Urteil
Anspruch des hörgeschädigten Versicherten auf Versorgung mit einem Hörverstärkungsgerät bei mobilen Telefongesprächen (Bluetooth-Hörverstärker)

Gericht:

SG Düsseldorf 8. Kammer


Aktenzeichen:

S 8 KR 1441/15


Urteil vom:

13.06.2019


Grundlage:

Tenor:

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 10.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.11.2015 auch mit dem Bluetooth-Hörverstärker CM-BT 2 der Firma Humantechnik zu versorgen. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers wenn der Beklagten auferlegt. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten zum Entscheidungszeitpunkt noch über die Versorgung des Klägers mit einem Bluetooth-Hörverstärker CM-BT 2 der Firma Humantechnik.

Der 1952 geborene Kläger war als Ingenieur berufstätig und ist seit dem 00.00.2017 Rentner. Bei ihm besteht eine praktische Ertaubung rechts mit Hörresten sowie eine hochgradige, an Taubheit grenzende Schallempfindungsschwerhörigkeit links mit einem chronischen, nicht beeinträchtigenden Tiefton-Tinnitus beiderseits. Seit Mai 2013 ist er mit zwei Hörgeräten Nova 2 Mini HdO zu Lasten der Beklagten in Höhe der Festbetragszahlung und zuzüglich einem vom Kläger selbst getragenen Eigenanteil versorgt. Zusätzlich hatte er sich privat auf eigene Kosten zwei gebrauchte Hörgeräte Siemens "Motion S" selbst beschafft, da er mit diesen Hörgeräten das von seinem Arbeitgeber zum Telefonieren am Arbeitsplatz inklusive Fernbedienung zur Verfügung gestellte bluetoothfähige Analogtelefon bedienen konnte.

Am 18.11.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Versorgung mit dem Hörgerät Novasense Activ Pro HdO (Kostenvoranschlag: insgesamt 4.481 EUR). Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 05.12.2014 ab. Unter Berücksichtigung der im Jahr 2013 stattgefundenen Versorgung bestehe kein Anspruch auf eine Neuversorgung mit Hörgeräten.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Widerspruch und machte einen hörbedingten Bedarf in seinem Beruf geltend, der von Telefonieren, Seminaren und Außendiensttätigkeiten geprägt sei. Der von der Beklagten angehörte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) befürwortete die Neuversorgung des Klägers. Der ebenfalls von der Beklagten angehörte Hörgeräteakustiker führte aus, dass die Versorgung mit dem Hörgerät Novasense Geneve ausreichend sei. Die Beklagte erteilte daraufhin den Teilabhilfebescheid vom 10.02.2015, mit dem sie die Neuversorgung des Klägers mit Hörgeräten bis zum Festbetrag i.H.v. 1.594 EUR bewilligte.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger wiederum Widerspruch bzw. hielt seinen Widerspruch aufrecht. Er begründete sein Anliegen auf Bewilligung der beantragten Hörgeräte damit, dass er diese für die Ausübung seines Berufes benötige. Die Hörgeräte Novasense Geneve seien zur Berufsausübung nicht ausreichend. Der daraufhin von der Beklagten angehörte Rentenversicherungsträger DRV Bund nahm dahingehend Stellung, dass die vom Kläger geltend gemachte Verbesserung der Hörfähigkeit nicht berufsbedingt sei, sondern sich bereits im Alltagsbereich auswirke. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.11.2015 zurück.

Der Kläger hat gegen die Bescheide der Beklagten Klage erhoben, mit der er zunächst die Versorgung mit den Hörgeräten Novasense Activ Pro HdO geltend gemacht hat. Später hat er die Klage auf eine Versorgung mit den Hörgeräten Select Rio Pro 2 umgestellt (Kosten insgesamt 3.680 EUR), da die Hörgeräten Novasense Activ Pro nicht mehr auf dem Markt erhältlich seien. Die Hörgeräte Select Rio Pro 2 würden ihm ein besseres Hören ermöglichen als die von der Beklagten benannten Festbetragsgeräte Novasense Geneve. Vor allem wäre es ihm möglich, mit diesen Geräten zu telefonieren, was ihm mit den Festbetragsgeräten nicht möglich sei. Ganz wichtig in erster Linie sei die mit den streitgegenständlichen Hörgeräten verbundene Möglichkeit zu telefonieren, sowohl mit Festbetragsgeräten als auch außerhalb seiner Wohnung mit seinem Mobilfunktelefon. Nach dem Hinweis des Gerichts auf eine entsprechende kostengünstigere Versorgungsmöglichkeit mit dem Bluetooth-Hörverstärker CM-BT 2 der Firma Humantechnik (Kosten laut Internet in der Größenordnung 115 EUR bis max. 200 EUR) beschränkte er seinen Klageantrag bzw. stellte ihn um auf die Versorgung mit diesem Hörgerätezubehör. Eine Testung dieses Zubehörs über eine Woche habe gezeigt, dass er mit diesem Hörverstärker gut zurechtkomme. Es ermögliche ihm das Führen von Telefongesprächen, insbesondere auch das Telefonieren mittels Mobiltelefon aufgrund der Bluetooth-Schnittstelle des Hörverstärkers.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte zu verurteilen, ihn unter Abänderung des Bescheides vom 10.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.11.2015 mit dem Bluetooth-Hörverstärker CM-BT 2 der Firma Humantechnik zu versorgen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Die verschiedentlichen Messungen hätten ergeben, dass der Kläger mit dem bewilligten Festbetragsgerät bzw. einer Kostenübernahme für zwei Hörgeräte in Höhe des Festbetrags ausreichend versorgt sei. Es hätten sich keine messbaren quantitativen Unterschiede im Wortverstehen ergeben. Ein Telefonieren mittels eines Festnetztelefonapparates sei dem Kläger auch ohne spezielle Hörgeräte-Zubehör-Versorgung möglich, da Festnetzgeräte mit einer entsprechenden Spule versehen sind bzw. versehen werden können, um ein Telefonieren mit den Hörgeräten zum Festbetrag zu ermöglichen. Ein Anspruch auf Versorgung dahingehend, dass der Versicherte in der Lage ist, Mobilfunktelefone zu benutzen und damit Gespräche verständlich zu führen, bestehe nicht. Des Weiteren sei nicht plausibel dargelegt, weshalb das Telefonieren nicht direkt über die eingebaute Spule möglich sein soll.

Das Gericht dazu Ermittlung des Sachverhalts Auskünfte der H Hörakustik GmbH und Co. KG sowie das Gutachten des HNO-Arztes S1 vom 07.05.2018 und das Zusatzgutachten des Hörgeräte-Akustikermeisters S2. E einschließlich ergänzender Stellungnahme vom 30.04.2018/14.12.2018 eingeholt. Zur weiteren Sachdarstellung wird auf diese Unterlagen, die Niederschriften der Erörterungstermine am 16.11.2017 und 17.08.2018 sowie auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze und Unterlagen der Beteiligten einschließlich der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung in Abwesenheit der Beteiligten entscheiden, da diese sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Klage ist in ihrem geänderten bzw. aufrecht erhaltenen Umfang begründet.

Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtswidrig, als sie die zusätzliche Versorgung des Klägers mit dem Bluetooth-Hörverstärker CM-BT 2 ablehnen. Die Beklagte hat mit den angefochtenen Bescheiden eine zusätzliche Versorgung des Klägers abgelehnt, soweit sie über die Bewilligung des Festbetrages hinausgeht. Sollte der Wechsel des Versorgungsanliegens von den ursprünglich geltend gemachten Hörgeräten Novasense Active Pro HdO auf die Hörgeräte Select Rio Pro 2 HdO und dann auf den Bluetooth-Hörverstärker CM-BT 2 eine Klageänderung darstellen, so ist sie zumindest sachdienlich, § 99 SGG. Andernfalls wäre es den betroffenen Versicherten unter Berücksichtigung der technischen Fortentwicklung oft nicht möglich, im Rahmen ihres Sachleistungsanspruchs während eines (!) längeren Rechtsmittelverfahrens die angemessene Versorgung zu erlangen.

Dem Kläger steht zusätzlich zur Versorgung mit zwei Festbetragshörgeräten ein Anspruch auf Versorgung mit dem Bluetooth-Hörverstärker CM-BT 2 zu, § 33, § 11 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V).

Hörgeräte dienen dem unmittelbaren Behinderungsausgleich (BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 3 KR 20/08 R -, juris.de, Rn. 19; Urteile vom 03.11.2011). Dies führt dazu, dass mit dem entsprechenden Hilfsmittel ein umfassender Versorgungsanspruch verbunden ist und nicht nur ein Anspruch auf Befriedigung von Grundbedürfnissen (wie beim bloß mittelbaren Behinderungsausgleich). Aus diesem Grund kann dahingestellt bleiben, ob heutzutage das Telefonieren mit einem Mobiltelefon bereits als anzuerkennendes Grundbedürfnis einzuordnen ist oder nicht (zahlreiche Haushalte verfügen mittlerweile ausschließlich über Mobilfunk und nicht mehr über einen Festnetzanschluss). Jedenfalls stellt sich die zuletzt geltend gemachte Versorgung schon nicht als unverhältnismäßig dar (vgl. auch rechtskräftiges Urteil der 8. Kammer des Sozialgerichts Düsseldorf vom 4.5.2017 - S 8 KR 142/15 -; damals noch ohne Kenntnis der hier eingeführten deutlich preiswerteren Versorgungsmöglichkeit mittels eines Zubehörteils). Insofern ist vorliegend insbesondere maßgeblich, dass das vom Kläger geltend gemachte Bedürfnis, mobil zu telefonieren im Verhältnis steht zu den ausgesprochen niedrigen Kosten für die zuletzt streitgegenständliche Versorgung (weniger als 200 EUR) auch nicht ansatzweise als unverhältnismäßig angesehen werden kann.

Eine entsprechende Hörverbesserung bei (mobilen) Telefongesprächen, wie vom Kläger geltend gemacht, ist vom angehörten sachverständigen Hörgeräte-Akustiker-Meister S2. E insbesondere in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14.12.2018 bestätigt worden: "Diese Übertragung von Gesprächen kann das Sprachverstehen am Telefon erheblich verbessern, da die Schallaufnahme des Telefonlautsprechertons nur über die Hörgerätemikrofone in vielen Fällen ungünstig ist. Bei der induktiven Übertragung kann eine bessere Tonqualität geliefert werden, die das Sprachverstehen erleichtert. Darüber hinaus kann das Telefongespräch über beide Hörgeräte gehört werden. Ein binaural gehörtes Sprachsignal ist insbesondere für schwerhörige Patienten einfacher zu verarbeiten. Ohne eine solche binaurale Übertragung ist bei Patienten mit hochgradigem Hörverlust (sowie beim Kläger befundmäßig gegeben: die Autorin) in einigen Fällen gar keine Kommunikation über das Telefon möglich. Auch der Kläger gibt an, ohne ein Zusatzgerät, das Telefongespräche auf die Hörgeräte überträgt, nicht telefonieren zu können. Aus gutachterlicher Sicht ist es als sehr wahrscheinlich zu beurteilen, dass im Fall des Klägers die Bluetooth-Schnittstelle CM-BT 2 von Humantechnik die Telefonkommunikation erleichtert."

Unter Berücksichtigung der Ausführungen insbesondere des sachverständigen Hörgeräte-Akustiker-Meisters konnte das skeptische Hinterfragen der Beklagten, weshalb das Telefonieren nicht direkt über die eingebaute Spule möglich sein soll (Schriftsatz vom 09.02.2019), zu keiner anderen Entscheidung führen. Über die im Hörgerät eingebaute Spule mag ein Telefonieren mit einem ebenso versorgten Festnetztelefongerät möglich sein. Vorliegend war jedoch bereits von Anfang an entscheidungserheblich die Möglichkeit des Klägers, mit einem Mobilfunkgerät telefonieren zu können, das über keine entsprechende Spule verfügt. Aus diesem Grund ist als zusätzliche Schnittstelle zwischen der Bluetoothfähigkeit des Mobilfunkgerätes und der Spule des Hörgerätes der nunmehr streitgegenständliche Bluetooth-Hörverstärker CM-BT 2 notwendig.

Die tenorierte Versorgungspflicht der Beklagten führt dazu, dass sie bei einer zukünftigen Versorgung des Klägers die Kosten für den Bluetooth-Hörverstärker zu übernehmen hat oder bei einer Anschaffung in der Vergangenheit zu erstatten hat, § 13 SGB V.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die unter Berücksichtigung des letztendlich maßgeblichen Streitwertes von weniger als 750 EUR unzulässige Berufung war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage zuzulassen, ob hörgerätepflichtige Versicherte vom Umfang her einen Versorgungsanspruch auf die Ermöglichung von Mobilfunktelefongesprächen haben.

Referenznummer:

R/R8571


Informationsstand: 25.01.2021