Urteil
Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte nach Antragstellung, aber noch vor Entscheidung des Integrationsamtes

Gericht:

ArbG Nordhausen 2. Kammer


Aktenzeichen:

2 Ca 697/22


Urteil vom:

22.02.2023


Grundlage:

Orientierungssatz:

Einzelfallentscheidung zu Wirksamkeit einer Kündigung nach Antragstellung auf Anerkennung einer Schwerbehinderung. (Rn.14)

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Justiz Thüringen

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6.240,00 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.

Die Klägerin war seit dem 01.07.2021 bei der Beklagten als Verkäuferin/ Kassiererin beschäftigt. Die Klägerin arbeitete in Vollzeit und erhielt zuletzt den gesetzlichen Mindestlohn von zuletzt 12,00 EUR brutto/Stunde. Am 19.07.2022 beantragt die Klägerin beim Landratsamt … die Feststellung ihrer Schwerbehinderteneigenschaft. Mit Bescheid vom 09.02.2023 stellte das Landratsamt einen Grad der Behinderung von 30 fest. Die Klägerin hat dagegen Widerspruch eingelegt.

Ab dem 25.10.2022 befand sich die Klägerin stationär im Ökumenischen H... Klinikum gGmbH in …. Es handelt sich dabei um ein Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. Am 01.11.2022 sandte die Mutter der Klägerin per Einschreiben eine Liege- bzw. Aufenthaltsbescheinigung an die Beklagte.

Die Beklagte, die bei Ausspruch der Kündigung regelmäßig weniger als zehn Arbeitnehmer beschäftigte, kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 29.09.2022 ordentlich zum 31.10.2022.

Die Klägerin erhob unter dem 13.10.2022, bei Gericht am gleichen Tag eingegangen und der Beklagten am 20.10.2022 zugestellt, Kündigungsschutzklage. Sie erweiterte ihre Klage mit Schriftsatz vom 23.12.2022 bzw. 10.01.2023. Die Anträge 3.- 5. Aus der Klageerweiterung sind mit Beschluss vom 22.02.2023 vom vorliegenden Verfahren abgetrennt worden.

Die Klägerin meint die Kündigung sei wegen fehlender Beteiligung des Integrationsamtes unwirksam. Der Bescheid des Landratsamtes sei nicht bestandkräftig.


Die Klägerin beantragt:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 29.09.2022, der Klägerin am 30.09.2022 zugegangen, beendet wurde.


Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Kündigung erweise sich nicht als unwirksam, weil die Kläger mit Schreiben vom 19.07.2022 die Feststellung ihrer Schwerbehinderung beantragt habe. Sie könne den besonderen Kündigungsschutz nicht in Anspruch nehmen. Im Übrigen bestreitet die Beklagte, dass die Klägerin gegenüber der Beklagten rechtzeitig, d.h. innerhalb 3 Wochen nach Zugang der Kündigung, ihre Schwerbehinderteneigenschaft angezeigt habe. Jedenfalls stehe aufgrund des Bescheides vom 09.02.2023 nunmehr fest, dass die Klägerin keinen besonderen Kündigungsschutz genieße. Es sei unbeachtlich, dass ob der Bescheid in Rechtskraft erwachsen sei, oder die Möglichkeit des Widerspruchs bestehe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

I.

Der die ordentliche Kündigung betreffende Feststellungsantrag unterliegt der Abweisung, weil diese Kündigung wirksam ist und das Arbeitsverhältnis der Parteien daher mit Ablauf des 31.10.2022 aufgelöst hat.

Die schriftliche Kündigung gilt nicht als von Anfang an rechtswirksam, da die Klägerin die dreiwöchige Klageerhebungsfrist nach §§ 4, 7 KSchG eingehalten hat.

Die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 29.09.2022 ist rechtswirksam. Die streitgegenständliche Kündigung bedarf nicht der sozialen Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG, da der Geltungsbereich des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes nach § 23 Abs. 1 KSchG nicht eröffnet ist. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig weniger als zehn Arbeitnehmer.

Die Kündigung ist nicht wegen fehlender Zustimmung des Integrationsamtes gem. § 168 SGB IX unwirksam. Den besonderen Kündigungsschutz genießen Arbeitnehmer, deren Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch bereits anerkannt ist. Andererseits kann sich auch derjenige auf § 168 SGB IX berufen, der vor Zugang der Kündigung einen Antrag auf Anerkennung dieser Eigenschaft beim Versorgungsamt nach § 152 Abs. 1 S. 1 SGB IX gestellt hat, diese Eigenschaft zu diesem Zeitpunkt nach § 2 Abs. 2 SGB IX objektiv vorlag und das Versorgungsamt deshalb dem Antrag zum Zeitpunkt der Antragstellung für eine Zeit vor dem Kündigungszugang stattgibt, sofern der Arbeitgeber bei Kündigungsausspruch Kenntnis von der Antragstellung hatte bzw. binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung über die Antragstellung informiert wurde. Die zuständige Behörde hat mit Bescheid vom 09.02.2023 festgestellt, dass die Klägerin rückwirkend zum 19.07.2022 lediglich einen Grad der Behinderung von 30 ausweist. Damit bedurfte der Ausspruch der Kündigung keiner Zustimmung des Integrationsamtes. Den besonderen Kündigungsschutz nach § 168 SGB IX genießt ein Arbeitnehmer nur, wenn es sich bei ihm um einen schwerbehinderten Menschen nach § 2 Absatz 2 SGB IX handelt. Danach sind Menschen schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 vorliegt. Das Gericht ist an den vorhandenen Bescheid gebunden. Die Nachprüfung erstreckt sich lediglich auf dessen Vorhandensein, einschließlich des Ausnahmefalls der Nichtigkeit des Verwaltungsaktes. In allen anderen Fällen hat der Bescheid Tatbestandwirkung und ist hinzunehmen (vgl. BAG, Urt. v. 17.06.2003 - 2 AZR 245/02, unter II. 2. b.). Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO im Hinblick auf das nunmehr geführte Widerspruchverfahren ist nicht geboten. Vielmehr spricht die besondere Prozessförderungspflicht in Kündigungsverfahren gem. § 61a ArbGG ohne das Vorliegen weiterer, triftiger Gründe gegen eine solche Handhabung.

Die darlegungs- und beweisbelastete Klägerin hat keine weiteren außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes liegenden Unwirksamkeitsgründe behauptet.

Die Kündigungsfrist ist eingehalten.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 ArbGG, § 3 ff ZPO. Die Kammer hat hinsichtlich des Kündigungsschutzantrages 3 Bruttomonatsgehälter in Höhe von 2.080,00 EUR zu Grunde gelegt.

Gründe gem. § 64 Abs. 3 ArbGG, die Berufung gesondert des § 64 Abs. 1 Nr. 2 c) ArbGG zuzulassen, liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R9702


Informationsstand: 02.05.2024