 20. Der festgestellte Vitamin-B-12-Mangel stelle keine zu berücksichtigende Beeinträchtigung dar, da er medikamentös ausgeglichen werde. Der festgestellte Diabetes mellitus sei mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Eine Erhöhung des Gesamt-GdB komme damit nicht in Betracht. Auch die Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung lägen nicht vor. Die Klägerin sei in der Lage, ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen.

Gegen dieses ihr am 18. April 2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15. Mai 2007 Berufung eingelegt, um ihr Begehren weiter zu verfolgen. Sie ist weiterhin der Ansicht, das Merkzeichen "G" sei zu bewilligen. Die sie behandelnde Orthopädin habe bestätigt, dass sie maximal 500 m am Stück laufen könne. Zusätzlich sei sie durch ein Glaucom und einen Tinnitus beeinträchtigt. Aufgrund des Bluthochdrucks falle sie häufig um. So sei sie auch im März 2007 zweimal kurz hintereinander außerhalb ihrer Wohnung umgefallen und habe sich einen Nasenbeinbruch, eine Stauchung der Halswirbelsäule sowie eine Prellung des Knies zugezogen.


Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2007 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 21. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2005 in der Fassung des Bescheides vom 1. November 2006 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr ab Juli 2004 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" festzustellen.


Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er hält an seiner Auffassung fest, dass der Klägerin Merkzeichen nicht zustehen.

Der Senat hat Befundberichte der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. Dr vom 29. Dezember 2007, der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Diplom-Medizinerin G vom 21. Februar 2008 und der Fachärztin für Orthopädie Diplom-Medizinerin L vom 13. Mai 2008 eingeholt.

Die als Sachverständige bestellte Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. F hat in ihrem Gutachten vom 5. September 2008 unter anderem ausgeführt, bei der Klägerin lägen eine Lendenwirbelsäulenfunktionseinschränkung mit Nervenwurzelreizerscheinungen sowie eine sensible Polyneuropathie der Beine, die sie mit Einzel-GdB von jeweils 20 bewertete, eine Funktionsbehinderung der Beingelenke, eine chronische Bronchitis sowie Bluthochdruck/Herzrhythmusstörungen, die sie mit Einzel-GdB von jeweils 10 bewertete, vor.

Der GdB für die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Gesundheitsstörungen der unteren Gliedmaßen, der Lendenwirbelsäule und der inneren Leiden betrage insgesamt 30. Die Klägerin sei in der Lage, eine 2000 Meter weite Wegstrecke im Ortsverkehr zu Fuß zurückzulegen. Auch unter Berücksichtigung von Pausen sei ihr dies binnen 30 min möglich.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (Gz.:) verwiesen. Der Inhalt dieser Unterlagen war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, insbesondere ist sie statthaft sowie form- und fristgerecht erhoben. Sie ist aber nicht begründet, denn das Sozialgericht Berlin hat die Klage zu Recht abgewiesen. Zutreffend hat die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" abgelehnt, denn die Klägerin hat keinen Anspruch hierauf.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich zu befördern. Gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Im Interesse der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen erfolgt die konkrete Festsetzung nach Maßgabe der in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP, herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, aktuelle Ausgabe: 2008) niedergelegten Maßstäben. Diese sind zwar kein Gesetz und auch nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen. Es handelt sich jedoch bei ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhenden Ausarbeitung, die die möglichst gleichmäßige Anwendung dieser Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hat. Die AHP engen das Ermessen der Verwaltung ein, führen zur Gleichbehandlung und sind deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich von diesen auszugehen (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 18. September 2003, BSGE 91, 205-211, SozR 4-3250 § 69 Nr. 2 Rdnr. 18). Deshalb stützt sich der Senat auf die genannten AHP. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden (AHP Nr. 30 Abs. 2 S. 2, S. 137). Nach der Rechtsprechung gilt als übliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273-281 (277) = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Dieser Maßstab ist erstmals von den AHP 1996 (Nr. 30 Abs. 2) übernommen und in den zur Zeit gültigen AHP 2004/2008 beibehalten worden. In den Absätzen 3 bis 5 der Nr. 30 geben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein schwerbehinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist.

Nach Nr. 30 Abs. 3 AHP sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie- und Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden und bei Lungenschäden mit einem Einzel-GdB von 50 anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen.

Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen der Nr. 30 Abs. 3 AHP nicht.

Die Klägerin leidet unter den bereits mit Bescheid vom 01. November 2006 anerkannten und von dem Beklagten zutreffend bewerteten Behinderungen, aus denen sich bei Berücksichtigung nur der sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule kein GdB von wenigstens 50 ergibt. Eine Behinderung ist gemäß § 2 SGB IX die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht und die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt. Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als GdB nach Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen, wie sie bei der Klägerin vorliegen, ist nach § 69 Abs. 3 SGB IX der Gesamt-GdB nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander festzustellen.

Die Klägerin leidet zunächst unter einer Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, einem Bandscheibenschaden der Halswirbelsäule, einem chronischen Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom sowie einer Knochenkalksalzminderung. Von diesen Behinderungen wirkt sich lediglich das Lendenwirbelsäulensyndrom auf die Gehfähigkeit der Klägerin aus. Diese hat die Sachverständige Dr. F zutreffend mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet. Nach den Anhaltspunkten (Nummer 26.18, Seite 116) werden Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet. Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt bedingen einen Einzel-GdB von 20. Erst Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt werden mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Bei der Klägerin lässt sich selbst unter Beachtung der Nervenwurzelreizerscheinungen und der anhaltenden Schmerzensymptomatik ein GdB von mehr als 20 für die Beschwerden der Lendenwirbelsäule nicht rechtfertigen.

Des Weiteren wirkt sich die bei der Klägerin vorliegende Polyneuropathie auf das Gehvermögen aus. Diese ist mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, denn dies entspricht den Vorgaben der Anhaltspunkte (Nummer 26.18, Seite 128) und ist durch die Sachverständige Dr. F bestätigt worden.

Die weiteren bei der Klägerin vorliegenden und sich auf das Gehvermögen auswirkenden Behinderungen Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, chronische Bronchitis und Hüftgelenksverschleiß beidseits hat der Beklagte zutreffend mit Einzel-GdB von jeweils 10 bewertet. Der von der Klägerin geklagte Vitamin-B-12-Mangel wird medikamentös ausgeglichen, das Sehvermögen der Klägerin wird durch eine Brille korrigiert. Beide Gesundheitsstörungen bedingen keinen Einzel-GdB und wirken sich nicht auf das Gehvermögen der Klägerin aus.

Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden, auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (AHP Nr. 19 Abs. 1, S. 24). Dabei ist in der Regel ausgehend von der schwerwiegendsten Gesundheitsstörung zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Funktionsbeeinträchtigungen vergrößert wird (AHP Nr. 19 Abs. 3, S. 25), wobei zu berücksichtigen ist, dass leichte Gesundheitsstörungen, die einen GdB von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesundheitsbeeinträchtigungen führen, und dass es vielfach auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 nicht gerechtfertigt ist, eine Erhöhung vorzunehmen (AHP Nr. 19 Abs. 4, S. 26). Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze beträgt der GdB der sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Gesundheitsstörungen nicht mehr als 30. Ausgehend von der schwerwiegendsten Gesundheitsstörung, das heißt von den Lendenwirbelsäulenschäden, die mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet worden ist, ist es angemessen diesen Einzel-GdB von 20 leicht, nämlich um einen GdB von 10 wegen der Polyneuropathie, die ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet worden ist, zu erhöhen. Es besteht nämlich einerseits eine wechselseitige Beziehung zwischen den Wirbelsäulenbeschwerden mit Dauerschmerzen und der Polyneuropathie, andererseits können sich jedoch die Einzel-GdB der verschiedenen Behinderungen nicht insgesamt erhöhend auswirken, da auch eine Überschneidung dieser Behinderungen vorliegt. Auch eine weitere Erhöhung wegen der mit Einzel-GdB von lediglich jeweils 10 bewerteten Behinderungen ist nicht gerechtfertigt.

Das Vorliegen eines in Abs. 4 oder 5 geregelten Sachverhalts kann ausgeschlossen werden, denn die Klägerin leidet weder unter hirnorganischen Anfällen noch unter einer Störung der Orientierungsfähigkeit.

Die Nichterfüllung eines in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP bestimmten Regelfalles schließt die Feststellung des Merkzeichens "G" jedoch nicht aus. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Nachteilsausgleichs können nämlich auch bei schwerbehinderten Menschen erfüllt sein, bei denen andere als die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP aufgeführten Behinderungen vorliegen. Nach dem Wortlaut des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist es erforderlich, gleichzeitig aber auch ausreichend, dass der schwerbehinderte Mensch "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Die Bewegungsbeeinträchtigung im Sinne dieser Definitionsnorm muss tatsächlich auf eine sich auf das Gehvermögen auswirkende Behinderung im Sinne des Gesetzes ursächlich zurückzuführen sein (so zuletzt BSG, Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 7/06 R, zitiert nach juris). In dem genannten Urteil hat das BSG die Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Bandenburg (Urteil vom 08. Juni 2006, Az. L 11 SB 1021/05, zitiert nach juris) bestätigt, das Adipositas als gesundheitliche Grundlage einer rechtserheblichen Funktionseinbuße im Sinne von Behinderungen und diese als Ursachen einer Bewegungsbeeinträchtigung angesehen hat.

Dazu hat das BSG weiter ausgeführt, die AHP beschrieben in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen seien, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen könnten. Das Merkzeichen "G" sei daher auch demjenigen zuzuerkennen, der zwar nicht die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP aufgezeigten Behinderungen bzw. Behinderungsgrade aufweise, bei dem aber körperliche Regelwidrigkeiten mit den von ihnen ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen vorlägen, die seine Bewegungsfähigkeit, insbesondere sein Gehvermögen, ebenso herabsetzten wie in den in den AHP beispielhaft genannten Fällen. Die AHP geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit tragen die AHP dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen.

Auch diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Denn die Sachverständige Dr. F konnte eine erhebliche Gehbehinderung der Klägerin nicht feststellen, vielmehr hat sie ausgeführt, dass die Klägerin in der Lage ist, Wege, die üblicherweise im Ortsverkehr zurückgelegt werden, nämlich Wege von 2000 m, zurückzulegen. Die Klägerin erfüllt damit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht.

Soweit die Klägerin geltend macht, es sei bisher überhaupt nicht beachtet worden, dass sich auch ihr Tinnitus und ihr Sehvermögen auf ihre Fortbewegungsfähigkeit auswirken würden, verkennt sie die Voraussetzungen des Merkzeichens "G". Für die Gewährung des Merkzeichens "G" kommt es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gerade nur auf eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens an, nicht aber auf die Frage, ob die Bewegungsfähigkeit aus anderen Gründen z. B. wegen einer Minderung des Sehvermögens, eingeschränkt ist.

Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und trägt dem Ausgang des Rechtsstreits Rechnung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 160 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGG genannten Gründe vorliegt.

Referenznummer:

R/R3194


Informationsstand: 29.07.2009