Urteil
Übernahme der Kosten für ein Sitzschalen-Untergestell und ein Sitzsystem durch die private Pflegeversicherung

Gericht:

LSG Nordrhein-Westfalen 5. Senat


Aktenzeichen:

L 5 P 75/16


Urteil vom:

05.10.2017


Tenor:

Die Berufung der Beklagten wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger 592,62 Euro für die Anschaffung eines Sitzschalen-Untergestells Typ "Franka, Gr. 2" sowie 1.555,33 Euro für die Anschaffung eines Sitzsystems "modular (X.panda Gr. 4)" zu zahlen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren.

Tatbestand:

Streitig ist die Versorgung des Sohnes des Klägers mit einem Sitzschalen-Untergestell und einem Sitzsystem.

Der Kläger ist zu 80% beihilfeberechtigt und im Übrigen bei der Beklagten in der Tarifstufe PVB pflege- sowie krankenversichert. Der Versicherungsschutz umfasst nach den Tarifbedingungen der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Private Pflegeversicherung (MB/PPV) u.a. 20% für bei der Beihilfe berücksichtigungsfähige Kinder. Der 1992 in der 25. SSW geborene Sohn des Klägers ist schwerstbehindert. Er leidet nach einem frühkindlichen Hirnschaden mit infantiler Zerebralparese an Tetraparese mit hochgradiger Spastik, ausgeprägter Skoliose, Atheose, kompletter Harn- und Stuhlinkontinenz, Knochensporn im Steißbeinbereich, Hüftfehlstellung sowie einer globalen Entwicklungsverzögerung. Infolge dessen kann er sich nicht selbständig fortbewegen. Die Kommunikation erfolgt mittels eines augengesteuerten PCs. Seit dem Jahr 2000 ist Pflegestufe III mit einer erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz, seit März 2011 ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand anerkannt. Der Kläger und seine Ehefrau pflegen den Sohn im Wechsel mit zwei im Schichtdienst arbeitenden Pflegekräften.

Der Sohn wurde im Jahr 2004 mit dem Sitzschalen-Untergestell "Delfin" (bis 40 kg Körpergewicht) versorgt. 2010 wurde anteilig zu Lasten der Beklagten das Außen-Untergestell "Mika" angeschafft. Zudem verfügt der Sohn seit 2010 und 2011 über zwei Sitzsysteme nach Maß. Im November 2011 erfolgte die letzte Untersuchung durch die Gutachterin der N GmbH. In ihrem die Indikation für eine Rehabilitation verneinenden Gutachten vom 12.11.2014 berichtete Frau Dr. B von einer sich verstärkenden Skoliose, zunehmenden unwillkürlichen Schlagbewegungen und einem erhöhten Motivationsbedarf.

Mit Schreiben vom 30.6.2014 beantragte der Kläger die Versorgung seines Sohnes mit einem neuen Sitzschalen-Untergestell und einem neuen Sitzsystem für den Innenbereich. Da sich die Skoliose verschlechtert habe und sein Sohn gewachsen sei, sei eine Neuversorgung erforderlich. Er fügte zwei Kostenvoranschläge der Tri-O-Med GmbH vom 21.6.2014 (Sitzschalen-Untergestell "Franka" zu 2.479,28 Euro und Sitzsystem nach Maß für 4.481,67 Euro) bei. Während die zuständige Beihilfestelle am 2.2.2015 Kostenübernahme erklärte, lehnte die Beklagte die Leistungsgewährung mit der Begründung ab, der Sohn sei ausreichend mit Hilfsmitteln versorgt.

Mit seiner am 18.9.2014 erhobenen Klage hat der Kläger darauf hingewiesen, dass die Skoliose mittlerweile bei 80 Grad liege, sodass es zunehmend zu Druckstellen komme. Die Hydraulik des 2012 reparierten Sitzschalen-Untergestells "Delphin" halte der Gewichtsbelastung nicht mehr stand, weshalb es nicht mehr benutzt werde. Im Gegensatz dazu sei das Sitzschalen-Untergestell "Franka" auch in Höhe und Neigung individuell zu justieren, sodass sein Sohn damit alle Therapie- und Einrichtungsgegenstände erreichen könne. Mit dem derzeit ausschließlich genutzten Außengestell "Mika" komme er nur knapp durch alle Türen. Zudem ermögliche es nur entweder das Liegen oder das Sitzen, weitere Positionen seien nur umständlich mittels eines Schraubenschlüssels einzustellen, was im Alltag weder praktikabel noch zumutbar sei. Da das Modell "Franka" in Höhe und Neigung (-45 bis +45 Grad) variabel sei, könne sein Sohn seinen speziell angefertigten Waschtisch nutzen und zum Haarewaschen, Waschen oder Zähneputzen problemlos nach hinten oder vorne geneigt werden. Diese Funktion erleichtere auch die Nahrungsaufnahme, bei der er sich in gerader Position häufig verschlucke. Die Anschaffung eines neuen Sitzssystems sei unumgänglich, da die Pflegepersonen nicht jedes Mal die 30 kg schwere Sitzschale vom Außen- auf das Zimmer-Untergestell ummontieren könnten. Aus dem Sitzsystem für innen sei sein Sohn herausgewachsen. Die begehrten Hilfsmittel dienten vor allem der Erleichterung der Pflege, da die Pflegepersonen nur durch deren Einsatz in der Lage seien, jegliche Positionswechsel vorzunehmen ohne selbst unzumutbar schwer heben zu müssen. Daher seien sie als "Pflegerollstühle" unter das Hilfsmittelverzeichnis zu subsumieren. Der Kläger hat zu dem Sitzschalen-Untergestell eine Produktinformation der Firma Schuchmann zu den Akten gereicht.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihm für seinen schwerstbehinderten Sohn ein Sitzschalenuntergestell Typ "Franka" nach Maßgabe der beigezogenen Produktinformation der Firma Schuchmann sowie eine Sitzschale nach Maß für dieses Untergestell zur Verfügung zu stellen bzw. 20 % der Kosten einer Neuanschaffung zu übernehmen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage zurückzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, die begehrten Pflegehilfsmittel seien nicht in dem von ihr erstellten Verzeichnis für Pflegehilfsmittel, welches Bestandteil des Versicherungsvertrags sei, aufgeführt. Zudem dienten sie nicht der Erleichterung oder Ermöglichung der Pflege, sodass hier aus der gesetzlichen Pflegeversicherung kein Leistungsanspruch herzuleiten sei. Ein Anspruch auf eine Mehrfachversorgung bestehe nicht. Sie bestreite, dass der Sohn des Klägers aus der Sitzschale heraus gewachsen sei, da man ab dem 22. Lebensjahr nicht mehr wachse. Da es auf dem Markt Modelle gebe, die ausreichend verstellbar und sowohl für innen als auch außen verwendbar seien, benötige er auch kein zweites Untergestell.

Orthopäde Dr. L hat dem Sohn des Klägers am 21.1.2015 eine Sitzschale für das noch reparaturfähige Außen-Untergestell "Mika" verordnet und in einer Bescheinigung vom 24.1.2015 angegeben, die vorhandene Sitzschale passe nicht mehr, da der Sohn in den letzten Monaten 18 kg zugenommen habe. Am 27.3.2015 hat er die Notwendigkeit eines Sitzschalen-Untergestells nebst Sitzsystem für den Innenbereich bescheinigt. Die Beklagte hat eine krankenversicherungsrechtliche Leistungszusage (nur) für ein neues Außen-Sitzsystem erteilt. Der Kläger hat nach dessen Anschaffung ausgeführt, dass er dennoch für den Innenbereich ein weiteres System benötige, da das neue System für außen 35-40 kg wiege. Es sei ihm auch hier nicht zuzumuten, dieses jedes Mal für die Nutzung im Innenbereich draußen abzumontieren, seinen Sohn "zwischenzulagern", das System innen wieder aufzumontieren und seinen Sohn wieder auf das Sitzsystem zu heben.

Das Sozialgericht (SG) hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden und die Beklagte mit Urteil vom 6.6.2016 antragsgemäß verurteilt. Dass die streitgegenständlichen Hilfsmittel nicht im Pflegehilfsmittelverzeichnis der Beklagten aufgeführt seien, schließe deren Leistungspflicht nicht aus, da ein Vertrag der privaten Pflegeversicherung für Versicherungsnehmer und dessen familienversicherten Angehörigen nach §§ 23 Abs. 1 Satz 2 Elftes Buch Gesetzbuch (SGB XI) Vertragsleistungen vorsehen müsse, die nach Art und Umfang den Leistungen der §§ 28 bis 45 SGB XI gleichwertig seien. Eine Einschränkung der Leistungspflicht auf die in einem Verzeichnis aufgenommenen Pflegehilfsmittel sehe § 40 Abs. 1 SGB XI nicht vor, dieses könne grundsätzlich nur eine unverbindliche Auslegungshilfe darstellen (BSG, Urteil vom 15.11.2007 - B 3 P 9/06 R). Der Anspruch des Klägers ergebe sich auch schon aus § 4 Abs. 7 S. 1 2. HS MB/PVV. Denn es handele es sich bei dem Sitzschalen-Untergestell mit Sitzsystem um ein Pflegehilfsmittel, da es in erster Linie die Pflege erleichtere und nicht dem Behinderungsausgleich diene. Die stufenlose Verstellbarkeit des wendigen Untergestells erleichtere Körperpflege und Nahrungsaufnahme nachvollziehbar und vermeide eine übermäßige Belastung der Pflegeperson. Es liege keine Doppelversorgung vor, da das Außengestell weniger wendig und verstellbar und das vorhandene Innenuntergestell wegen der Gewichtszunahme nicht mehr einsetzbar sei. Da die in 2010 und 2011 erworbenen Sitzschalen nicht mehr passten und das neue Außen-Sitzsystem nur unter erheblichem Aufwand von dem Außen- auf das Innenuntergestell ummontiert werden könne, sei auch ein Sitzssystem für innen erforderlich. Dafür, dass es auf dem freien Markt Untergestelle gebe, die für den Sohn des Klägers innen und außen nutzbar seien, habe die Beklagte keinen Beweis angetreten.

Gegen das ihr nach eigenen Angaben am 20.7.2016 zugestellte Urteil hat die Beklagte am Montag, den 22.8.2016 Berufung eingelegt. Sie könne nicht zur Anschaffung eines bestimmten Hilfsmittels verurteilt werden, da es in ihrem Ermessen liege, das geeignete Hilfsmittel auszusuchen. Die Klage sei unbegründet, da schon anhand der Hilfsmittelnummer des Sitzschalen-Untergestells im Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherung erkennbar sei, dass dieses der Krankenversicherung zuzuordnen sei. Bereits ein Blick ins Hilfsmittelverzeichnis genüge, um zu erkennen, dass es zahllose innen und außen einsetzbare sowie auch Kombinations-Untergestelle auf dem Markt gebe. Bei letzterem könne auch das offenbar mühevolle Ummontieren und Umsetzen erspart werden. Möglicherweise habe hier das Sanitätshaus einen Beratungsfehler zu verantworten. Da der Kläger die Versorgung nunmehr schon seit Jahren wünsche, verwundere es, dass er sich die begehrten Hilfsmittel nicht schon längst selbst beschafft habe. Sie bestreite, dass das Sitzsystem "modular (x:panda Gr. 4)" das einzig für den Sohn des Klägers geeignete Sitzsystem sei. Da das Sitzsystem auch der Linderung der Beschwerden diene, sei es jedenfalls der Krankenversicherung zuzuordnen. Auch habe der Sachverständige die Kernfrage, warum nicht eines der 49 auf dem Markt erhältlichen Sitzschalen-Untergestelle für Innen und Außen für den Sohn nutzbar seien, nicht beantwortet. Daher sei ihr eine abschließende fachliche Beurteilung der Notwendigkeit eines zweiten Sitzschalen-Untergestells nicht möglich.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 6.6.2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 592,62 Euro für die Anschaffung eines Sitzschalen-Untergestells Typ "Franka, Gr. 2" sowie 1.555,33 Euro für die Anschaffung eines Sitzsystems "modular (x:panda Gr. 4)" zu zahlen.

Er nimmt auf sein bisheriges Vorbringen und das erstinstanzliche Urteil Bezug.

Der Senat hat das Gutachten der N GmbH vom 12.11.2014 beigezogen und den Pflegesachverständigen Herrn C nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat nach Untersuchung des Sohnes in dessen häuslicher Umgebung in seinem Gutachten vom 13.7.2017 ausgeführt, dass sich seit Antragstellung die Skoliose verschlechtert und die Hüftfehlstellung nach einer Hüftluxation im Jahr 2016 zugenommen habe. Der 1,60 cm große und 30 kg schwere Sohn besitze keinerlei Rumpfstabilität. Da die Hände keine Greif- und Haltefunktion hätten, sei wegen der plötzlich auftretenden ausschlagenden Bewegungsstörungen eine Fixierung in sitzender Position erforderlich. Nach den aktuell vorgelegten Kostenvoranschlägen der TRI-O-Med-GmbH vom 6.7.2017 koste das Sitzschalen-Untergestell "Franka" nunmehr 2.963,10 Euro. Das dazu im Jahr 2015 beantragte Sitzsystem sei wegen der Verschlechterung des Gesundheitszustands des Sohnes nicht mehr sinnvoll. Das nunmehr beantragte Sitzsystem "modular (x:panda Gr. 4)" koste 7.776,65 Euro. Der Techniker der TRI-O-MED-GmbH habe den Preisanstieg dadurch erklärt, dass derartige Sitzsysteme in Deutschland mittlerweile nur noch von einem einzigen Hersteller auf individuelle Anforderung hin angefertigt würden. Zudem seien neben der nicht auszuschließenden üblichen Preissteigerung wegen der gesundheitlichen Verschlechterungen aufwendigere Anforderungen an das Sitzsystem zu stellen. Denn durch die mittlerweile erheblichen Spastiken wirkten entsprechende Kräfte auf Untergestell und Sitzschale, was verschiedene Anbauteile, Fixiermöglichkeiten und Stützen erforderlich mache, die nur dieses Sitzsystem biete. Wegen der starken Verdrehung der Wirbelsäule und des Knochensporns im Steißbeinbereich seien zur Vermeidung eines Dekubitus körperangepasste Schaumstoff- und Vakuumpolster erforderlich. Aus fachpflegerischer Sicht sei das begehrte Sitzsystem zur Erleichterung der Pflege, zur Linderung der Beschwerden und zur Vermeidung einer drohenden Überforderung der Pflegeperson erforderlich, da andernfalls die nötige Stabilisierung des Rumpfes nicht gewährleistet sei und dann sämtliche Pflegemaßnahmen, die jetzt im Sitzen absolviert werden könnten, im Pflegebett durchgeführt werden müssten. Dann aber sei bei einer überwiegenden Bettlägerigkeit von einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands auszugehen. Das wie ein Rollstuhl wirkende Sitzschalen-Untergestell "Mika" habe hinten große Gummireifen und werde derzeit innen und außen genutzt, da das Modell "Delfin" nicht mehr funktioniere und der Sohn hierfür zu schwer sei. Diese Vorgehensweise versorge den Sohn des Klägers aber defizitär. Denn das mehrfach in der Woche erforderliche Ummontieren der vorhandenen Sitzschale sei umständlich, nicht völlig unkompliziert und zeit- und kraftaufwendig. Die Versorgung mit dem Sitzschalen-Untergestell "Franka", welches explizit für die Mobilität und Pflege von körperbehinderten Personen im Innenbereich entwickelt worden sei, sei daher zu bejahen, da sie die Pflege erheblich erleichtere und eine Überforderung der Pflegepersonen vermeide. Da diese Ziele nur erreichbar seien, wenn der Sohn des Klägers sowohl über das Sitzschalen-Untergestell "Franka" als auch das Sitzsystem "modular (x:panda Gr. 4)" verfüge, sei die Frage der Versorgung mit den beiden begehrten Hilfsmitteln nicht getrennt zu beantworten, sondern im Ganzen zu bejahen. Eine andere, gleich geeignete kostengünstigere Alternative sei ihm nicht bekannt. Die erhältlichen Sitzschalen-Untergestelle, die sowohl innen als auch außen einsetzbar seien, seien hier nicht geeignet. Denn bei Modellen mit kleinen Reifen fehle einerseits die nötige Stabilität. Andererseits werde der Sohn stärkeren Erschütterungen ausgesetzt, die zu zusätzlichen Spastiken führten. Auch sei der Transport über Barrieren und Stufen sowie bei wechselnder Witterung schwerer. Demgegenüber biete das Modell "Franka" wegen der kleinen Rollen eine hohe Wendigkeit in Pflegesituationen und bei verrichtungsbezogenen Wegstrecken. Durch die flexiblere Höhen- und Neigungsverstellbarkeit sei das Füttern nicht nur wie bisher im Stehen, sondern auch im Sitzen möglich. Gleiches gelte für die mehrmals täglich erforderlichen Inhalationen. Bei einem plötzlichen Verschlucken könne durch ein rasches Verstellen prompt reagiert werden. Da mit diesem Modell auch der spezielle Waschtisch unterfahren werden könne, werde auch die Körperpflege erleichtert. Der Gefahr eines Dekubitus werde durch die leicht zu ermöglichenden Lagerungswechsel vorgebeugt. Daher sei die begehrte Versorgung insgesamt nicht überflüssig, sondern im Rahmen einer ganz erheblichen Beeinträchtigung und Pflegesituation erforderlich.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten und die Unterlagen der Beklagten sowie die Vorprozessakte L 10 P 131/11, die alle Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Aachen, Urteil vom 06.06.2016 - S 5 P 99/14

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

Die Klage ist als reine Leistungsklage gem. § 54 Abs. 5 SGG statthaft. Denn die Beklagte ist als privates Versicherungsunternehmen nicht berechtigt, Verwaltungsakte zu erlassen. An der Auffassung, dass die Feststellungsklage nach § 55 SGG in diesen Fällen statthafte Klageart sei (so noch BSG, Urteil vom 10.11.2005 - B 3 P 10/04 R) hat das BSG nicht festgehalten (Urteil vom 6.9.2007 - B 3 P 3/06 R und vom 15.11.2007 - B 3 P 9/06 R; die Leistungsklage für statthaft erachtend auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.3.2015 - L 30 P 99/12, LSG Bayern, Urteil vom 7.11.2012 - L 2 P 66/11, LSG NRW, Urteil vom 23.5.2012 - L 10 P 1/11 und Hessisches LSG, Urteil vom 10.9.2009 - L 8 P 41/08).

Der Kläger ist aktivlegitimiert, da Leistungsansprüche aus dem Versicherungsvertrag allein ihm und nicht seinem Sohn als eigenes Recht zustehen. Dies ergibt sich aus dem Versicherungsvertrag i.V.m. § 192 Abs. 6 Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Aus der Aktivlegitimation folgt das prozessuale Recht des Klägers, den Anspruch zu Gunsten seines Sohnes in eigenem Namen geltend zu machen (siehe BSG, Urteil vom 13.5.2004 - B 3 P 7/03 R).

Indem der Kläger mit seinem zweitinstanzlichen Antrag anteilig die Kosten für die Anschaffung der nunmehr dem aktuellen Gesundheitszustand und Gewicht seines Sohnes angepassten Hilfsmittel "Franka, Gr. 2" zu 2.963,10 Euro und "modular (x:panda Gr. 4)" zu 7.776,65 Euro begehrt, trägt er einer nach Klageerhebung eingetretenen Veränderung Rechnung, sodass eine Klageänderung nicht vorliegt; § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG.

Die Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Zahlung von 20% der Anschaffungskosten, d.h. von 592,62 Euro für die Anschaffung eines Sitzschalen-Untergestells Typ "Franka, Gr. 2" sowie von 1.555,33 Euro für die Anschaffung eines Sitzsystems "modular (x:panda Gr. 4)".

Nach § 192 Abs. 6 VVG ist der Versicherer in der Pflegekrankenversicherung verpflichtet, im Fall der Pflegebedürftigkeit im vereinbarten Umfang die Aufwendungen für die Pflege der versicherten Person zu erstatten (Pflegekostenversicherung). Nach Satz 3 bleiben die Regelungen des Elften Buches Sozialgesetzbuch über die private Pflegeversicherung unberührt. Der Leistungsumfang der Pflegekostenversicherung richtet sich nach den im Versicherungsvertrag vereinbarten Konditionen. Nach § 4 Abs. 7 der MB/PPV (in der in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung von 2013 und ab dem 1.1.2017 geltenden Fassung) haben versicherte Personen gemäß Nr. 4 des Tarifs PV (Teil III der Tarifbedingungen) Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen für Pflegehilfsmittel oder deren leihweise Überlassung, wenn und soweit die Pflegehilfsmittel zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung von Beschwerden der versicherten Person beitragen oder ihr eine selbstständigere Lebensführung ermöglichen und die Versorgung notwendig ist. Nach Nr. 4 der Tarifbedingungen für die Tarifstufe PVB (in den Fassungen von 2013 und 2017) sind erstattungsfähig die Aufwendungen für die im Pflegehilfsmittelverzeichnis der privaten Pflegepflichtversicherung aufgeführten Pflegehilfsmittel (Satz 1). Im Einzelfall sind Aufwendungen für nicht im Pflegehilfsmittelverzeichnis aufgeführte Pflegehilfsmittel nur dann erstattungsfähig, wenn die Voraussetzungen in § 4 Abs. 7 Satz 1 2. Hs. erfüllt sind und die Pflegehilfsmittel nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind (Satz 3). Dabei können sie nur im Hinblick auf solche Betätigungen beansprucht werden, die für die Lebensführung im häuslichen Umfeld erforderlich sind (Satz 4). Von der Erstattung aus der Pflegeversicherung ausgeschlossen sind Pflegehilfsmittel, die nicht alleine oder jedenfalls schwerpunktmäßig der Pflege, sondern vorwiegend dem Behinderungsausgleich dienen (Satz 5).

Im Pflege-/Hilfsmittelverzeichnis der privaten Pflegepflichtversicherung Pflegepflichtversicherung (Stand 2015) findet sich weder das Sitzschalen-Untergestell Typ "Franka, Gr. 2" noch das Sitzsystems "modular (x:panda Gr. 4)". Dort sind als Pflegehilfsmittel zu Erleichterung der Pflege lediglich Rollstühle mit Sitzkantelung (1.6) oder als Pflegehilfsmittel zur Linderung von Beschwerden die Sitzhilfen aus Weichlagerungsmaterialien (4.3) aufgeführt. Die streitgegenständlichen Pflegehilfsmittel sind auf Grund ihrer umfangreicheren Ausstattung und Einsatzbereiche nicht damit zu vergleichen, sodass ein Anspruch nach Nr. 4 Satz 1 der Tarifbedingungen ausscheidet.

Zu Unrecht geht die Beklagte noch von der vor 2010 geltenden Rechtslage aus und meint, ihre Leistungspflicht erstrecke sich nie auf nicht im Pflegehilfsmittelverzeichnis aufgeführte Hilfsmittel. Denn entgegen der vor 2010 geltenden MB/PVV, die beispielsweise noch Grundlage der Entscheidungen des BSG vom 10.11.2005 und 6.9.2007 (a.a.O.) waren, und in denen das BSG einen Anspruch aus §§ 23 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. 40 Abs. 1 SGB XI geprüft hat, sehen die hier anwendbaren Fassungen der MB/PVV ausdrücklich im Einzelfall auch einen Anspruch auf nicht im Pflegehilfsmittelverzeichnis genannte Hilfsmittel vor. Damit sind die MB/PVV im Wesentlichen den Regelungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2 und 40 Abs. 1 Satz 1 XI angepasst worden. Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XI (in der ab dem 1.1.2017 geltenden Fassung) muss der private Pflegeversicherungsvertrag ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Versicherungspflicht für die Versicherten und ihre Angehörigen oder Lebenspartner, für die in der sozialen Pflegeversicherung nach § 25 eine Familienversicherung bestünde, Vertragsleistungen vorsehen, die nach Art und Umfang den Leistungen des Vierten Kapitels gleichwertig sind. Gem. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB XI haben Pflegebedürftige der sozialen Pflegeversicherung Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbstständigere Lebensführung ermöglichen, soweit die Hilfsmittel nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind.

Im vorliegenden Fall ergibt sich der Anspruch des Klägers bereits aus § 4 Abs. 7 Satz 1 2.Hs MB/PPV i.V.m. Nr. 4 Satz 3 der Versicherungsbedingungen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht für den Senat fest, dass sowohl das begehrte Sitzschalen-Untergestell als auch das Sitzsystem jedenfalls die Pflege des Sohnes erleichtern und dessen Beschwerden lindern. Nach den Ausführungen des Sachverständigen C ist das Sitzschalen-Untergestell erforderlich, da es über eine flexible Höhenverstellbarkeit und Neigungsfunktion verfügt. Dadurch ist es den Pflegepersonen möglich, den Sohn auch im Sitzen zu füttern oder mit ihm zu inhalieren, ihn in der Wohnung verrichtungsbezogen fortzubewegen und ihn bei der Körperpflege an das spezielle Waschbecken zu führen. Zudem kann auf das häufig vorkommende Verschlucken prompt durch einen Positionswechsel reagiert werden. Der Dekubitusgefahr wird durch ein flexibles Einnehmen von Positionen entgegengetreten. Wegen der mittlerweile erheblichen Spastiken ist eine Fixierung des Sohnes auf einem speziell angepassten Sitzsystem erforderlich, damit Körperpflege und Ernährung auch im Sitzen erfolgen könnten. Die Polsterung ist erforderlich, um einem wegen der Wirbelsäulenverdrehung und des Knochensporns drohenden Dekubitus vorzubeugen.

Die Versorgung mit den streitgegenständlichen Hilfsmitteln ist auch notwendig. Es liegt insbesondere keine Zweitversorgung vor. Denn der Sohn verfügt über kein für den Innenbereich einsetzbares, ihn ausreichend versorgendes Sitzschalen-Untergestell. Das Sitzschalenuntergestell "Delfin" ist technisch nicht mehr einwandfrei und für das Gewicht des Sohnes mit Sitzschale nicht mehr ausgelegt. Das noch funktionsfähige Außengestell "Mika" ist nach den Feststellungen des Sachverständigen C wegen der nur sehr eingeschränkten Höhen- und Neigungsverstellbarkeit nicht geeignet, den Sohn für die innerhäuslichen Bedürfnisse zu versorgen. So kann er nur im Stehen gefüttert und beim Inhalieren unterstützt und nicht an den Waschtisch herangefahren werden. Die vorhandene Sitzschale für den Innenbereich passt nicht mehr. Die für das Außengestell "Mika" 2015 unter Kostenbeteiligung der Beklagten neu angeschaffte schwere Sitzschale ist nur unter einem für die Pflegekräfte unzumutbar hohen Zeit- und Kraftaufwand von dem Außen- auf das Untergestell umzumontieren. Die Ausstattung der individuell anzupassenden Sitzschale mit einer besonderen Polsterung, Halte- und Stützvorrichtungen sowie speziellen Anbauten ist - auch im Verhältnis zu dem noch im Rahmen des Klageverfahrens begehrten Modells - auf Grund der Verschlechterung des Gesundheitszustands und des Wachstums des Sohnes notwendig. Der Sachverständige C hat zudem festgestellt, dass die erforderliche Versorgung nicht durch ein Kombinationsmodell für innen und außen möglich ist. Denn der Sohn setzt einerseits durch seine Spastiken erhebliche Kräfte frei, die mit einem besonders stabilen Modell aufgefangen werden müssen. Andererseits führt eine zu kleine Bereifung, die die erforderliche Wendigkeit im Innenbereich gewährleistet, im Außenbereich zu unbedingt zu vermeidenden Erschütterungen und Unsicherheiten. Mit dem Einwand der Beklagten, es gebe doch sicher unter den 49 auf dem Markt befindlichen Kombinationsmodellen ein für den Kläger geeignetes, setzt sich der Senat nicht näher auseinander, da der Vortrag weder substantiiert noch etwa medizinisch durch ein sich mit der Thematik auseinandersetzendes Gutachten beispielsweise der Gutachterin der N GmbH untermauert wurde.

Im vorliegenden Fall ist das Sitzschalen-Untergestell Typ "Franka, Gr. 2" und das Sitzsystem "modular (x:panda Gr. 4)" nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung zu leisten (Nr. 4 Satz 3 der Tarifbedingungen). Der Senat kann die Abgrenzung zwischen privater Kranken- und Pflegeversicherung nicht dahin stehen lassen, obschon die Beklagte hier auch Trägerin der privaten Krankenversicherung des Klägers ist. Denn im Sozialrechtsweg kann auch dann nicht über Ansprüche aus einer privaten Krankenversicherung, für die im Streitfall die Zivilgerichte zuständig sind, entschieden werden, wenn über die Kostentragung für ein Hilfsmittel nur entweder der Träger der Kranken- oder der der Pflegeversicherung zuständig ist (BSG, Urteil vom 6.9.2007 - B 3 P 3/06 R -). Grundsätzlich macht der Umstand, dass ein Hilfsmittel die Pflege erleichtert, es noch nicht zu einem Hilfsmittel der Pflegeversicherung, weil diese Eigenschaft mehr oder weniger allen Hilfsmitteln zukommt, die dem Behinderungsausgleich dienen und deshalb als Hilfsmittel von der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 33 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) zu leisten sind (st.Rspr. des BSG, vgl. BSG SozR 2200 § 182b Nr 9; BSGE 51, 268, 271 = SozR 2200 § 182b Nr. 20; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 7; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 13; ferner Gaßner/Schottky, NZS 2005, 523, 527). Um ein reines Pflegehilfsmittel, das der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zugerechnet werden kann, handelt es sich im Regelfall nur dann, wenn es im konkreten Fall allein oder doch jedenfalls schwerpunktmäßig der Erleichterung der Pflege dient (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 47; SozR 4-2500 § 33 Nr. 5). Ist jedoch im Einzelfall eine krankenversicherungsrechtliche Rehabilitation gar nicht mehr möglich, weil der Betroffene so stark in Lebensführung und Selbstbestimmung eingeschränkt ist, dass er gleichsam zum "Objekt der Pflege" geworden ist, ist von vorneherein die Pflegeversicherung einstandspflichtig, sodass es auf eine Abgrenzung nicht mehr ankommt (BSG, Urteil vom 22.7.2004 - B 3 KR 5/03 R; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20.8.2015 - L 15 P 15/15; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.8.2014 - L 4 P 4137/13). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Denn der Sohn des Klägers ist bei außergewöhnlich hohem Pflegeaufwand schwerstpflegebedürftig und erheblich in seiner Alltagskompetenz eingeschränkt. Seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten sind auf ein Minimum beschränkt, dieser Zustand ist - wie es auch Dr. B schon in ihrem Gutachten vom 12.11.2014 ausführt - keiner Rehabilitation mehr zugänglich.

Da der Sohn des Klägers die begehrten Hilfsmittel ausschließlich für seine Lebensführung im häuslichen Umfeld benötigt, sind die Voraussetzungen einer Leistungsgewährung nach den Versicherungsbedingungen erfüllt.

Anhaltspunkte dafür, dass die begehrte Versorgung unwirtschaftlich ist, liegen dem Senat nicht vor. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass ihm gleich geeignete, aber günstigere Hilfsmittel nicht bekannt seien. Dass die Beklagte hier pauschal bestreitet, dass die Hilfsmittel auch günstiger zu beschaffen seien, reicht nicht aus, Zweifel an den umfangreichen Feststellungen des Sachverständigen zu begründen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht; § 160 Abs. 2 SGG.

Referenznummer:

R/R7689


Informationsstand: 31.07.2018