Urteil
Beihilfe für eine Perücke: Verbot der Benachteiligung männlicher Beamter

Gericht:

BVerwG 2. Senat


Aktenzeichen:

2 C 1/01 | 2 C 1.01


Urteil vom:

31.01.2002


Leitsatz:

Eine Regelung, nach der die Aufwendungen für die Beschaffung einer Perücke für männliche Personen nur beihilfefähig sind, wenn eine bestimmte Altersgrenze nicht überschritten ist, während eine solche Altersgrenze bei Frauen nicht vorgeschrieben ist, verletzt das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 3 GG.

Rechtsweg:

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Quelle:

JURIS-GmbH

Tatbestand:

Der im Mai 1951 geborene Kläger ist Beamter im Dienste des beklagten Landes. Seit seiner Kindheit leidet er an totalem Haarausfall. Seinen Antrag, ihm eine Beihilfe zu den Kosten einer im Januar 1996 ärztlich verschriebenen Perücke zu gewähren, lehnte der Beklagte ab.
Der Verpflichtungsklage hat das Verwaltungsgericht stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts komme es nicht darauf an, ob der Haarausfall vor oder nach dem 30. Lebensjahr eingetreten sei. Vielmehr könne bei männlichen Personen eine Beihilfe zu den Aufwendungen für die Anschaffung einer Perücke wegen totalen oder weitgehenden Haarausfalls nur bis zum 30. Lebensjahr geleistet werden. Die zeitliche Begrenzung verstoße weder gegen Art. 3 Abs. 2 GG noch gegen Art. 141 Abs. 1 EG-Vertrag, da sachliche Differenzierungsgründe bestünden. Der Kläger habe auch keinerlei Gründe geltend gemacht, die über den vorgesehenen Regelfall hinaus die Annahme eines besonderen Härtefalls rechtfertigen und ein Ermessen der Behörde eröffnen könnten.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.


Er beantragt,

den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 24. Mai 2000 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 25. Juni 1998 zurückzuweisen.


Der Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Vertreter des Bundesinteresses tritt der Revision ebenfalls entgegen.

Entscheidungsgründe:

Die Revision ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Beihilfe für den Erwerb der Perücke. Die Regelung der Verordnung des Finanzministeriums über die Gewährung von Beihilfe in Geburts-, Krankheits-, Pflege- und Todesfällen ( Beihilfeverordnung - BVO -) vom 28. Juli 1995 (GBl S. 561) mit späteren Änderungen, nach der der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ausgeschlossen ist, verletzt das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 3 GG. Dieser Verstoß führt zur Nichtigkeit der Ausnahmebestimmung, wonach die Beschaffung einer Perücke für männliche Personen ab dem 30. Lebensjahr nicht beihilfefähig ist.

Gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 4 der aufgrund des § 101 Abs. 1 des Landesbeamtengesetzes Baden-Württemberg (LBG) ergangenen Beihilfeverordnung sind aus Anlass einer Krankheit beihilfefähig u.a. die Aufwendungen für die gesondert berechnete Anschaffung der von Ärzten schriftlich begründet verordneten Körperersatzstücke nach Maßgaben der Anlage. Nach dem "Hilfsmittelverzeichnis" der Anlage sind die Aufwendungen für die Anschaffung von Perücke oder Toupet bis zum Hächstbetrag von 1 100 DM, bei Personen über 15 Jahren höchstens 2 Stück innerhalb von vier Jahren, in folgenden Fällen beihilfefähig:
- bei entstellendem partiellen Haarausfall
- bei verunstaltenden Narben
- bei totalem oder sehr weitgehendem Haarausfall männlicher
Personen bis zum 30. Lebensjahr oder weiblicher Personen.

Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Beihilfe nicht davon abhängig ist, wie alt der Beamte war, als der Haarausfall eingetreten ist.
Vielmehr bezieht sich die Altersbegrenzung auf den Zeitpunkt, in dem die Aufwendungen entstanden sind. Nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Vorschrift soll eine Beihilfe nicht mehr gewährt werden, wenn die Perücke für einen Mann angeschafft worden ist, der an vollständigem oder sehr weitgehendem Haarausfall leidet und das 30. Lebensjahr vollendet hat.

Das zeitliche Merkmal "bis zum 30. Lebensjahr" schließt sich unmittelbar an das geschlechtsbezogene Merkmal "männliche Personen" an. Diese Satzstellung bestimmt den inhaltlichen Zusammenhang und schließt es aus, dass die Altersgrenze auf den im Satzaufbau vorangestellten "Haarausfall" bezogen sein könnte. Mit der Formulierung hat der Verordnungsgeber seinem Willen Ausdruck verliehen, dass der Haarausfall bei Männern ab dem 30. Lebensjahr kein Anlass mehr sein sollte, eine Beihilfe zu gewähren. Die Verordnung trägt der Tatsache Rechnung, dass Haarausfall bei männlichen Personen mit fortschreitendem Lebensalter häufiger anzutreffen ist und als "alltägliche Erscheinung" gilt. Bei dieser Ausgangslage greift die Altersbegrenzung für Männer auch dann ein, wenn der Haarausfall bereits vor Erreichen des 30. Lebensjahres eingetreten ist.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die begehrte Beihilfe gemäß § 5 Abs. 6 BVO. Danach kann - unter weiteren Voraussetzungen - bei Anlegung eines strengen Maßstabs in besonderen Härtefällen zu Aufwendungen im Sinne des § 101 LBG ausnahmsweise abweichend von den in der Beihilfeverordnung genannten Voraussetzungen Beihilfe gewährt werden. Ein solcher Härtefall ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht ersichtlich. Insbesondere ergibt er sich nicht daraus, dass der Kläger seit seiner Kindheit krankheitsbedingt an vollständigem Haarausfall leidet. Nach Erreichen des 30. Lebensjahres unterscheidet sich sein äußeres Erscheinungsbild nicht von dem anderer Männer mit ebenfalls vollständigem Haarausfall. Beeinträchtigungen psychischer und gesellschaftlicher Art, die sich bei einem Verzicht auf das Tragen einer Perücke nach dem 30. Lebensjahr üblicherweise ergeben, begründen keinen besonderen Härtefall im Sinne des § 5 Abs. 6 BVO.
Der Verordnungsgeber hat nämlich bei der Festlegung der Altersgrenze sowohl den bereits bestehenden als auch den erst später eintretenden Haarausfall bedacht und unterschiedslos erfasst.
Die Altersbegrenzung bei Männern ist jedoch mit höherrangigem Recht nicht vereinbar. Zwar steht der Ausschluss der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für die Beschaffung einer Perücke im Einklang mit der in § 98 LBG ausdrücklich normierten und durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Fürsorgepflicht des Dienstherrn, wie sie für den Bereich der Krankenvorsorge durch die Beihilferegelungen konkretisiert wird (vgl. BVerfGE 83, 89 (98); BVerwGE 89, 207 (209) jeweils m. N.).

Hinsichtlich der Beihilferegelungen im Einzelnen steht dem Normgeber oder Dienstherrn in Bund und Ländern ein Gestaltungsspielraum zur Verfügung, innerhalb dessen er die Voraussetzungen, den Umfang sowie die Art und Weise dieser speziellen Fürsorge bestimmen kann (vgl. BVerwGE 89, 207 (209 f.)). Von Verfassungs wegen fordert die Fürsorgepflicht nicht den Ausgleich jeglicher aus Anlass von Geburts-, Krankheits-, Pflege- und Todesfällen entstandener Aufwendungen (stRspr; z. B. BVerfGE 83, 89 (101); BVerwG, Beschluss vom 3. März 1989 - BVerwG 2 NB 1.88 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 6; Urteil vom 29. Juni 1995 - BVerwG 2 C 15.94 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 15; Urteil vom 21. Dezember 2000 - BVerwG 2 C 39.99 - BVerwGE 112, 308 (310 f.) = Buchholz 237.95 § 95 SHLBG Nr. 3). Die Beihilfefähigkeit der Kosten einer Perücke berührt nicht den Wesenskern der Fürsorgepflicht. Die Perücke dient nicht der Heilung des Haarausfalls. Sie ist auch kein Hilfsmittel oder Ersatzstück, das existenzielle Bedeutung hat oder notwendig ist, um wesentliche Verrichtungen des täglichen Lebens erledigen zu können.

Die Differenzierung zwischen männlichen und weiblichen Personen verletzt aber das strenge Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Nach dieser Regelung darf niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden. Die Bestimmung, dass männliche Personen bei totalem oder sehr weitgehendem Haarausfall ab dem 30. Lebensjahr keine Beihilfe zur Beschaffung einer Perücke erhalten, während für weibliche Personen eine solche Altersbeschränkung nicht vorgesehen ist, knüpft an das Geschlecht an und benachteiligt Männer gegenüber Frauen.

Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind an das Geschlecht anknüpfende differenzierende Regelungen mit Art. 3 Abs. 3 GG nur vereinbar, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind (vgl. BVerfGE 85, 191 (207); BVerfGE 92, 91 (109)).

Fehlt es an zwingenden Gründen für eine Ungleichbehandlung, lässt sich diese nur noch im Wege einer Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht legitimieren (vgl. BVerfGE 85, 191 (209); BVerfGE 92, 91 (109)). Art. 3 Abs. 2 GG enthält daneben keine weitergehenden oder speziellen Anforderungen. Diese Vorschrift kann allerdings mit ihrer Verpflichtung, das Gleichberechtigungsgebot in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchzusetzen, den Gesetzgeber berechtigen, Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, durch begünstigende Regelungen auszugleichen (z.B. BVerfGE 74, 163 (180); BVerfGE 85, 191 ( 207)). Dass totaler Haarausfall bei Männern weitaus häufiger auftritt als bei Frauen, ist kein tragfähiger Grund, die Gewährung von Beihilfen für die Beschaffung von Haarersatz an Männer einzuschränken. Fiskalische Erwägungen sind grundsätzlich nicht geeignet, Ungleichbehandlungen nach dem formalen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 3 GG zu rechtfertigen.
Dass der Haarausfall bei Männern oftmals eine Alterserscheinung ohne weiteren pathologischen Hintergrund ist, während ein genetisch oder altersbedingter Haarausfall bei Frauen deutlich seltener auftritt, begründet ebenfalls nicht die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Differenzierung.

Die Beihilfeverordnung geht zutreffend davon aus, dass Haarausfall sowohl bei Männern als auch bei Frauen auftreten kann. Selbst wenn bei typisierender Betrachtungsweise festgestellt werden könnte, dass der Haarausfall bei Männern, die das 30. Lebensjahr überschritten haben, altersbedingt ist, während dasselbe Phänomen bei Frauen auf anderen Ursachen beruht, wäre die Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich nicht legitimiert. Denn der Gebrauch einer Perücke berührt nicht die Ursachen des Haarausfalls; vielmehr dient sie ausschließlich als Haarersatz.
Eine geschlechtsspezifische Ausweitung der Beihilfefähigkeit ist nicht deshalb zwingend geboten, weil der Haarausfall, soweit Frauen betroffen sind, möglicherweise gesellschaftlich nicht - jedenfalls weniger als bei Männern - toleriert wird. Die gesellschaftliche Akzeptanz ist kein Problem, das seiner Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftritt. Aus heutiger Sicht könnte ein tradiertes geschlechtsspezifisches Selbstverständnis ebenso wenig wie tradierte gesellschaftliche Rollenerwartungen die Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 GG legitimieren, da der strenge Gleichheitssatz gerade derartigen Unterscheidungen begegnen soll.

Da die Ausnahmeregelung der Beihilfeverordnung verfassungswidrig ist, kann der Kläger die begehrte Beihilfe verlangen. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Kompetenz, eine als verfassungswidrig erkannte Regelung der Beihilfeverordnung, die eine Rechtsverordnung ist, zu verwerfen (vgl. Art. 100 GG). Die in Rede stehende Bestimmung der Beihilfeverordnung ist nur in dem Umfang verfassungswidrig, als die Anschaffungskosten einer Perücke für Männer nach dem 30. Lebensjahr von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen wird. Entfällt diese Ausnahmeregelung wegen Nichtigkeit, ist die Bestimmung im Übrigen mit höherrangigem Recht vereinbar und bleibt insoweit wirksam.

Referenznummer:

WBRE410008837


Informationsstand: 31.07.2002