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Urteil
Kostenübernahme durch GKV für drahtlose Übertragungsanlage zu schulischen Zwecken - Erstattungspflicht bei Selbstbeschaffung - GKV als zuständiger Rehabilitationsträger für Eingliederungshilfe nach SGB XII

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 9. Senat


Aktenzeichen:

L 9 KR 453/07


Urteil vom:

09.03.2011


Grundlage:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Juni 2007 sowie der Bescheid der Beklagten vom 8. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2005 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 2.323,20 Euro zu erstatten.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Kostenerstattung in Höhe von 2.323,20 Euro.

Die 1986 geborene Klägerin ist auf beiden Ohren hochgradig schwerhörig. Am linken Ohr ist sie mit einem Hörgerät versorgt, am rechten Ohr mit einem Cochlea-Implantat. Zusätzlich versorgte die Beklagte sie im Jahre 2001 mit einer drahtlosen Übertragungsanlage, die aus einem beispielsweise in der Schule vom Lehrer getragenen Sendermikrophon und einem vom Hörgeschädigten getragenen Empfangsgerät besteht. Bis zum Abschluss der zehnten Klasse am Evangelischen Gymnasium F ermöglichte dies der Klägerin ein problemfreies Hören während des Unterrichts. In die Klasse der Klägerin ging eine weitere schwerhörige Schülerin, die ebenfalls eine drahtlose Übertragungsanlage nutzte. Der Lehrer trug in dieser Situation nur ein Mikrophon und erreichte so die Empfangsgeräte beider Schülerinnen, die dieselben Signale problemlos auf derselben Frequenz empfingen. Mit Beginn des Besuchs der Oberstufe entstanden jedoch erhebliche Empfangsstörungen, da die beiden schwerhörigen Schülerinnen nun nicht mehr denselben Klassenraum nutzten, so dass verschiedene Lehrer gleichzeitig in verschiedenen Räumen die Sendemikrophone trugen und die Signale sich gegenseitig störten.

Zur Ausschaltung dieser Störungen, die es der Klägerin erschwerten, am Unterrichtsgeschehen teilzunehmen, ließ sie sich im Februar 2005 bei der Firma K. Hörgeräte eine andere, störungsfrei funktionierende drahtlose Übertragungsanlage der Marke Phonak nebst Zubehör anpassen. Hierüber fertigte der Hörgeräteakustiker für die Beklagte am 8. Februar 2005 eine "Aufstellung der Festbeträge" mit genauer Produktbezeichnung und Preisen in Höhe von insgesamt 2.323,20 Euro. Am selben Tag erhielt die Klägerin das Gerät ausgehändigt und nutzte es fortan. Am 1. März 2005 stellten die HNO-Ärzte Dr. V B / Dr. H S der Klägerin eine vertragsärztliche Verordnung aus, in der es hieß "erbitte Phonak Smartlink SX für Hörgeräte".

Diese Verordnung und die "Aufstellung der Festbeträge" seitens des Hörgeräteakustikers wurden der beklagten Krankenkasse zugeleitet.

Mit Bescheid vom 8. März 2005 lehnte diese eine Kostenübernahme ab. Die beantragte Mikroportanlage sei nur für hörgeschädigte Kinder, die eine normale Schule besuchen können, nicht aber für Erwachsene zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnungsfähig.

Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, die Hörsituation in der Schule werde durch das neue Gerät entscheidend verbessert, was insbesondere für die Ablegung des Abiturs von Bedeutung sei.

Der von der Beklagten um eine Beurteilung ersuchte Medizinische Dienst der Krankenkassen Berlin-Brandenburg (MDK) hielt die verordnete Anlage nicht für erforderlich und empfahl eine Antragstellung beim Integrationsamt (Dr. S vom 24. März 2005).

Am 6. Juni 2005 stellte die Firma K. Hörgeräte der Klägerin die seit Februar 2005 genutzte drahtlose Übertragungsanlage mit 2.323,20 Euro abschließend und verbindlich in Rechnung; für den Fall der Nichtzahlung wurde die Anlage zurückgefordert. Der Betrag wurde daraufhin vom Vater der Klägerin beglichen.

Mit Bescheid vom 15. Dezember 2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Besuch der gymnasialen Oberstufe stelle kein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens dar; die Sicherung der Schulfähigkeit falle daher nicht in den Aufgabenbereich der GKV.

Im Januar 2006 haben die Klägerin und ihre Eltern hiergegen Klage erhoben. Die Mutter der Klägerin, ursprünglich Klägerin zu 3), hat die Klage im Laufe des Klageverfahrens, der Vater der Klägerin, ursprünglich Kläger zu 2), im Berufungsverfahren zurückgenommen.

Die Klägerin hat im Klageverfahren geltend gemacht, die Beklagte sei einstandspflichtig für die drahtlose Übertragungsanlage, da der weiterführende Schulbesuch alters- und bildungskonform sei. Das Hilfsmittel diene dem unmittelbaren Behinderungsausgleich.

Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des die Klägerin zu 1) behandelnden Hörgeschädigtenpädagogen K. B (Cochlear Implant Centrum Berlin Brandenburg) vom 21. August 2006 eingeholt, auf den Bezug genommen wird.

Mit Urteil vom 5. Juni 2007 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Zu Recht habe die Beklagte Kostenübernahme bzw. -erstattung abgelehnt. Es fehle schon am notwendigen Kausalzusammenhang zwischen der Inanspruchnahme der Leistung und der Ablehnung durch die Krankenkasse. Die Kammer habe nämlich nach den Bekundungen der Klägerin und ihres Vaters im Rahmen der mündlichen Verhandlung keinen Zweifel daran, dass ein Kaufvertrag über die drahtlose Übertragungsanlage schon im Februar 2005 und damit vor Ablehnung des Antrags durch die Beklagte zustande gekommen sei; der Kaufpreis sei lediglich gestundet gewesen. Eine für den Fall der Kostenübernahme durch die Beklagte bedingte Abgabe der Geräte durch den Leistungserbringer sei nicht erfolgt, da der Vater der Klägerin ausdrücklich versichert habe, die Kosten zu tragen, falls die Beklagte nicht leiste. Im Übrigen habe aber auch kein Sachleistungsanspruch bestanden. Der Besuch eines Gymnasiums zähle nämlich nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, so dass die Beklagte nicht leistungspflichtig gewesen sei. Zudem sei die Klägerin bereits mit einer drahtlosen Übertragungsanlage versorgt gewesen; sie habe also nur eine Alternativversorgung besserer Qualität erstrebt.

Gegen das ihr am 14. Juni 2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12. Juli 2007 Berufung eingelegt. Ein Sachleistungsanspruch bestehe. Die Berücksichtigung nur der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens sei unvereinbar mit der Verpflichtung der Beklagten zum Behinderungsausgleich. Ende Mai habe die Firma Hörgeräte K. sie vor die Wahl gestellt, die Übertragungsanlage zu kaufen oder zurückzugeben. Erst aufgrund dieser Nachricht habe ihr Vater sich entschlossen, die Anlage zu kaufen. Auch nach dem 8. Februar 2005 hätte noch die Möglichkeit bestanden, das Gerät zurückzugeben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Juni 2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Kosten in Höhe von 2.323,20 Euro zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

Rechtsweg:

SG Berlin, Urteil vom 05.06.2007 - S 81 KR 85/06

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf die begehrte Kostenerstattung in Höhe von 2.323,20 Euro.

1. Zu Recht hat das Sozialgericht allerdings entschieden, dass die Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin sich nicht aus krankenversicherungsrechtlichem Zusammenhang ergibt.

Nach § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) ist die Erstattung von Kosten (Aufwendungen) für eine selbst beschaffte Leistung in einem Fall wie dem vorliegenden davon abhängig, dass der zur Leistung verpflichtete Träger eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. An Letzterem mangelt es.

Die Klägerin hat nämlich keinen krankenversicherungsrechtlichen Anspruch auf Kostenübernahme für die drahtlose Übertragungsanlage. Nach dem insoweit als Rechtsgrundlage in Betracht kommenden § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, wenn sie erstens nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens oder nach § 34 Abs. 4 SGB V aus Versorgung der GKV ausgeschlossen und zweitens im Einzelfall erforderlich sind, um entweder den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Demgemäß besteht nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ein Anspruch auf Hörhilfen, die kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens und nicht nach § 34 Abs. 4 SGB V aus der GKV-Versorgung ausgeschlossen sind und weder der Krankenbehandlung noch der Vorbeugung einer Behinderung dienen, soweit sie im Rahmen des Notwendigen und Wirtschaftlichen (§ 12 Abs. 1 SGB V) für den von der Krankenkasse geschuldeten Behinderungsausgleich erforderlich sind. Unzweifelhaft stellt etwa das von der Klägerin getragene Cochlea-Implantat ein Körperersatzstück in diesem Sinne dar. Zum unmittelbaren Behinderungsausgleich bestand insoweit - unstreitig - ein Leistungsanspruch gegenüber der GKV.

Allerdings stand der Klägerin nach Erfüllung der Schulpflicht - also mit Eintritt in die gymnasiale Oberstufe - kein Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit einer drahtlosen Übertragungsanlage mit dem Ziel des Behinderungsausgleichs aus § 33 Abs. 1 Satz 1, 3. Alt SGB V zu. Denn Aufgabe der GKV bei der Hilfsmittelversorgung ist allein die an Gesundheit, Organfunktion und Behandlungserfolg orientierte medizinische Rehabilitation (vgl. hierzu und zum Folgenden: Bundessozialgericht, Urteil vom 7. Oktober 2010, B 3 KR 5/10 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13; Urteil vom 3. November 1999, B 3 KR 3/99 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12). Darüber hinausgehende soziale oder berufliche Rehabilitationsleistungen könnten allenfalls von anderen Sozialleistungsträgern erbracht werden. Bei GKV-Hilfsmitteln, die - wie hier - nicht unmittelbar eine körperliche Funktion ersetzen, sondern lediglich die direkten oder indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen ("mittelbarer Behinderungsausgleich"), kann von medizinischer Rehabilitation aber nur dann die Rede sein, wenn der Zweck des Hilfsmitteleinsatzes der Befriedigung körperlicher Grundfunktionen und in diesem Sinne einem Grundbedürfnis dient. Dies ist der Fall, wenn das Hilfsmittel die Auswirkungen einer Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert: Dann ist ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen. Der Gesetzgeber hat diese ständige Rechtsprechung des BSG zur Hilfsmittelversorgung durch die Regelung in § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX ausdrücklich gesetzlich bestätigt.

Die drahtlose Übertragungsanlage kann hierunter nicht fallen, denn sie beseitigt für die Klägerin nicht die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben, sondern ganz vorwiegend in der spezifischen Situation des schulischen Oberstufenunterrichts und - heute - des universitären Unterrichts. Zur Begründung einer Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung reicht dies nicht aus. Wird eine Organfunktion wie das Hören durch ein Hilfsmittel nicht für alle Lebensbereiche gleichermaßen, sondern nur für bestimmte Lebensbereiche ausgeglichen, so kommt es nach ständiger Rechtsprechung nur dann zu einer weiteren Leistungsverpflichtung der Krankenversicherung, wenn es sich um Lebensbereiche handelt, die zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen. Eine Verbesserung des Behinderungsausgleichs auf beruflicher oder gesellschaftlicher Ebene sowie im Freizeitbereich reicht dazu nicht aus (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 3. November 1999, B 3 KR 3/99 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13).

2. Allerdings - und im Gegensatz zur Auffassung des Sozialgerichts - ergibt sich der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin in ihrem speziellen Einzelfall aus den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX) in Verbindung mit denen des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (Sozialhilfe, SGB XII). Die Anspruchsgrundlage für die begehrte Kostenerstattung liegt insoweit in § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX. Danach besteht Erstattungspflicht in Bezug auf selbst beschaffte Leistungen, wenn der Rehabilitationsträger eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat.

a) Den hier ebenso wie im Rahmen von § 13 Abs. 3 SGB V notwendigen Beschaffungsweg hat die Klägerin nach Auffassung des Senats eingehalten. Indem das Gesetz die Erstattung von Kosten (Aufwendungen) für eine selbst beschaffte Leistung in einem Fall wie dem vorliegenden davon abhängig macht, dass der zur Leistung verpflichtete Träger eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, setzt es insbesondere voraus, dass die Beschaffung der Leistung kausal zurück geht auf eine Ablehnung der Leistungserbringung durch den Leistungsträger. "Selbst beschafft" ist eine Hilfsmittel-Leistung dabei grundsätzlich nicht schon mit deren Auswahl (vgl. hierzu und zum Folgenden: Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Dezember 2009, B 3 KR 20/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12). Die Auswahl ist dem Hilfsmittelbewilligungsverfahren notwendig vorgeschaltet und scheidet deshalb mit Ausnahme von Fällen der Vorfestlegung als Anknüpfungspunkt für den Zeitpunkt der Hilfsmittelbeschaffung aus. Anspruchshindernd ist vielmehr erst ein unbedingtes Verpflichtungsgeschäft im Verhältnis zwischen Versichertem und Leistungserbringer. Unschädlich sind danach Auswahlentscheidungen, die - wie hier - den Versicherten nicht endgültig binden und die regelmäßig Voraussetzung für den Leistungsantrag sind, wie bei der Hörgeräteversorgung die Prüfung der Eignung und Anpassungsfähigkeit der in Betracht kommenden Geräte. Dazu gehört auch eine probeweise Überlassung der angepassten Geräte. Anders ist es erst dann, wenn der Versicherte bereits vor der Entscheidung der Krankenkasse eine endgültige rechtliche Verpflichtung eingeht und der Leistungserbringer demgemäß auch im Falle der Ablehnung des Leistungsbegehrens durch die Krankenkasse die Abnahme und Bezahlung des Hilfsmittels verlangen kann.

Im Gegensatz zur Auffassung des Sozialgerichts sprechen hier die überwiegenden Anzeichen dafür, dass die Klägerin die drahtlose Übertragungsanlage noch nicht verbindlich und abschließend beschafft hatte, als sie bei der Beklagten den Antrag auf Kostenübernahme stellte. Die Bekundungen der Klägerin und ihres Vaters im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Senat lassen das Vorbringen plausibel erscheinen, wonach eine Rückgabe der Anlage an den Hörgeräteakustiker auch noch im Mai 2005 möglich gewesen wäre.

b) Die Leistungsablehnung durch die angefochtenen Bescheide erfolgte auch zu Unrecht. Die Klägerin konnte nämlich eine Versorgung mit der störungsfrei funktionierenden drahtlosen Übertragungsanlage nach den Vorschriften des SGB XII als Maßnahme der Eingliederungshilfe beanspruchen.

Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die auf § 60 SGB XII beruhende Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) grenzt u.a. in ihrem § 1 ("körperlich wesentlich behinderte Menschen") den insoweit leistungsberechtigten Personenkreis näher ein. Diesen Eingangsvoraussetzungen wird die Klägerin gerecht. Denn durch ihre erhebliche Hörminderung, die ihr eine sprachliche Verständigung über das Gehör nur mit Hörhilfen ermöglicht (§ 1 Nr. 5 EinglHV), ist ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft offenkundig beeinträchtigt.

Eine Leistung der Eingliederungshilfe besteht nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII auch in der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung. § 12 Nr. 3 der Eingliederungshilfeverordnung (EinglHV) stellt insoweit klar, dass sich dies auf den Besuch eines Gymnasiums erstreckt. Es liegt auf der Hand, dass diese Vorschrift dem Begehren der Klägerin, die die drahtlose Übertragungsanlage gerade in schulischem und universitärem Zusammenhang nutzt, weitaus eher Rechnung trägt als § 33 SGB V mit seiner oben dargestellten Begrenzung auf Hilfsmittel, die für alle Lebensbereiche gleichermaßen einsetzbar sind. Die streitgegenständliche drahtlose Übertragungsanlage zählt als Hörgerät i.S.v. § 9 Abs. 2 Nr. 8 EinglHV auch zu den sog. anderen Hilfsmitteln nach § 9 Abs. 1 und 3 EinglHV i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, da es dazu bestimmt und geeignet ist, die gravierend eingeschränkten Möglichkeiten der Klägerin, über das Gehör an der sprachlichen Verständigung teilzunehmen, auszugleichen. Diese Anlage, die die Klägerin offensichtlich bedienen kann, ist ferner erforderlich, da Anhaltspunkte für einen kostengünstigeren Behinderungsausgleich weder vorgebracht noch anderweitig ersichtlich sind.

Unerheblich ist ferner, dass es mit der Beschaffung der drahtlosen Übertragungsanlage aufgrund der im Tatbestand geschilderten Problematik der Frequenzstörungen zu einer Doppelausstattung kam; diese erklärt § 10 Abs. 2 EinglHV für hinnehmbar, soweit sie im Einzelfall erforderlich ist. An der Erforderlichkeit in diesem Sinne hat der Senat keinen Zweifel, denn die Klägerin war mit der ursprünglichen Übertragungsanlage nicht mehr in der Lage, dem Unterricht sachgerecht zu folgen.

Leistungsberechtigung besteht insoweit nach § 19 Abs. 3 SGB XII, soweit die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften der §§ 82 bis 96 SGB XII nicht zumutbar ist. Für die von der Klägerin begehrte Leistung, die unzweifelhaft dem Erwerb einer angemessenen Schulbildung diente, sieht speziell § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 SGB XII die Nichtanrechenbarkeit von Vermögen vor; dies hat das Sozialgericht übersehen, indem es die Klägerin auf die Einsetzbarkeit der Mittel aus ihrem Bausparvertrag verwies.

c) Schließlich ist die Beklagte für den dargestellten Anspruch auf Eingliederungshilfe auch gesetzlich zuständiger "Rehabilitationsträger" im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX. Dies ergibt sich aus § 14 SGB IX. Dort heißt es:

(1) Werden Leistungen zur Teilhabe beantragt, stellt der Rehabilitationsträger innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei ihm fest, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist; bei den Krankenkassen umfasst die Prüfung auch die Leistungspflicht nach § 40 Abs. 4 des Fünften Buches. Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu. Muss für eine solche Feststellung die Ursache der Behinderung geklärt werden und ist diese Klärung in der Frist nach Satz 1 nicht möglich, wird der Antrag unverzüglich dem Rehabilitationsträger zugeleitet, der die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache erbringt. (...)

(2) Wird der Antrag nicht weitergeleitet, stellt der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf unverzüglich fest. Muss für diese Feststellung ein Gutachten nicht eingeholt werden, entscheidet der Rehabilitationsträger innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang. Wird der Antrag weitergeleitet, gelten die Sätze 1 und 2 für den Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, entsprechend; die in Satz 2 genannte Frist beginnt mit dem Eingang bei diesem Rehabilitationsträger. Ist für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich, wird die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens getroffen. Kann der Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, für die beantragte Leistung nicht Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 sein, klärt er unverzüglich mit dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger, von wem und in welcher Weise über den Antrag innerhalb der Fristen nach den Sätzen 2 und 4 entschieden wird und unterrichtet hierüber den Antragsteller.

Hiernach war die Beklagte als erstangegangene Rehabilitationsträgerin im Verhältnis zur Klägerin zur Prüfung auch der weiter in Betracht zu ziehenden, über das SGB V hinaus gehenden rehabilitationsrechtlichen Anspruchsgrundlagen verpflichtet. Der materiell-rechtlich eigentlich zuständige Rehabilitationsträger verliert im Außenverhältnis zum Versicherten oder Leistungsempfänger seine originäre Zuständigkeit für eine Teilhabeleistung, sobald der zuerst angegangene Rehabilitationsträger (hier: die beklagte Krankenkasse) eine i.S. von § 14 Abs. 1 SGB IX fristgerechte Zuständigkeitsklärung versäumt hat und demzufolge die Zuständigkeit nach allen in Betracht kommenden rehabilitationsrechtlichen Rechtsgrundlagen auf ihn übergegangen ist. Diese Zuständigkeit nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX erstreckt sich im Außenverhältnis zwischen dem Antragsteller und dem erstangegangenen Rehabilitationsträger auf alle Rechtsgrundlagen, die überhaupt in dieser Bedarfssituation rehabilitationsrechtlich vorgesehen sind (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 4/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 22). Zuständig ist also derjenige Träger, der von dem Versicherten bzw. Leistungsbezieher erstmals mit dem zu beurteilenden Antrag auf Bewilligung einer Leistung zur Teilhabe befasst worden ist, hier die beklagte Krankenkasse. Ohne Belang ist hierbei, dass die drahtlose Übertragungsanlage im Bereich der GKV der medizinischen Rehabilitation, im Bereich der Sozialhilfe hingegen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zuzuordnen ist (vgl. BSG a.a.O. Rd. 23). Denn die Leistungszwecke - allein auf diese und nicht auf die Leistungsgegenstände ist abzustellen - des SGB V bzw. der medizinischen und der sozialen Rehabilitation können sich überschneiden (BSG, Urteil vom 29. September 2009, B 8 SO 19/08 R, zitiert nach juris, dort Rd. 21).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Referenznummer:

R/R5128


Informationsstand: 07.10.2011