Urteil
Leistungspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung für unfallbedingte Verletzungsfolgen bei einem Wegeunfall - Keine Leistungspflicht für vorbestehende Schäden - Anspruch auf Heilbehandlung und Verletztenrente

Gericht:

LSG Bayern 3. Senat


Aktenzeichen:

L 3 U 241/09


Urteil vom:

08.02.2011


Grundlage:

  • SGB VII § 2 Abs. 1 Nr. 1 |
  • SGB VII § 56 Abs. 1 |
  • SGB VII § 8 Abs. 2 Nr. 1

Leitsätze:

Erleidet ein Versicherter einen Arbeits- bzw. Wegeunfall, ist der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung nur für die unfallbedingten Verletzungsfolgen (hier im Bereich der Wirbelsäule) einstands- und leistungspflichtig, nicht jedoch für vorbestehende Wirbelsäulenschäden.

Rechtsweg:

SG Augsburg Urteil vom 06.05.2009 - S 5 U 70/08

Quelle:

BAYERN.RECHT

Tenor:

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 6. Mai 2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII) Heilbehandlung über den 14.11.2006 hinaus sowie ab dem 29.08.2006 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H.

Der 1962 geborene Kläger ist bei der R. B. GmbH in B. beschäftigt gewesen, als er am 28.08.2006 auf dem Weg zur Arbeit mit dem PKW verunfallt ist. Beim Auffahren auf die Autobahn hat der Kläger seinen PKW zunächst auf dem Beschleunigungsstreifen beschleunigt und dann sein Fahrzeug nach links auf die Autobahn gelenkt. Beim Einlenken ist der PKW des Klägers vermutlich wegen Aquaplanings ins Schleudern um 180 Grad gekommen und erst schräg mit dem rechten Heck des Fahrzeugs und dann mit der rechten PKW-Seite in die Mittelplanke geschleudert. Aufgrund des schrägen Aufpralls mit dem Heck und dann mit der Seite ist der Kläger trotz Anschnallgurt in den Beifahrersitz geschleudert worden. Er hat sich wieder aufrichten müssen, um wieder in den Fahrersitz zurückzukehren, und dies bei einer Geschwindigkeit von ca. 80 km/h.

Dr. H. (Medizinisches Versorgungszentrum O.) hat mit Durchgangsarztbericht vom 28.08.2006 eine HWS-Distorsion sowie eine BWS-Kontusion diagnostiziert. Röntgenologisch ist eine Fraktur der Wirbelsäule ausgeschlossen worden. Nebenbefundlich ist im Bereich der Halswirbelsäule eine ausgeprägte Osteochondrose C6/C7 beschrieben worden. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.H. hat mit Arztbrief vom 10.10.2006 zusammenfassend ausgeführt, es bestehe kein fassbarer neuropathologischer Befund, vor allem keine radikuläre Symptomatik von Seiten der LWS. Es hätten sich weder motorische noch sensible Ausfälle gefunden, noch Denervierungszeichen im EMG. Der Reflexstatus und die Thibialis-SSEP seien normal gewesen. Soweit über einen Diskusprolaps LW5/SW1 berichtet worden sei, sei dieser mit Sicherheit nicht unfallbedingt. Der Kläger neige schon seit 14 Jahren zu Kreuzschmerzen, damals bei einem Liftabsturz mit Wirbelbrüchen im Bereich der LWS. Aktuell werde man von Lumbalgien mit einer mehr pseudoradikulären Schmerzausstrahlung in das linke Bein ausgehen können.

Das Medizinische Versorgungszentrum O. hat mit Nachschaubericht vom 10.01.2007 mitgeteilt, man habe die berufsgenossenschaftliche Behandlung zum 14.11.2006 eingestellt und eine kassenärztliche Behandlung eingeleitet, da die jetzt bestehende Befundsymptomatik (anhaltende Schmerzen im Nacken-, Schultergürtel- und Thoraxbereich, unveränderte Schmerzsymptomatik im Bereich der Lendenwirbelsäule) nicht unfallbedingt, sondern durch die Vorschädigungen bedingt sei. Man habe die Betriebskrankenkasse B. bereits mehrfach aufgefordert, eine entsprechende Reha-Behandlung unter stationären Bedingungen unverzüglich einzuleiten. Dr. H. hat mit Durchgangsarztbericht vom 05.02.2007 und begleitendem Arztbrief vom selben Tag präzisiert, dass vom 28.08. bis 08.09.206 und ab 09.10.2006 bis auf Weiteres eine Arbeitsunfähigkeit bestanden habe. Die Behandlung und Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum 09.10.2006 bis 14.11.2006 sei ausschließlich wegen der bei dem Unfall vom 28.08.2006 erlittenen HWS- und BWS-Kontusion erfolgt. Danach (ab dem 15.11.2006) habe eine Arbeitsunfähigkeit und fortlaufende Behandlung wegen der unfallunabhängigen Leiden an der HWS und LWS bestanden.

Die R. B. GmbH hat mit Schreiben vom 09.08.2007 mitgeteilt, dass der Kläger zwar am 18.09.2006 bis 09.10.2006 seine berufliche Tätigkeit wieder aufgenommen habe. Wegen Schmerzen im Rückenbereich habe er jedoch nur kleinere, einfache und leichtere Arbeiten (Botengänge, Reinigungsarbeiten, Bedienen von Steuerelementen) ohne wirtschaftlichen Wert für den Betrieb verrichten können.

Auf Veranlassung der Beklagten hat Dr.F. unter dem 16.09.2007 ein unfallchirurgisches Gutachten erstellt. Danach habe der Kläger unfallbedingt eine Zerrung der HWS und eine Prellung der BWS hinnehmen müssen, die zwischenzeitlich abgeheilt sei. Unfallunabhängig bestünden eine degenerative Veränderung der Halswirbelsäule mit Osteochondrosen im Bereich C6/C7, eine konsolidierte Sprunggelenksfraktur links, eine konsolidierte Fraktur LWK 2 sowie eine Nukleotomie der Bandscheibe im April 2007 im Segment L5/S1 mit weiter bestehender Lumboischialgie und radikulärer Symptomatik. Die unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit habe am 14.11.2006 entsprechend den Ausführungen des behandelnden Kollegen Dr.H. geendet.

Die Beklagte hat mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 26.10.2997 ausgesprochen, dass sich der Kläger aufgrund des Unfalles vom 28.08.2006 eine Distorsion der Halswirbelsäule und eine Kontusion der Brustwirbelsäule zugezogen habe. Unfallbedingt habe eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 14.11.2006 hinaus bestanden. Darüber hinaus bestehe kein Anspruch auf die Gewährung von berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlungsmaßnahmen und auch kein Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente.

Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Widerspruch vom 08.11.2007 hervorgehoben, dass die Beschwerden im Bereich der BWS nur durch den Unfall erklärbar seien. Entsprechend dem Attest des Medizinischen Versorgungszentrums O. vom 13.11.2006 bestehe auch ein Zustand nach LWS-Prellung. Dr.H. hat mit Arztbrief vom 10.12.2007 hierzu bemerkt, dass die LWS-Prellung auf die Folge des weiteren Arbeitsunfalles vom 17.02.2006 zurückzuführen sei. Auch hierbei sei darauf hingewiesen worden, dass ein Zustand nach LWK II-Kompressionsfraktur bestehe. Das Ereignis der LWS-Distorsion sei ausdrücklich nicht auf den Unfall vom 28.08.2006 zurückgeführt worden.

Hierzu befragt hat Dr.F. mit Stellungnahme vom 08.01.2008 ausgeführt, richtig sei, dass im Röntgenbild der LWS und der BWS noch keine fortgeschrittenen degenerativen Veränderungen zu erkennen seien, jedoch eindeutig bereits in dem in dieser Hinsicht wesentlich sensibleren Kernspintomogramm. Unterstützt werde seine Ansicht durch die Untersuchung des Dr.H. knapp zwei Monate nach dem Unfallereignis. Hierin werde sowohl die Tatsache von vorbestehenden Kreuzschmerzen und des mit Sicherheit nicht unfallbedingten Bandscheibenvorfalls dargelegt. Es stehe eindeutig fest, dass bei dem Kläger zum Zeitpunkt des Unfalles bereits die im NMR festgestellten Veränderungen an der Wirbelsäule vorgelegen hätten und dass diese weder durch den Unfall hervorgerufen noch richtungsweisend verschlimmert worden seien.

Dementsprechend hat die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 26.10.2007 mit Widerspruchsbescheid vom 15.02.2008 zurückgewiesen.

In dem sich anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Augsburg die Unfall-Akten der Beklagten sowie die Unterlagen des Medizinischen Versorgungszentrums O. mit Fremdbefunden beigezogen. Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schriftsatz vom 28.05.2008 den Arztbrief des Orthopäden Dr.L. vom 18.06.2007 vorgelegt. Danach besteht bei dem Kläger ein chronisches Lumbalsyndrom bei Zustand nach LWK-II-Fraktur 1996 sowie eine Beschleunigungsverletzung der HWS vom 27.04.2004 (weiterer Verkehrsunfall mit Heckaufprall). Entsprechend dem Änderungs-Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region Schwaben vom 06.08.2007 betrage der Grad der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertenrecht (nun mehr: SGB IX) 40. Hierbei seien als wesentliche Gesundheitsstörungen eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, eine seelische Störung mit somatoformer Schmerzstörung sowie eine Schwerhörigkeit links mit Einzel-GdB-Werten von jeweils 20 berücksichtigt worden. Weiterhin haben die Bevollmächtigten des Klägers das Gutachten des Dr.L. vom 18.02.2008 vorgelegt. Danach lasse die geschilderte Beschwerdesymptomatik der Lendenwirbelsäule in direkter Folge des Unfalls sowie die nach dem Unfall aufgetretene neurologische Ausfallssymptomatik den Schluss zu, dass es sich bei dem Bandscheibenvorfall um eine Unfallfolge handele. Insofern sei davon auszugehen, dass die Leistungspflicht einer Unfallversicherung gegeben sei.

Das Sozialgericht Augsburg hat Dr.W. gemäß § 106 Abs.3 Nr.5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser hat mit fachorthopädischem Gutachten vom 03.07.2008 ausgeführt, unfallbedingt habe der Kläger eine Zerrung der Halswirbelsäule und eine Prellung der Brustwirbelsäule erlitten. Diesbezüglich lägen keine Unfallfolgen mehr vor. Die weitergehenden Schäden im Bereich der Wirbelsäule seien nicht unfallbedingt, insbesondere nicht im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule.

Mit Schriftsatz vom 02.04.2009 haben die Bevollmächtigten des Klägers nochmals auf das Gutachten des Dr.L. vom 18.02.2008 hingewiesen.

Das Sozialgericht Augsburg hat die Klage mit Urteil vom 06.05.2009 abgewiesen und sich hierbei im Wesentlichen auf die Arztbriefe des behandelnden Orthopäden Dr.H. sowie des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr.W. gestützt.

Die Bevollmächtigten des Klägers hoben mit Berufung vom 17.06.2009 hervor, dass dem Gutachten des Dr.L. vom 18.02.2008 zu folgen sei. Die Beschwerdesymptomatik insbesondere an der Lendenwirbelsäule sei allein dem streitgegenständlichen Unfall zuzuordnen. Es habe sich hierbei nicht nur um eine Gelegenheitsursache gehandelt.

Von Seiten des Senats wurden die Unfall-Akten der Beklagten, die erstinstanzlichen Streitakten sowie die weiteren Röntgenaufnahmen der H. G-Stadt beigezogen. Der nach § 106 Abs.3 Nr.5 SGG gerichtlich bestellte Sachverständige Dr.K. kam mit orthopädischem Fachgutachten vom 12.12.2009 zu dem Ergebnis, dass der Unfallmechanismus in keinster Weise geeignet gewesen sei, einen Bandscheibenvorfall an der unteren Lendenwirbelsäule zu generieren. Die von dem Kläger angegebene Beschwerdefreiheit bis zum Unfallzeitpunkt korreliere nicht mit der Aktenlage. Radiologisch hätten sich keine Hinweise auf das Vorliegen einer frischen Bandscheibenverletzung ergeben. Die von dem Kläger gemachten Angaben zum Beschwerdebeginn würden sich insbesondere nicht im entsprechenden Durchgangsarztbericht spiegeln. Die Schäden an der Hals- und Brustwirbelsäule seien unter Beurteilung des dokumentierten Heilungsverlaufs vier Wochen nach dem Unfall als terminiert zu betrachten. Eine MdE durch die Unfallfolgen über den 28.02.2007 hinaus bestehe nicht.

Die Bevollmächtigten des Klägers rügten mit Schriftsatz vom 26.01.2010, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. K. von einem unzutreffenden Unfallhergang ausgegangen sei und dessen Schwere nicht ausreichend gewürdigt habe (Schleudern um 180° bei 80 km/h und Aufprall auf die Leitplanke rechts).

Die Beklagte legte die Stellungnahme des Beratungsarztes Dr.G. vom 19.03.2010 vor. Dieser habe zusammenfassend festgestellt, dass sich der Kläger bei dem Verkehrsunfall vom 28.08.2006 nur eine leichte Zerrung der HWS ohne Begleitverletzungen sowie eine geringfügige Prellung der BWS zugezogen habe. Eine Verletzung der LWS habe nicht stattgefunden. Insoweit müsse man sich den Bewertungen des Dr.F., des Dr.W. und des Dr.K. vollinhaltlich anschließen.

Für Prof.Dr.F. bzw. Prof.Dr.D. wurde Dr.C. (Institut für medizinische Begutachtung C-Stadt) gemäß § 109 SGG zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Gestützt auf das radiologische Zusatzgutachten des Dr.P. vom 09.08.2010 sowie das neurologisch-psychiatrische Fachgutachten des Dr.K. vom 01.09.2010 kam Dr.C. mit unfallchirurgisch-orthopädischem Gutachten vom 28.08.2010 zu dem Ergebnis, dass als Unfallfolgen zu diagnostizieren seien:

I. HWS-Distorsion Grad I gemäß der Quebec-Task Force-Klassifikation, folgenlos abgeheilt. Eine richtungsweisende Beeinträchtigung/Verschlimmerung der vorbestehenden degenerativen Veränderungen der HWS ist nicht nachweisbar.

II. Distorsion der Lendenwirbelsäule mit akuter Schmerzsymptomatik ohne MR-radiologischen Nachweis einer strukturellen Läsion/Verletzung der Lendenwirbelsäule und deren funktionswirksamen Weichteile/Gewebe. Hierbei Aktivierung einer vorbestehenden erheblichen degenerativen Veränderung der unteren und mittleren Lendenwirbelsäule, nicht richtungweisend.

Die MdE sei ab dem 28.08.2007 wie folgt gestaffelt einzuschätzen:

28.08.2007 bis 10.07.2007 - 100 v.H.

11.09.2007 bis 01.10.2007 - 20 v.H.

02.10.2007 bis 15.10.2007 - 10 v.H.

16.10.2007 bis auf Weiteres - unter 10 v.H.

Die ab 02.10.2007 bescheinigte Arbeitsunfähigkeit sei als unfallunabhängig zu betrachten.

Der Senat ersuchte die Beklagte um Stellungnahme unter dem Gesichtspunkt, dass Dr.C. eine MdE von 20 v.H. sowie eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 01.10.2007 angenommen habe.

Entsprechend dem Hinweis der Beklagten auf einen möglichen Schreibfehler hinsichtlich des 01.10.2007 anstelle des 01.10.2006 räumte Dr.C. mit Nachricht vom 04.11.2010 ein, dass ihm ein Schreibfehler unterlaufen sei. Die MdE sei wie folgt zutreffend einzuschätzen:

28.08.2006 bis 10.07.2006 - 100 v.H.

11.09.2006 bis 01.10.2006 - 20 v.H.

02.10.2006 bis 15.10.2006 - 10 v.H.

16.10.2006 bis auf Weiteres - unter 10 v.H.

Die Bevollmächtigten des Klägers wiesen mit Schriftsatz vom 10.01.2011 darauf hin, dass die Zeitangaben des Dr.C. zwingend unrichtig seien. Es sei davon auszugehen, dass Dr.C. die MdE vom 28.08.2006 bis 10.07.2007 mit 100 v.H. eingeschätzt habe.

Der Senat informierte die Beteiligten mit Schreiben vom 12.01.2011, dass die Stellungnahme des Dr.C. vom 04.11.2010 zwar einen weiteren Tippfehler enthalte. Aus der detaillierten zeitlichen Staffelung der MdE-Werte ergebe sich jedoch, dass der Gutachter das Datum 10.09.2006 gemeint habe, bis zu dem eine MdE von 100 v.H. angenommen worden sei. Eine erneute Zuleitung des Vorgangs an Dr.C. sei daher entbehrlich; er sei lediglich entsprechend in Kenntnis gesetzt worden.

In der mündlichen Verhandlung vom 08.02.2011 beantragt die Bevollmächtigte des Klägers entsprechend dem Schriftsatz vom 17.06.2009,

das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 06.05.2009 und den Bescheid der Beklagten vom 26.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2008 abzuändern, sowie festzustellen, dass der beim Kläger bestehende Zustand nach HWS-Distorsion, BWS-Kontusion und LWS-Prellung Folge des Arbeitsunfalles vom 28.08.2006 ist, eine MdE von 20 v.H. bedingt sowie die nachfolgende Heilbehandlung über den 14.11.2006 hinaus auf den Arbeitsunfall vom 28.08.2006 zurückzuführen ist, und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab dem 29.08.2006 Verletztenrente in entsprechender Höhe (MdE 20 v.H.) zu gewähren.

Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt entsprechend dem Schriftsatz vom 22.09.2010,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 06.05.2009 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß § 202 SGG in Verbindung mit § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie entsprechend § 136 Abs. 2 SGG auf die Unterlagen der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 und 151 SGG zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht Augsburg hat die Klage gegen den Bescheid vom 26.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2008 mit Urteil vom 06.05.2009 zutreffend abgewiesen.

Gesundheits- oder Körperschäden sind Folgen eines Arbeitsunfalls, wenn sie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentlich ursächlich oder mitursächlich auf den Unfall zurückzuführen sind. Dabei müssen die Gesundheits- und Körperschäden "voll", d.h. mit an Sicherheit grenzender, vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein. Dagegen gilt die Beweiserleichterung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang im Sinne der wesentlichen Bedingung zwischen der versicherten Tätigkeit und der zum Unfall führenden Verrichtung und dem Unfall selbst sowie zwischen dem Unfall und der maßgebenden Erkrankung. Nach dem in der Unfallversicherung geltenden Prinzip der wesentlichen Mitverursachung ist nur diejenige Bedingung als ursächlich für einen Unfall anzusehen, die im Verhältnis zu anderen Umständen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg und dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen einem Körper- und Gesundheitsschaden und dem Arbeitsunfall ist gegeben, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände die auf dem Unfall beruhenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann und wenn die gegen den ursächlichen Zusammenhang sprechenden Faktoren außer Betracht bleiben können, d.h. nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (vgl. BSGE 32, 203, 209; 45, 285, 286).

Aufgrund der insoweit übereinstimmenden Ausführungen des behandelnden Orthopäden Dr.H. mit Durchgangsarztbericht vom 28.08.2006, 05.02.2007 und 10.12.2007, des Dr.F. mit unfallchirurgischem Gutachten vom 16.09.2007 und ergänzender Stellungnahme vom 08.01.2008, des Dr.W. mit fachorthopädischem Gutachten vom 03.07.2008, des Dr.K. mit orthopädischem Gutachten vom 12.12.2009 und des Dr.C. mit unfallchirurgisch-orthopädischem Gutachten vom 28.08.2010 hat die Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid zutreffend ausgeführt, dass sich der Kläger bei dem Unfall vom 28.08.2006 eine Distorsion der Halswirbelsäule und eine Kontusion der Brustwirbelsäule zugezogen hat, die längstens bis zum 14.11.2006 einer berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung bedurft und eine entsprechende unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit verursacht hat. - Die daneben bestehenden degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule mit Osteochondrosen im Bereich C6/C7 sind nicht unfallbedingt, sondern schicksalshaft entstanden. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats bereits aus den Röntgenaufnahmen, die am Unfalltag 28.08.2006 aufgenommen worden sind. Denn bei einer ausgeprägten Osteochondrose handelt es sich um einen Vorgang, der nicht innerhalb weniger Stunden entsteht, sondern um einen länger andauernden Prozess. - In Auswertung der Röntgenaufnahmen vom 28.08.2006, 11.09.2007 und 07.12.2009 hat Dr.K. mit orthopädischem Gutachten vom 12.12.2009 eine deutlich abgeflachte Kyphose der oberen Brustwirbelsäule beschrieben. Im Übrigen ist die Brustwirbelsäule regelrecht aufgebaut. Es ist daher schlüssig und überzeugend, wenn die Beklagte insoweit nur von einer zwischenzeitlich folgenlos ausgeheilten Kontusion der Brustwirbelsäule ausgegangen ist.

Hinsichtlich der Lendenwirbelsäule sind keine bleibenden Unfallfolgen festzustellen. Denn bereits der behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.H. hat mit Arztbrief vom 10.10.2006 zeitnah darauf hingewiesen, dass der bei dem Kläger bestehende Diskusprolaps LW5/SW1 mit Sicherheit nicht unfallbedingt ist. Im Augenblick wird man von Lumbalgien mit einer pseudoradikulären Schmerzausstrahlung in das linke Bein ausgehen können. Eine radikuläre Symptomatik ist zum Zeitpunkt der Vorstellung bei Dr.H. am 10.10.2006 nachweisbar gewesen. Im Übrigen hat der Kläger eingeräumt, schon seit 14 Jahren an Kreuzschmerzen zu leiden, also seit dem Liftabsturz 1996 mit Wirbelbrüchen im Bereich der LWS. Dies korrespondiert mit der ergänzenden Stellungnahme des Dr.F. vom 08.01.2008, wenn er sich kritisch mit dem Arztbrief des Dr.H. vom 10.12.2007 auseinandersetzt und hervorhebt, dass eine Prellung der Lendenwirbelsäule nicht einer Distorsion derselben gleichzusetzen sei. In Auswertung des NMR hat Dr.F. den Bandscheibenvorfall als unfallfremd bewertet. Auch Dr.W. ist mit fachorthopädischem Gutachten vom 03.07.2008 zu dem nämlichen Ergebnis gekommen. Denn bei einem traumatischen Bandscheibenvorfall besteht aufgrund der erforderlichen Krafteinwirkung und Begleitverletzung stets eine starke lokale Schmerzsymptomatik. Und eben diese fehlt bei dem Kläger in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Unfall vom 28.08.2006.

Wenngleich nach dem glaubhaften Bekunden des Klägers der Unfallhergang sich gravierender dargestellt hat als von Dr.K. mit Gutachten vom 12.12.2009 anamnestisch erhoben, hat Dr.G. mit beratungsärztlicher Stellungnahme vom 19.03.2010 die diesbezüglichen Ausführungen des Dr.K. im Ergebnis bestätigt. Denn traumatisch bedingte Bandscheibenprotrusionen bzw. Bandscheibenprolapse sind eine große Seltenheit. Zu diskutieren sind solche Verletzungen nur bei Stürzen aus größerer Höhe mit Überstreckung der Wirbelsäule und kontrahierter Rückenmuskulatur. Nur dabei ist eine akute Gefügestörung im Zwischensegment mit einem Überdruck auf die dorsalen Anteile der Bandscheibe zu diskutieren. Unter diesen Umständen können dann Teile der Bandscheibe unter dem entstandenen Druck in den Wirbelkanal prolabieren und zu radikulären Reiz- und Ausfallerscheinungen führen. Ein solcher Mechanismus hat entsprechend den Ausführungen der Klägerbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 26.01.2010 zweifelsfrei nicht vorgelegen. In Übereinstimmung mit Dr.G. mit beratungsärztlicher Stellungnahme vom 19.03.2010 ist der Senat vielmehr überzeugt, dass der Bandscheibenschaden am untersten LWS-Segment des Klägers rein degenerativer Natur ist, wie dies auch durch die MRT-Untersuchung und durch die konventionellen Röntgenaufnahmen erkennbar geworden ist. Auch der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.H. hat dies zeitnah mit Arztbrief vom 10.10.2006 entsprechend bestätigt.

Das gegenteilige Votum des Dr.L. mit Gutachten vom 18.02.2008 wird bereits durch seinen späteren Arztbrief vom 18.06.2007 widerlegt, wenn er auf ein chronisches Lumbalsyndrom bei Zustand nach LWK-II-Fraktur 1996 hinweist. In Auswertung der Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule in zwei Ebenen vom Februar 2004 hat Dr.L. eine mäßig ausgeprägte Keilwirbelbildung des LWK II bei vorbekannter Wirbelkörperkompressionsfraktur diagnostiziert. Abschließend bestätigt er, dass es sich um eine chronische Schmerzsymptomatik handelt, die unter Physiotherapie und physikalischer Therapie deutlich rückläufig gewesen ist. Insgesamt ist jedoch bei der vorliegenden Grunderkrankung von einem chronischen Beschwerdeverlauf auszugehen.

Unabhängig davon hat auch der nach § 109 SGG benannte und beauftragte Sachverständige Dr.C. mit Gutachten vom 28.08.2010, gestützt auf das radiologische Zusatzgutachten des Dr.P. vom 09.08.2010 und auf das weitere nervenärztliche Zusatzgutachten des Dr.K. vom 01.09.2010, ausgeführt, dass trotz der Distorsion der Lendenwirbelsäule mit akuter Schmerzsymptomatik sich kein Nachweis einer strukturellen Läsion bzw. Verletzung der Lendenwirbelsäule und deren funktionswirksamen Weichteile bzw. Gewebe hat finden lassen. Wenn Dr.C. hierbei von einer Aktivierung einer vorbestehenden erheblichen degenerativen Veränderung der unteren und mittleren Lendenwirbelsäule ausgeht, die nicht richtungsweisend ist, stützt er sich hierbei auf die erhobenen NMR-Befunde. Aus der Sicht des Senats ist dem vollinhaltlich beizupflichten, nachdem Dr.H. bereits mit Arztbrief vom 10.10.2006 insoweit von einer Lumbalgie mit einer mehr pseudoradikulären Schmerzausstrahlung in das linke Bein spricht. Bis auf Dr.L. mit Gutachten vom 18.02.2008 gehen alle am Verfahren beteiligten Ärzte davon aus, dass die diesbezügliche Beschwerdesymptomatik im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule, soweit sie unfallabhängig entstanden ist, nach kurzer Zeit ausgeheilt war. Auch Dr.K. hat mit nervenärztlichem Gutachten vom 01.09.2010 bestätigt, die lokale Schmerzsymptomatik ohne neurologische Ausfallerscheinungen als Wurzelreizsymptomatik mit Lumboischialgie bedingt keine nennenswerte MdE. Sie ist erfahrungsgemäß vorübergehender Natur, bilde sich spontan oder unter krankengymnastischer Therapie zurück.

Wenngleich zur Überzeugung des erkennenden Senats der Kläger aufgrund des sich um 180 Grad schleudernden PKW und des deutlichen Anpralls an der Leitplanke auch eine Verletzung im Bereich der Lendenwirbelsäule hat hinnehmen müssen, die zu den von Dr.H. mit Arztbrief vom 10.10.2006 beschriebenen Lumbalgien mit pseudoradikulären Schmerzausstrahlungen in das linke Bein geführt hat, hat unfallbedingt eine Heilbehandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit bis längstens 14.11.2006 bestanden. Auch insoweit stimmen alle am Verfahren beteiligten Ärzte bis auf Dr.L. mit Gutachten vom 18.02.2008 überein. Dr.C. hat seinen diesbezüglichen Tippfehler mit Schreiben vom 04.11.2010 korrigiert und einen weiteren offensichtlichen Schreibfehler belassen. Die Gesamtschau der Akten ergibt vielmehr, dass von folgender Staffelung der MdE auszugehen ist:

28.08.2006 bis 10.09.2006 - 100 v.H.

11.09.2006 bis 01.10.2006 - 20 v.H.

02.10.2006 bis 15.10.2006 - 10 v.H.

16.10.2006 bis auf Weiteres - unter 10 v.H.

Dementsprechend steht dem Kläger auch keine Verletztenrente zu. Denn eine solche kann einem Versicherten nur dann bewilligt werden, wenn dessen Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist (§ 56 Abs.1 Satz 1 SGB VII).

Nach alledem ist die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 06.05.2009 zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).

Referenznummer:

R/R5543


Informationsstand: 31.05.2013