II.
Der Vorsitzende konnte aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten als Berichterstatter allein entscheiden (§ 155 Abs 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)).
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Kläger kann von der Beklagten die vorläufige Kostenübernahme bzw Gewährung einer zweiten Sitzschale nicht verlangen. Der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg war daher abzuändern und der Antrag insgesamt abzuweisen.
Gegenstand des Rechtsstreits im Beschwerderechtszug ist die vom Sozialgericht zuerkannte Zweitversorgung des Antragstellers mit einer weiteren passgerechten Sitzschale. Der Antragsteller erhebt Anspruch auf eine solche Doppelversorgung. Dies folgt daraus, dass er unmittelbar nach der Gewährung einer passgerechten Versorgung im November 2007 unter Berufung auf die ärztliche Verordnung der Sitzschale vom 22. Januar 2008 eine erneute Versorgung gefordert hat und daran auch nach einer weiteren Neuversorgung im November 2009 festhält. Ob die Verordnung vom 22. Januar 2008 tatsächlich auf eine Doppelversorgung gerichtet oder aber in Unkenntnis der unmittelbar zuvor erfolgten Versorgung ausgestellt wurde, ist dabei unerheblich. Denn der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung setzt keine ärztliche Verordnung des Hilfsmittels voraus (st Rspr seit
BSG 16. September 1999 -
B 3 KR 1/99 R, BSGE 84, 266).
1. Gemäß § 86b Abs 2 Satz 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach Abs 2 Satz 2 der Norm auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Da der Antragsteller in erster Linie geltend macht, dass ihm ohne die einstweilige Anordnung wesentliche Nachteile drohen, handelt es sich um eine Regelungsanordnung iSv § 86b Abs 2 Satz 2
SGG. Diese kann vom Gericht erlassen werden, wenn der Antragsteller glaubhaft macht (§ 86b Abs 2 Satz 4
SGG iVm § 920
ZPO), dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber der
AG besteht (Anordnungsanspruch) und dass er ohne den Erlass der begehrten Anordnung, insbesondere bei Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache, wesentliche Nachteile iSv § 86b Abs 2 Satz 2
SGG erleiden würde.
Die in tatsächlicher (Glaubhaftmachung) wie in rechtlicher Hinsicht (summarische Prüfung) herabgesetzten Anforderungen für die Annahme eines Anordnungsanspruchs korrespondieren dabei mit dem Gewicht der glaubhaft zu machenden wesentlichen Nachteile. Drohen im Einzelfall ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (st Rspr, vgl Bundesverfassungsgericht (
BVerfG) vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237).
2. In Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das Begehren des Antragstellers als unbegründet. Der Antragsteller kann von der Antragsgegnerin die vorläufige Gewährung einer zweiten Sitzschale oder die vorläufige Kostenübernahme hierfür nicht verlangen. Es fehlt an einem Verfügungsanspruch (dazu a). Auch eine Folgenabwägung führt zu keinem anderen Ergebnis (dazu b).
a. Ein Anspruch auf Versorgung mit einer zweiten Sitzschale besteht nicht.
aa. Als Rechtsgrundlage aus der gesetzlichen Krankenversicherung kommt allein
§ 33 Abs 1 SGB V in Betracht. Nach Satz 1 dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um unter anderem eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach
§ 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Der mittelbare Ausgleich einer Behinderung durch die
GKV, der nicht eine verlorene Körperfunktion unmittelbar ersetzen soll, ist nur auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens ausgerichtet und nicht auf eine völlige Gleichstellung mit den Möglichkeiten eines nicht behinderten Menschen; weitergehende Ansprüche auf Teilhabe können sich nur aus anderen Leistungsgesetzen ergeben. Zum (mittelbaren) Ausgleich einer Gehunfähigkeit genügt es danach grundsätzlich, dem Versicherten zur Befriedigung seines Grundbedürfnisses auf Mobilität die Erschließung eines Nahbereichs um seine Wohnung herum zu ermöglichen. Ausnahmsweise ist allerdings ua bei gehunfähigen Versicherten, die der allgemeinen Schulpflicht unterliegen, ein Grundbedürfnis an Mobilität über den Nahbereich hinaus anzuerkennen. Insoweit umfasst die Verantwortung der gesetzlichen Krankenversicherung (
GKV) im Rahmen der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses auch die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers
bzw. den Erwerb einer elementaren Schulausbildung (vgl zuletzt
BSG vom 20. November 2008 -
B 3 KR 16/08 R, Juris).
Lässt sich daher ein allgemeines Grundbedürfnis (hier die Schulausbildung) nur durch Gewährung einer zweiten Sitzschale befriedigen, kann ein entsprechender Anspruch aus der
GKV bestehen (vgl zum Besuch eines Kindergartens SG Würzburg 13. April 2010 -
S 4 KR 426/08, Juris). Dem steht nicht entgegen, dass nach Nr 21 der Hilfsmittelrichtlinie (vom 17.2.1992, zuletzt geändert am 19.10.2004) in der
GKV eine Mehrfachausstattung mit Hilfsmitteln nur dann verordnet werden kann, wenn dies aus hygienischen Gründen notwendig oder aufgrund der besonderen Beanspruchung durch den Versicherten zweckmäßig und wirtschaftlich ist. Zwar kann der Kläger sein Begehren weder auf hygienische Gründe noch auf eine besondere Beanspruchung des Hilfsmittels in diesem Sinne stützen. Auch kommt den Richtlinien grundsätzlich Normqualität in dem Sinne zu, dass sie nicht nur innerhalb des Leistungserbringer-, sondern auch innerhalb des Leistungsrechts zu beachten sind (
BSG 16. September 1997, SozR 3-2500 § 92 Nr 7; Anderes gilt für das Hilfsmittelverzeichnis, das für die Gerichte nur die Rechtsqualität einer unverbindlichen Auslegungshilfe hat (
BSG 25.06.2009 -
B 3 KR 4/08 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 26, Rn 9 in Juris)). Die Richtlinien können aber nicht gesetzlich begründete Ansprüche beschneiden. Eine Mehrfachausstattung mit Hilfsmitteln ist daher grundsätzlich möglich, wenn nur auf diese Weise der Behinderungsausgleich im Sinne des § 33
Abs. 1 Satz 1
SGB V erreicht werden kann (ebenso SG Karlsruhe 8. August 2007 -
S 5 KR 5364/06, Juris, unter Hinweis auf Berstermann in: Peters, Hdb. der Krankenversicherung, § 33 Rn 68 sowie
BSG 6. Februar 1997 -
3 RK 1/96, SozR 3-2500 § 33
Nr. 22; vgl auch
BSG 22. Juli 1981, SozR 2200 § 182
Nr. 73 = Sportbrille).
Der Anspruch auf Hilfsmittelgewährung unterliegt allgemein dem Wirtschaftlichkeitsgebot des
§ 12 Abs 1 SGB V. Danach müssen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
bb. Danach kann der Antragsteller die Versorgung mit einer zweiten Sitzschale nicht beanspruchen.
Zwar besucht er die Förderschule und unterliegt gemäß §§ 39, 40 Schulgesetz (SchulG) Sachsen-Anhalt noch auf Jahre der Schulpflicht. Das hat die Antragsgegnerin im Rahmen des Behinderungsausgleichs in Bezug auf das allgemeine Grundbedürfnis nach Mobilität zu berücksichtigen. Doch würde eine Doppelversorgung mit einer Sitzschale im vorliegenden Fall das Maß des Notwendigen überschreiten. Der Antragsteller ist auch ohne dieses Hilfsmittel in der Lage, die Schule in H. zu besuchen. Denn er ist seit November 2009 mit einer passgerechten Sitzschale nebst Untergestell versorgt. Darüber hinaus ist die Antragsgegnerin bereit, ein passendes zweites Untergestell zur Verfügung zu stellen, damit der Antragsteller die Sitzschale sowohl zu Hause als auch in der Schule verwenden kann, ohne außerdem das Untergestell bei den Schulfahrten mitführen zu müssen. Die Kosten hierfür (ca 1.000,00
EUR) sind deutlich niedriger als für eine zweite Sitzschale (ca 3.650,00
EUR). Das fällt umso mehr ins Gewicht, als mit weiterem Wachstum des heute elfjährigen Antragstellers und entsprechendem Anpassungsbedarf für die Sitzschale zu rechnen ist.
Der Schulbesuch wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Antragsteller nur über eine passgerechte Sitzschale verfügt. Es ist gewährleistet, dass der Antragsteller, solange er noch für die Schulfahrten in einen besonderen Kindersitz umgesetzt werden kann, sowohl zu Hause als auch in der Schule in der passgerechten Schale sitzen kann. Der Transport der Sitzschale auf den Schulfahrten sowie ihre jeweilige Demontage und Montage auf die Untergestelle sind möglich und vom Landkreis Börde zu leisten (im Ergebnis ebenso SG Gelsenkirchen 28. August 2003 -
S 17 KR 67/03, Juris). Sollte der Antragsteller - etwa aufgrund eines höheren Körpergewichts - in absehbarer Zeit nicht mehr umgesetzt werden können und auch während des Transportes in der Sitzschale verbleiben müssen, wird der Landkreis ggfs für den vollständigen Transport des Antragstellers in seiner Sitzschale auf dem Untergestell sorgen müssen (vgl dazu
BSG 20.11.2008 -
B 3 KR 16/08 R, Juris - Kraftknoten).
Gemäß § 71 Abs 2 SchulG Sachsen-Anhalt haben die Landkreise und kreisfreien Städte als Träger der Schülerbeförderung die in ihrem Gebiet wohnenden Schülerinnen und Schüler ua der Förderschulen unter zumutbaren Bedingungen zur Schule zu befördern oder ihren Erziehungsberechtigten die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten. Kann ein Schüler - wie hier der Kläger - nicht gehen, stehen, sitzen, sich aufrichten, drehen oder krabbeln, und ist er deshalb dauernd auf eine individuell geformte Sitzschale angewiesen, ist darauf im Rahmen der Schülerbeförderung Rücksicht zu nehmen. Das gilt auch, wenn der Schüler - wegen seines noch geringen Gewichts - kurzzeitig für den Transport in einen Kindersitz und danach wieder in die Sitzschale umgesetzt kann. In diesem Fall ist die Mitführung der Sitzschale integraler Bestandteil einer Schülerbeförderung "unter zumutbaren Bedingungen". Der Schüler ist nahezu ständig auf die Sitz- und Beförderungshilfe angewiesen. Er kann nicht darauf verwiesen werden, dass er nur zur Vermeidung der Mitführung des Hilfsmittels jeweils am Start- und Endpunkt der Fahrt die für seine Person individuell geformte und unverzichtbare Sitzschale vorhalten müsse. Dies bestätigt der Landkreis B. in seiner Stellungnahme vom 18. September 2009. Danach umfassen die von ihm ausgelösten Aufträge zur Beförderung an Förderschulen immer die Mitnahme der für den Schüler erforderlichen Hilfsmittel (Rollstuhl etc).
Das gilt insbesondere in Ansehung des damit verbundenen nur geringfügigen Mehraufwandes beim Transport. Die Sitzschale wiegt nach Auskunft der Firma r. t. M.
GmbH vom 13. August 2009 ca 12
kg und kann mit geringem Aufwand in ca zwei Minuten montiert/demontiert werden. Davon hat sich der Berichterstatter im Erörterungstermin durch Inaugenscheinnahme des Trapezadapters, der bei der Montage durch bloßes Aufschieben und Einschnappen und bei der Demontage durch einfaches Entriegeln und Abziehen funktioniert, überzeugt. Hilfsmittel sind für diese Verrichtung nicht erforderlich; ein Mehraufwand im Vergleich zu dem vom DRK auch sonst auszuführenden Auf- und Abbau von Rollstühlen ist nicht erkennbar. Die Gefahr einer Beschädigung des Transportfahrzeuges durch scharfkantige Metallteile an der Sitzschale, die das DRK angeführt hat, erscheint vernachlässigenswert. Ihr kann durch entsprechende Schutzbeläge und sachgerechte Handhabung ohne weiteres begegnet werden. Für ein ausreichend dimensioniertes Transportfahrzeug hat der Landkreis bzw sein Auftragnehmer, das DRK, Sorge zu tragen.
Auch die Montage/Demontage der Sitzschale fällt in den Verantwortungsbereich des Landkreises und nicht - wie dieser meint - in den Verantwortungsbereich der Familie des Antragstellers. Der Vorgang ist, wie dargestellt, von einfacher Art und erfordert nur einen geringen Zeitaufwand. In Anbetracht der allein bei der Umsetzung des Antragstellers, die auch bei einer Doppelversorgung anfällt, aufzuwendenden Kräfte handelt es sich bei der Montage/Demontage der ca 12
kg schweren Sitzschale daher insgesamt um einen eher vernachlässigenswerten Aufwand. Sollte der Landkreis diesen aber scheuen, etwa weil das DRK aus haftungsrechtlichen Gründen wegen der Probleme bei der Einweisung seines wechselnden Personals eine Montage/Demontage ablehnt (vgl dessen Schreiben vom 2. September 2009), wird er ggfs für den Transport der Sitzschale auf dem Untergestell sorgen müssen. Den jeweils entstehenden Mehraufwand für den Transport hat der Landkreis als Träger der Schülerbeförderung nach Maßgabe des Schulgesetzes Sachsen-Anhalt zu tragen.
cc. Der Anspruch folgt auch nicht aus anderweitigen rehabilitationsrechtlichen Rechtsgrundlagen, welche die Antragsgegnerin gemäß § 14 Abs 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (
SGB IX) als unzuständiger erstangegangener Träger, der einen Antrag auf Leistung zur Teilhabe nicht an den zuständigen Träger weitergeleitet hat, anzuwenden hätte. Die Antragsgegnerin ist grundsätzlich der für die Versorgung des Klägers mit einer zweiten Sitzschale zuständige Leistungsträger. Aus dem Gesichtspunkt der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe oder der Jugendhilfe lässt sich ein solcher Anspruch nicht herleiten. Vielmehr entfällt ein Bedürfnis für die begehrte Doppelversorgung, sobald der Träger der Schülerbeförderung seinen Pflichten nachkommt.
b. Da ein Anordnungsanspruch nicht besteht, kommt es auf einen Anordnungsgrund nicht an. Selbst wenn aber ein Anordnungsanspruch nicht völlig ausgeschlossen werden könnte, würde eine Folgenabwägung im vorliegenden Fall nicht zum Erlass der beantragten Anordnung zwingen. Auf Seiten des Antragstellers wäre ohne eine solche Anordnung insbesondere nicht der Schulbesuch bis zum Erlass einer ggfs obsiegenden rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung in Frage gestellt. Der Antragsteller besucht vielmehr auch unter den derzeitigen Bedingungen fortlaufend die Gehörlosen- und Blindenschule in H ... Zudem wird er bei dem für den Schülertransport zuständigen Leistungsträger für kurzfristige Abhilfe der bestehenden Einschränkungen sorgen können. Umgekehrt wäre die Antragsgegnerin bei einer vorläufigen Gewährung der individuell angepassten zweiten Sitzschale endgültig mit den dafür aufzuwendenden Kosten belastet, auch wenn sie im Hauptsacheverfahren obsiegte. Der Kläger ist zu einer Kostenerstattung finanziell nicht in der Lage. Ein Erstattungsanspruch gegen einen anderen Träger, insbesondere etwa gegen den Landkreis, käme nicht in Betracht; dieser ist zwar für die Schülerbeförderung, nicht aber für die (Doppel-) Leistung von Hilfsmitteln zuständig.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG. Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben (§ 177
SGG).