Urteil
Keine "automatische" Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit, wenn erlernter Beruf nicht mehr vollwertig ausgeübt werden kann

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 2. Senat


Aktenzeichen:

L 2 U 142/10


Urteil vom:

19.05.2011


Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 14. Juni 2010 wird zurückgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der MdE nach einem Arbeitsunfall am 4. März 2003 streitig.

Der 1983 geborene Kläger absolvierte seit September 2001 eine Ausbildung zum Koch, als er auf dem Heimweg von seiner Arbeitsstätte am 4. März 2003 gegen 15:15 Uhr einen Verkehrsunfall hatte. Hierbei erlitt er ausweislich des Durchgangsarztberichtes vom 4. März 2003 u. a. ein Schädel-Hirn-Trauma II° mit multiplen kleinen Kontusionsherden, eine Klavikulafraktur links, Gesichtsverletzungen mit offener Nasenbeinfraktur, eine Thoraxkontusion mit Contusio cordis und Lungeneinblutungen sowie Mantelpneumothorax links, ein stumpfes Bauchtrauma und multiple Exkoriationen. Er befand sich anschließend bis einschließlich 17. April 2003 in stationärer ärztlicher Behandlung.

Nach Einholung eines ersten Rentengutachtens des Arztes für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. W vom 4. November 2003, in das auch ein neurologisches Zusatzgutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. D vom 19. August 2003 samt einer neuropsychologischen Untersuchung am 18. August 2003 durch die Diplom-Psychologin St sowie ein Zusatzgutachten des Facharztes für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Dipl.-Med. Br vom 28. Oktober 2003 eingeflossen waren, gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 09. März 2004 wegen der Folgen seines Wegeunfalles eine Rente als vorläufige Entschädigung in Form einer Gesamtvergütung für den Zeitraum vom 23. Juni 2003 bis zum 30. September 2004 nach einer MdE von 25 v.H.

Vom 26. Februar 2004 bis zum 4. März 2004 befand sich der Kläger erneut in stationärer Behandlung zu einer submukösen Resektion und plastischen Rekonstruktion des Nasenseptums.

Im Juni 2004 teilte der Kläger mit, er habe seine praktische Abschlussprüfung zum Koch nicht bestanden. Grund hierfür sei sein kaum noch vorhandener Geruchs- und Geschmackssinn. Am 20. Januar 2005 bestand der Kläger die praktische Nachprüfung zum Koch.

Die Beklagte veranlasste erneut die Begutachtung des Klägers und holte ein Gutachten des Dipl.-Med. B vom 22. Juli 2004 ein, der u. a. ausführte, bei dem Kläger liege eine Anosmie mit damit verbundener Beeinträchtigung des Geschmackssinns vor. Er sei in der Ausbildung zum Koch. Es sei anzunehmen, dass er die praktische Prüfung durch diese Beeinträchtigung nicht bestehe. Auch die Ausführung des Berufes als Koch sei mit der oben genannten Beeinträchtigung nicht vereinbar. Er bewerte die MdE für die Anosmie mit 20 v.H.

Die Beklagte holte weitere Gutachten der Fachärztin für Neurologie L vom 2. März 2005 sowie der Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Dr. K vom Februar 2005 ein. Die Ärztin L führte unter Einbeziehung des Gutachtens auf dem Gebiet der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde unter anderem aus, eine Beeinträchtigung des Riech- und Geschmackssinnes habe nicht objektiviert werden können. Damit seien aus sozialmedizinischer Sicht keine Umschulungsmaßnahmen erforderlich. Eine MdE bestehe nicht.

Mit Bescheid vom 05. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2005 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente über den Zeitraum der Gesamtvergütung hinaus ab und führte zur Begründung u. a. aus, eine MdE um mindestens 20 v.H., wie sie für eine Rentengewährung notwendig sei, lasse sich nicht mehr feststellen. Insbesondere habe die Geruchs- und Geschmacksstörung nicht mehr nachgewiesen werden können.

Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Cottbus zunächst die Oberärztin der Hals-Nasen-Ohren-Klinik des Klinikums E Dr. H zur Sachverständigen bestellt. Diese führte in ihrem Gutachten vom 28. September 2006 u. a. aus, bei dem Kläger lägen eine Hyposmie, eine geringgradige Nasenatmungsbehinderung sowie eine kosmetisch wenig störende Narbe im Bereich des Nasenrückens vor. Diese seien kausal auf den Unfall zurückzuführen. Eine MdE würde sich hierfür grundsätzlich nicht ergeben. Aufgrund des gewählten Berufsbildes (Koch) wäre ggfs. eine MdE zu diskutieren. Diese liege jedoch sicher nicht über 10 v.H. für die Riechstörung.

Der ebenfalls zum Sachverständigen bestellte Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D führte in seinem Gutachten vom 18. April 2007 u. a. aus, der Kläger leide unter einer Störung des Geruchssinnes (Hyposmie) mit damit verbundener Beeinträchtigung der Geschmackswahrnehmung. Eine völlige Aufhebung des Geruchssinns (Anosmie) lasse sich nicht feststellen. Leichte situationsabhängige Kopfschmerzen sowie eine leichte Nasenatmungsbehinderung bei körperlicher Belastung seien ohne gutachterliche Relevanz. Zweifelsfrei seien diese Gesundheitsstörungen auf den Unfall vom 4. März 2003 zurückzuführen. Die unfallbedingten Folgeschäden bewertete er mit einer MdE von 10 v.H.

Der außerdem als Sachverständiger bestellte Chirurg und Sozialmediziner Dr. B führte in seinem Gutachten vom 28. August 2007 u. a. aus, am Stütz- und Halteapparat lägen keine durch den Unfall vom 4. März 2003 bedingten Funktionseinschränkungen vor. Unabhängig von diesem Unfallgeschehen liege ein Zustand nach operativer Versorgung einer im Jahre 2003 erlittenen Strecksehnenverletzung des 5. Fingers links vor. Eine MdE ergebe sich nicht.

Mit Gerichtsbescheid vom 14. Juni 2010 hat das Sozialgericht Cottbus die Klage abgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt, die Erwerbsfähigkeit des Kläger sei nicht unfallbedingt in rentenberechtigendem Grade, also um mindestens 20 v.H., vermindert. Dies folge aus den Gutachten der Sachverständigen Dr. H, Dr. D und Dr. B. Zwar lägen bei dem Kläger eine leichte Nasenatmungsbehinderung bei körperlicher Belastung, eine kosmetisch wenig störende Narbe im Bereich des Nasenrückens sowie leichte situationsabhängige Kopfschmerzen, die jedoch keine gutachterliche Relevanz hätten, sowie eine Störung des Geruchssinnes (Hyposmie) ohne völlige Aufhebung des Geruchssinnes (Anosmie) mit damit verbundener Beeinträchtigung der Geschmackswahrnehmung, vor. Eine MdE in rentenberechtigendem Grade ergebe sich daraus jedoch nicht. Der Verlust der Geruchsempfindung allein werde mit einer MdE von 10 v.H. bemessen. Die Auswirkungen würden beim Aufheben der Geschmacksempfindung verstärkt. Eine MdE bis 15 v.H. erscheine gerechtfertigt. Nur wenn die Voraussetzungen des "besonderen beruflichen Betroffenseins" vorlägen, könne die MdE 10 bis 20 v.H. betragen. Vorliegend sei kein vollständiger Verlust der Sinne eingetreten, vielmehr bestehe "lediglich" eine Störung des Geruchssinnes.

Die MdE sei auch nicht gemäß § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII zu erhöhen. Nach dieser Vorschrift könnten bei der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit auch Nachteile berücksichtigt werden, die ein Versicherter dadurch erleide, dass er bestimmte erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Versicherungsfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen könne, soweit solche Nachteile nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung zugemutet werden könnte, ausgeglichen würden. Die Vorschrift bezwecke die Vermeidung unbilliger Härten. Eine solche Härte werde allerdings nicht durch beliebige berufliche Nachteile begründet. Der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung werde durch § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII nicht eingeschränkt. Ein Nachteil im Sinne der Vorschrift werde nicht allein dadurch begründet, dass der Versicherte den bisher ausgeübten Beruf infolge des Versicherungsfalls nicht weiter ausüben könne. Die Voraussetzungen der Regelung ließen sich also nicht im Wege einer konkreten Schadensbemessung bestimmen. Vorliegend sei der Kläger nicht gehindert, seinen Beruf auszuüben. Vielmehr habe er seine Ausbildung auch nach seinem Unfall und nach Eintritt der Unfallfolgen mit Erfolg abschließen können. Dass er die Prüfung im ersten Versuch nicht erfolgreich bestanden habe, spreche nicht gegen diese Bewertung. Das Bestehen einer Prüfung im zweiten Versuch sei kein Einzelfall und keineswegs auf gehandikapte Personen beschränkt.

Gegen den ihm am 21. Juni 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 20. Juli 2010 Berufung bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt.

Mit Beschluss vom 6. Dezember 2010 ist die Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege zum Verfahren beigeladen worden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid vom 14. Juni 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfalls vom 4. März 2003 über den 30. September 2004 hinaus eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladene beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweisen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils.

Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Rechtsweg:

SG Cottbus Gerichtsbescheid vom 14.06.2010 - S 7 U 148/05

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet. Er hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente über den 30. September 2004 hinaus, denn eine MdE in rentenberechtigendem Grade lässt sich nicht feststellen; eine Erhöhung der MdE ist auch nicht wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins des Klägers gerechtfertigt.

Anspruchsgrundlage für die Gewährung einer Verletztenrente ist § 56 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII). Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die sechsundzwanzigste Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Nach § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität - BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 11/04 R - BSGE 94, 262 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 14, jeweils RdNr 5; BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15, jeweils RdNr 5; BSG vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -, zitiert nach Juris).

Unstreitig hat der Kläger am 04. März 2003 auf dem Weg von seiner Arbeitsstätte nach Hause einen Unfall erlitten, der als Wegeunfall einen Arbeitsunfall darstellt. Die Beklagte hat diesen auch mit Bescheid vom 09. März 2004 anerkannt und dem Kläger eine Gesamtvergütung bis zum 30. September 2004 nach einer MdE von 25 v.H. gewährt. Dieser MdE lag u. a. eine deutlich eingeschränkte Nasenatmung beidseits zu Grunde, die durch die submuköse Resektion und die plastische Rekonstruktion des Nasenseptums behoben bzw. deutlich verringert wurde, wie sich aus den Gutachten der im Verfahren befragten Sachverständigen, insbesondere aus dem Gutachten der Dr. H vom 28. September 2006 ergibt. Danach bestanden bei dem Kläger im Anschluss an den Gesamtvergütungszeitraum lediglich noch eine Hyposmie, eine leichte Nasenatmungsbehinderung bei körperlicher Belastung sowie eine kosmetisch wenig störende Narbe im Bereich des Nasenrückens sowie leichte situationsbedingte Kopfschmerzen. Weitere Gesundheitsstörungen ließen sich nicht feststellen, insbesondere war auch eine Anosmie nicht nachweisbar.

Zur Überzeugung des Senats lässt sich über den 30. September 2004 hinaus eine MdE von wenigstens 20 v.H nicht mehr feststellen.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bezeichnet den durch die körperlichen, seelischen und geistigen Folgen des Versicherungsfalles bedingten Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 SGB VII). Steht die unfallbedingte Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt (BSG, Urteil vom 29. November 1956, Az: 2 RU 121/56, BSGE 4, 147, 149; Urteil vom 27. Juni 2000, Az: B 2 U 14/99 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 7; Urteil vom 02. Mai 2001, Az: B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Dabei sind die medizinischen und sonstigen Erfahrungssätze ebenso zu beachten wie die Gesamtumstände des Einzelfalles (vgl. BSG, Urteil vom 02. Mai 2001, Az. B 2 U 24/00, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Wie weit die Unfallfolgen bzw. die Folgen der anerkannten Berufskrankheit die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Versicherten beeinträchtigen, beurteilt sich in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Um die MdE einzuschätzen sind die Erfahrungssätze zu beachten, die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie versicherungsmedizinische Schrifttum herausgearbeitet haben. Auch wenn diese Erfahrungssätze das Gericht im Einzelfall nicht binden, so bilden sie doch die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (BSG, Urteil vom 26. Juni 1985, Az: 2 RU 60/84, SozR 2200 § 581 Nr. 23; Urteil vom 26. November 1987, Az: 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr. 27; Urteil vom 30. Juni 1998, Az: B 2 U 41/97 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 5; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 SGB VII Rn. 10.3). Sie sind in Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und bilden die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet. Hierdurch wird gewährleistet, dass alle Betroffenen nach einheitlichen Kriterien begutachtet und beurteilt werden. Insoweit bilden sie ein geeignetes Hilfsmittel zur Einschätzung der MdE (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000, Az: B 2 U 49/99 R, HVBG-INFO 2001, 499, 500 ff.).

Ausgehend von einer Hyposmie wäre, da auch die anderen Unfallfolgen eine MdE nicht bedingen, eine MdE nicht festzustellen, da die Hyposmie nicht mit einer MdE zu bewerten ist. Selbst wenn man unterstellt, dass der Kläger tatsächlich, was so im Verfahren jedoch nicht nachzuweisen war, unter einer Anosmie leidet, würde die MdE lediglich 15 v.H. betragen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, 2010, Kapitel 5.12, Seite 263) und damit nicht zu einem Anspruch auf Verletztenrente führen.

Eine Erhöhung der MdE kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer besonderen beruflichen Betroffenheit nach § 56 Abs. 2 s. 3 SGB VII in Betracht. Danach sind bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen, die der Versicherte dadurch erleidet, dass er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten ausgeglichen werden, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann.

Allerdings lässt diese unfallversicherungsrechtliche Regelung, bei der regelmäßig Erhöhungen von 10 bis 20 v.H. in Betracht kommen (BSGE 70, 47, 51 = SozR 3-2200 § 581 Nr. 1) keine allgemeine Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit - etwa entsprechend den Grundsätzen des § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes - zu. Eine derartige Auslegung widerspräche der Systematik des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung, das für die Bemessung der Verletztenrente anders als das Versorgungsrecht (für Beschädigtengrundrenten) nicht lediglich ohne Rücksicht auf Alter oder Einkommen des Beschädigten allein nach der Höhe der MdE zu gewährende Pauschalsätze, sondern (auch) den individuelleren Maßstab des vom Verletzten während des letzten Jahres vor dem Unfall verdienten Arbeitsentgelts vorsieht. Eine allgemeine Berücksichtigung des "besonderen beruflichen Betroffenseins" würde daher in der gesetzlichen Unfallversicherung regelmäßig zu einer doppelten Berücksichtigung des Berufs führen (vgl. BSGE 70, 47, 48).

Die eine Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile liegen im Rahmen des § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII aber dann vor, wenn unter Wahrung des in der Unfallversicherung geltenden Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung, der durch § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII nicht eingeschränkt wird (BSGE 23, 253, 254), die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde (stRspr seit BSGE 23, 253, 255 = SozR aaO; vgl auch BSGE 31, 185, 188 = SozR aaO; BSGE 38, 118, 119 = SozR 2200 § 581 Nr 2; BSGE 39, 31, 32 = SozR aaO; BSG SozR Nrn 10 und 12 zu § 581 RVO; BSG SozR 2200 § 581 Nrn 18 und 27). Selbst wenn der Verletzte seinen erlernten Beruf infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr ausüben kann, muss dies daher nicht zwangsläufig zur Erhöhung der MdE führen (vgl BSGE 39, 31, 32 = SozR aaO mwN). Auch dass erst bei einer Erhöhung der MdE nach § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII ein Verletztenrentenanspruch begründet werden kann, stellt für sich noch keine derartige unbillige Härte dar (vgl BSG SozR 2200 § 581 Nr 18 mwN).

Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob eine höhere Bewertung der MdE zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt ist, hat das BSG vielmehr insbesondere das Alter des Verletzten (BSGE 4, 294, 299), die Dauer der Ausbildung (BSG SozR Nr 10 zu § 581 RVO) sowie vor allem die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit (BSGE 4, 294, 298; BSG SozR Nrn 9 und 10 zu § 581 RVO) und auch den Umstand bezeichnet, dass die bisher verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete (BSG SozR Nrn. 10 und 12 zu § 581 RVO). Aus diesen Merkmalen und den außerdem zu beachtenden sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalles kann sich eine höhere Bewertung der MdE nach § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII ergeben, wenn der Verletzte die ihm verbliebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens verwerten kann (BSGE 70, 47, 49). Die einzelnen Umstände des jeweiligen Falles sind dabei nicht isoliert, sondern in ihrer Gesamtheit zu beurteilen. Eine allgemeine Regel, wie dies jeweils mit welchem Ergebnis zu geschehen hat, lässt sich hierfür nicht aufstellen (BSGE 23, 253, 255). Verfügt der Verletzte indes über sonstige Fähigkeiten, die geeignet sind, die unfallbedingt nicht mehr oder nicht mehr in vollem Umfang nutzbaren besonderen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen auszugleichen, kommt eine Erhöhung der MdE gemäß § 56 Abs. 2 S. 3 SGBV II nicht in Betracht, sofern dem Verletzten die Nutzung dieser Fähigkeiten zugemutet werden kann; dies schließt die zumutbare Aneignung solcher Fähigkeiten durch eine Umschulung ein (vgl. BSG Urteil vom 31. Oktober 1972 - 2 RU 169/70 - und zum Ganzen BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 6).

Bei Anwendung dieser von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass hier - wie das SG rechtlich zutreffend ausgeführt hat - das Vorliegen einer unbilligen Härte im Sinne des § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII zu verneinen ist.

Weder sprechen das Alter des Verletzten noch die Dauer der Ausbildung oder vor allem die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit zum Unfallzeitpunkt für ein solches besonders berufliches Betroffensein. Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt 20 Jahre alt, befand sich in der Mitte seiner Berufsausbildung und hatte den - durch Ablegung der Abschlussprüfung im Januar 2005 - gewählten Beruf noch nicht ausgeübt. Die bisher verrichtete Tätigkeit als Auszubildender in einer Großkantine hatte ihm auch noch keine besonders günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistet.

Ein besonderes berufliches Betroffensein liegt damit - auch ohne die zutreffenden Erwägungen des erstinstanzlichen Gerichts, dass der Kläger trotz der Unfallfolgen seine Prüfung zum Koch erfolgreich, wenn auch verzögert abschließen konnte - nicht vor. Eine Erhöhung der MdE kommt damit nicht in Betracht, eine MdE in rentenberechtigendem Grade ist damit nicht gegeben. Die Berufung ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG vorliegt.

Referenznummer:

R/R3819


Informationsstand: 07.03.2012