Urteil
Krankenversicherung - orthopädischer Bürostuhl - Hilfsmittel

Gericht:

LSG Celle 4. Senat


Aktenzeichen:

L 4 Kr 129/94


Urteil vom:

24.05.1995


Grundlage:

Orientierungssatz:

1. Ein orthopädischer Bürostuhl ist kein erforderliches Hilfsmittel iS des § 33 Abs 1 S 1 SGB 5.

Fundstelle:

Bibliothek BSG

Diese Entscheidung wird zitiert von:

LSG Celle 1999-04-21 L 4 KR 121/97 Abgrenzung

Rechtsweg:

SG Braunschweig Urteil vom 22.06.1994 - S 6 Kr 24/93

Quelle:

JURIS-GmbH

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Kostenerstattung für zwei Arbeitsstühle.

Der 1949 geborene Kläger beantragte mit Schreiben vom 29. August 1992 bei der Beklagten die Gewährung von zwei orthopädischen Bürostühlen und eine "elektronische Schreibhilfe". Er wies darauf hin, daß das Sozialamt eine Kostenübernahme abgelehnt habe. Dem Antrag des Klägers war in Fotokopie eine Bescheinigung der Ärzte Dres. B/S, B (ohne Datum), beigefügt, wonach der Kläger an einem wiederkehrenden Wirbelsäulensyndrom leide und ärztlicherseits die Benutzung eines geeigneten (orthopädischen) Stuhles erforderlich sei.

Mit Bescheid vom 1. September 1992 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab, da die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse nicht gegeben sei. Mit Schreiben vom 20. Oktober 1992 wies der Kläger auf die Beschaffenheit der von ihm ausgewählten Arbeitsstühle hin. Da er bei seiner Arbeit eine größere Tischfläche bedienen müsse und häufiger Verdrehung bei starrem Stuhl ausgesetzt sei, sei eine sitzdynamische Einrichtung zur dynamischen Körperausrichtung unverzichtbar, da sonst weitere Wirbelsäulenschäden drohten. Der Kläger legte jeweils in Fotokopie einen Befundbericht des Arztes für Orthopädie B (15. Oktober 1992) und den Bescheid des Sozialamtes der Stadt B vom 25. September 1992 vor. Mit Bescheid vom 21. Oktober 1992 wies die Beklagte den Kläger darauf hin, daß die von ihm beantragten Bürodrehstühle nicht als "Hilfsmittel" anzusehen seien und es handele sich bei ihnen um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. Mit weiterem Bescheid vom 30. Oktober 1992 bestätigte die Beklagte ihre Auffassung. Der Kläger entgegnete mit Schreiben vom 4. November 1992 an die Beklagte, die Stühle seien Ausstattung seiner Arbeitsplätze als Künstler -- Maler, Graphiker, Textarbeit und demnächst EDV-Arbeit --. Der Arbeitsplatz in seiner Wohnung befinde sich in einer ergonomisch ungeeigneten Ausstattung. Er benötige die Stühle, um seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten und zu bessern und um weiterer Schädigung vorbeugend entgegenzuwirken. Mit Schreiben vom 15. Dezember 1992 mahnte der Kläger eine positive Entscheidung über den Leistungsantrag bei der Beklagten an und legte ua zwei weitere Bescheinigungen seiner behandelnden Ärzte Dres. B/S vom 21. September 1992 und vom 23. November 1992 vor. Die Widerspruchsstelle der Beklagten entschied mit Widerspruchsbescheid vom 5. März 1993, daß die beantragten Bürostühle nicht erforderlich seien, um eine körperliche Behinderung auszugleichen, sondern sie dienten ausschließlich zur Ausübung der freiberuflichen Tätigkeit des Klägers. Es handele sich damit nicht um eine Leistung, für die die Beklagte einzustehen habe.

Der Kläger hat am 7. April 1993 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben. Zur Begründung hat er im wesentlichen ausgeführt, die entsprechenden Stühle seien von seinen behandelnden Ärzten Dr. B und Dr. B verordnet worden. Die Stühle setzten unmittelbar bei den durch Krankheit oder Behinderung drohenden Funktionsausfällen an, sie sollen ein Funktionsdefizit kompensieren und drohenden weiteren Schäden vorbeugen. Es habe sich gezeigt, daß die Schmerzzustände aus Überlastung in ungeeigneter Situation bis zu 100 % Arbeitsausfall bewirkten, da die Schmerzen die nervös-feinmotorisch besonders sensible Arbeit als Zeichner unmöglich machten. Die Funktion des Sitzens sei für seine Tätigkeit sehr wesentlich. Um die Arbeits- und Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, müsse er auf einer optimal der Erkrankung angepaßten Sitzsituation bestehen.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22. Juni 1994 abgewiesen, da die Klage wegen Versäumnis der Klagefrist unzulässig sei. Im vorliegenden Fall sei der Widerspruchsbescheid dem Kläger per (SGG).

Die gemäß §§ 143 ff SGG statthafte Berufung ist formsowie fristgerecht eingelegt worden und damit zulässig.

Die Berufung ist aber nicht begründet.

Die Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig, denn es handelt sich bei den vom Kläger beantragten orthopädischen Bürostühlen nicht um ein erforderliches Hilfsmittel im Sinne der Vorschrift des § 33 Sozialgesetzbuch -- Gesetzliche Krankenversicherung -- SGB V --.

Dabei ist entgegen der Auffassung des SG und der Beklagten die am 7. April 1993 erhobene Klage des Klägers gegen den Widerspruchsbescheid noch innerhalb der gesetzlichen Frist gemäß § 87 Abs 1 SGG erhoben worden und damit nicht unzulässig gewesen. Die nach dem Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) zu erfolgende Zustellung des Widerspruchsbescheides (§§ 85 Abs 3 iVm § 63 Abs 2 SGG) war entsprechend § 4 des VwZG nicht mit dem tatsächlichen Empfang des Widerspruchsbescheides laut Rückschein am 6. März 1993 erfolgt, sondern nach der gesetzlichen Fiktion des § 4 Abs 1 VwZG erst mit dem dritten Tag nach der Aufgabe des Widerspruchsbescheides bei der Post. Der Tag der Aufgabe des Widerspruchsbescheides ist von der Beklagten in der Verwaltungsakte nicht festgehalten worden. Nach dem Eingang des Bescheides, nachgewiesen durch den Rückschein, am 6. März 1993 beim Kläger ist jedoch davon auszugehen, daß die Aufgabe am 5. März 1993, dem Tag der Abfassung des Widerspruchsbescheides, erfolgte. Der Brief gilt damit mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, das war der 8. März 1993, so daß die am 9. März 1993 beginnende und am 8. April 1993 endende Klagefrist (§ 64 Abs 1 SGG) vom Kläger eingehalten wurde. Es ist allgemein anerkannt, daß die Zustellungsvermutung des § 4 Abs 1 VwZG auch dann gilt, wenn die Sendung in weniger als drei Tagen zugegangen ist, insbesondere auch, wenn wie hier, auf dem Rückschein ein früherer Zeitpunkt vermerkt ist (vgl Engelhardt, Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz/VwZG, Kommentar, 3. Aufl, § 4 VwZG Anm 5 unter Hinweis auf BVerwGE 22, 11; BFHE 87, 542).

Dem Rechtsmittel bleibt jedoch der Erfolg versagt, da es sich bei den orthopädischen Arbeitsstühlen nicht um ein erforderliches Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V handelt.

Versicherte haben im Rahmen der Krankenbehandlung (vgl § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V) ua Anspruch auf Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit es sich nicht um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGB V). Die durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG) eingeführte gesetzliche Regelung des § 33 SGB V stimmt mit der früheren Vorschrift des § 182 b Abs 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) wortgleich überein, so daß die hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch für das neue Recht anzuwenden ist (vgl BSG, Urteil vom 8. Juni 1994 -- 3/1 RK 13/93 --, S 5).

Der orthopädische Arbeitsstuhl ist kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Darunter fallen die Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendbar, dh üblicherweise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig benutzt werden (BSG, ebda. unter Hinweis auf BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 5; SozR 2200 § 182 b Nr 6). Dem steht nicht entgegen, daß auch Personen, die nicht an einer Erkrankung des Skelettsystems leiden, zunehmend auf Stühle mit wirbelsäulenunterstützender Funktion zurückgreifen.

Der Arbeitsstuhl ist jedoch nicht erforderlich im Sinne des § 33 SGB V. Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung des BSG erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen ist dabei auch ein gewisser körperlicher und geistiger Freiraum zu rechnen, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfaßt (BSG, Urteil vom 8. Juni 1994, aaO unter Bezugnahme auf BSGE 66, 245, 246 = SozR 3-2500 § 33 Nr 1 sowie SozR 2200 § 182 Nrn 12, 29, 33, 34 und 37). Hilfsmittel, die dazu dienen, lediglich die Folgen und Auswirkungen der Behinderung in den verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere auf beruflichem, wirtschaftlichem und privatem Gebiet, zu beseitigen oder zu mildern, müssen die gesetzlichen Krankenkassen jedoch nicht zur Verfügung stellen (BSGE 50, 77, 78 = SozR 2200 § 182 b Nr 17). Der Begriff der Erforderlichkeit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne ist inhaltlich enger als iSd § 13 Bundesversorgungsgesetz (BVG) (BSG, SozR 2200 § 182 b Nr 30 und 3100 § 1300 Nr 6) und iSd § 40 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) iVm §§ 9 und 10 Eingliederungshilfe-VO. Das Versorgungsrecht und das Sozialhilferecht gleichen nämlich -- im Gegensatz zum Krankenversicherungsrecht -- auch die Nachteile aus, die aufgrund einer Behinderung in unterschiedlichen Lebensbereichen auftreten (BSG SozR 2200 § 182 b Nr 30). In diesem Zusammenhang ist auf die individuellen Verhältnisse des Betroffenen abzustellen, da § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V die Erforderlichkeit des Hilfsmittels "im Einzelfall" verlangt (BSG, Urteil vom 8. Juni 1994, aaO unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG zu § 182 b RVO (BSG SozR 2200 § 182 b Nr 30 und 37)).

In diesem Sinne erweist sich die Versorgung des Klägers mit orthopädischen Arbeitsplatzstühlen als nicht erforderlich bzw nicht notwendig. Ob eine Leistung "notwendig" ist, muß anhand ihres Zwecks (§ 11 Abse 1, 2, § 27 Satz 1 SGB V) bestimmt werden, der vor allem in der Erkennung und Heilung einer Krankheit, in der Verhütung einer Verschlimmerung und der Linderung von Krankheitsbeschwerden liegen kann. Insbesondere bei behinderungsbedingten Funktionsausfällen beschränkt sich der Leistungszweck auf den Ausgleich der Behinderung oder sonstige Auswirkungen im Rahmen eines elementaren Lebensbedürfnisses. Allgemein gesellschaftliche, berufliche oder private Nachteile werden nicht erfaßt (BSG SozR 2200 § 182 RVO Nr 93 mwN; Höfler, in Kasseler Kommentar § 12 SGB V Rdn 9). Die Arbeitsstühle werden hier vom Kläger, wie auch die Beklagte zutreffend in ihrem Widerspruchsbescheid ausgeführt hat, ausschließlich zur Ausübung seiner freiberuflichen künstlerischen Tätigkeit eingesetzt. Der Kläger hat seine e dient den besonderen beruflichen Interessen des Klägers, womit die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht begründet wird (vgl BSG SozR 2200 § 182 b Nr 30).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und Abs 4 SGG.

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden.

Referenznummer:

KSRE062731117


Informationsstand: 06.03.2000