Die Klage ist zulässig, da sie insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhoben wurde.
Die Klage ist auch in der Sache begründet.
Die Feststellungen des Beklagten sind insoweit rechtswidrig als der Kläger Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens aG hat.
Gemäß
§ 152 Abs. 1 des SGB IX in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz -
BTHG / früher
§ 69 Abs. 1 SGB IX) stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (
GdB) fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auch die hierzu erforderlichen Feststellungen (§ 152
Abs. 4
SGB IX/
BTHG-Fassung).
Haben die oben genannten Behörden schon Feststellungen nach § 152
Abs. 1 des
SGB IX getroffen, so ist gemäß § 48
Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - 10. Buch -
SGB X der Verwaltungsakt mit Dauerwirkung auf Antrag oder von Amts wegen mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.
Eine wesentliche Änderung liegt nur vor, wenn der veränderte Gesundheitszustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und die Änderung des
GdB wenigstens 10 beträgt oder etwa die Voraussetzungen für ein Merkzeichen neu festzustellen oder weggefallen sind (
vgl. Anlage zu § 2 VersMedV Teil A Kap. 7).
Die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens aG sind nach den vorhandenen Befunden und dem persönlichen Eindruck der Kammer von dem Kläger im Termin am 30.01.2020 nachgewiesen, so dass insoweit eine die Anerkennung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung rechtfertigende wesentliche Änderung gegenüber dem Bescheid vom 02.07.2015 objektiviert werden konnte.
Die Kriterien, unter denen der Nachteilsausgleich aG festgestellt werden kann, ergeben sich nach dem Erlass des Bundesteilhabegesetzes (BGBl. I 2016,
S. 3234
ff.) für den Zeitraum ab 01.01.2018 aus der ab diesem Zeitpunkt geltenden Fassung des
§ 229 Abs. 3 SGB IX (BGBl. I 2016,
S. 3303), welcher lautet:
"Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem
GdB von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung - dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleich kommt."
Damit hat der Gesetzgeber sich nunmehr für die Beurteilung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung an der Frage der Teilhabebeeinträchtigung orientiert und alle relevanten Funktionsstörungen auf allen medizinischen Fachgebieten sowie auch Kombinationen von Beeinträchtigungen erfasst. Er hat sich damit aber nicht grundsätzlich von den in der Rechtsprechung entwickelten strengen Bewertungsmaßstäben entfernt (
vgl. HLSG, Beschluss vom 23. Juni 2017 - L 3 SB 138/16).
Unstreitig gehört der Kläger bei allein auf sein physisch mögliches Gehen reduzierter Sichtweise nicht zu dem vorstehend beschriebenen Personenkreis. Er ist jedoch aufgrund seiner mentalen Beeinträchtigung im Sinne eines schwerstgradig ausgeprägten Autismussyndroms diesem Personenkreis gleichzustellen, denn er ist zur Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage, selbständig zielgerichtet - auch unter Zuhilfenahme einer Begleitperson - eine auch nur geringfügige Strecke zurückzulegen.
Schon das
BSG hatte im Urteil vom 13.12.1994, Az.
9 RVs 3/94 noch zu den bisher geltenden Vorschriften ausgeführt, dass zwar weder Orientierungsstörungen noch zeitweise Anfälle den Anspruch auf "aG" begründen könnten, es für die Frage der allgemeine Vergleichbarkeit aber entscheidend darauf ankomme, dass die Auswirkungen der Behinderung funktionell dem beschriebenen Personenkreis gleichzuachten seien. Der Leidenszustand müsse ebenfalls wegen einer außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das Schwerste einschränken.
Dies sei etwa dann der Fall, wenn sich die mit der Behinderung verbundenen Schwierigkeiten und Gefahren dahingehend auswirken, dass der behinderte Mensch im innerstädtischen Fußgängerverkehr auch durch eine Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden kann. Ein solcher Zustand wäre etwa erreicht, wenn eine verantwortungsbewusste Begleitperson den Behinderten wegen der Selbstgefährdung und der Gefährdung anderer nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl bewegen würde (
vgl. BSG, Urteil vom 29. Januar 1992 -
9a RVs 4/90).
Auch das
LSG NRW hat mit Urteil vom 25.08.2005, Az.
L 7 SB 176/04 diese Parallele gezogen und für das Merkzeichen aG bei fehlender funktioneller Einschränkung des Gehvermögens bezüglich ständig aufsichtsbedürftiger Personen gefordert, dass sie im innerstädtischen Fußgängerverkehr von einer Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden können. Ein solcher Zustand sei noch nicht erreicht, wenn der Behinderte wegen der Beeinträchtigung seines Orientierungsvermögens und seines unkontrollierbaren Bewegungsdranges der Führung durch eine Begleitperson bedarf. Hinzukommen müsse eine so starke Selbstgefährdung oder Gefährdung Dritter aufgrund der Auswirkungen der Behinderung, dass eine verantwortungsbewusste Begleitperson den Behinderten im innerstädtischen Fußgängerverkehr nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl befördern würde (siehe auch
BAG Urteil vom 29.01.1992, 9 a/9 RVs 4/90; Urteil vom 22.04.1998,
B 9 SB 7/97 R; Bayerisches
LSG, Urteil vom 18.03.2003,
L 15 SB 77/00).
Schließlich hat das
LSG Berlin Brandenburg mit Beschluss vom 15.10.2013, Az. L 11 SB 207/13 B PKH ebenfalls unter Bezug auf die Rechtsprechung des
BSG ausgeführt, auch ständig aufsichtsbedürftige Personen könnten dem in der VwV-StVO zu § 46
Abs. 1
Nr. 11 StVO im einzelnen angesprochenen Personenkreis erst dann gleichgestellt werden, wenn sie im innerstädtischen Fußgängerverkehr durch eine Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden können.
Nach dieser Rechtsprechung, der sich das Gericht vollumfänglich anschließt, sind bei dem Kläger die Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens aG ausnahmsweise trotz prinzipiell physisch vorhandener Gehfähigkeit gegeben, denn zur Überzeugung der Kammer ist bei diesem aufgrund seiner ausgeprägten mentalen Behinderung jederzeit damit zu rechnen, dass er sich von der jeweiligen Begleitperson losreißt, von dieser weglaufen möchte oder in impulsiven/aggressiven Ausbrüchen gegen die Begleitperson oder Dritte losgehen könnte. Damit besteht jederzeit die latente Gefahr, dass sich der Kläger selbst, Dritte
bzw. seine Begleitperson gefährdet.
Auf dem von der Mutter des Klägers gezeigten Handyvideo ist die große Kraft erkennbar, mit der der Kläger, der im März erst sein 7. Lebensjahr vollendet, ausgestattet ist. Eine erwachsene Person allein vermag den Jungen trotz voller Umklammerung des Oberkörpers kaum festzuhalten. Aufgrund der Größe des Klägers und der Kraft, mit der er gegen die betreuende Person unvermittelt und unvorhersehbar jederzeit loszugehen vermag, ist es keiner verantwortungsbewussten Begleitperson möglich, mit dem Kläger "an der Hand" ohne Eigen- oder Fremdgefährdung auch nur geringste Strecken zurückzulegen.
Es ist deshalb für das Gericht absolut nachvollziehbar, dass der Kläger von seinen Bezugspersonen auch auf kürzesten Strecken wie dem Weg vom Auto ins Haus mittels des Reha-Buggy transportiert wird. Er ist damit faktisch auf diesen einem Rollstuhl vergleichbaren Transport angewiesen, so dass die Voraussetzungen für aG zu bejahen sind, da er insoweit in seiner Fortbewegung auf das Schwerste eingeschränkt ist.
Bestätigt wird dieser Eindruck durch die Angaben in den vorliegenden Befundberichten.
Das Pflegegutachten des MDK Hessen vom 2.5.2016 enthält insoweit die Aussage, dass der Kläger körperliche Nähe vehement ablehnt, häufig ein deutliches tätlich-aggressives Verhalten zeigt, er sich zwar innerhalb der Wohnung frei bewegt, zielgerichtetes Gehen jedoch nicht möglich ist, da er generell nicht auf Aufforderungen reagiert.
In der Stellungnahme des Autismus-Therapieinstituts E-Stadt, in dem der Kläger seit September 2060 behandelt wird, vom 28.9.2017 heißt es:
"A. ist nicht in der Lage Handlungen zu planen und alleine durchzuführen. Er kann sich alleine nicht orientieren und Gefahren einschätzen, wodurch er die gesamte Zeit beaufsichtigt werden muss. Wenn A. ein von ihm begehrtes Objekt sieht rennt er zu diesem direkt hin. Dies führt dazu, dass er beim Aussteigen aus dem Auto in einer enormen Geschwindigkeit zu seinem begehrten Objekt,
z. B. ein bestimmtes Auto, läuft. Für die Mutter ist es dann kaum möglich ihn zurück zu halten. Dies ist insbesondere im Straßenverkehr problematisch. In seiner Wahrnehmungsverarbeitung ist A. beeinträchtigt. So kann er nicht hinreichend verschiedene Reize gleichzeitig verarbeiten. Bestimmte Reize empfindet A. als extrem unangenehm. A. kann Situationen nicht ausreichend einschätzen und auf diese adäquat reagieren. Unvorhergesehene Ereignisse sowie Situationen, die für ihn unklar sind, führen bei ihm zu Verunsicherung und Hilflosigkeit. Bei Anspannung, Stress und Überforderung kann A. sein Verhalten nicht ausreichend regulieren. Dies führt dazu, dass er Wutanfälle bekommt. Hierbei schreit er, schlägt um sich und wirft sich auf den Boden. Für die Mutter ist es dann, auf Grund seiner Kraft, kaum möglich ihn festzuhalten. In Überforderungssituationen zeigt A. ebenso Weglauftendenzen."
Der Klage war daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG, die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143
SGG.