Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23. November 2009 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger aufgrund seines Rentenantrags vom 12. November 2007 gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zusteht.
Der am 1961 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger, er ist verheiratet. Von Geburt an leidet er an einer conterganbedingten Fehlbildung beider oberer Extremitäten mit Hypoplasie mehrerer Röhrenknochen (stark verkürzte Arme mit nur rudimentär angelegten Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenken beidseits mit nur drei
bzw. vier Fingern und reduzierter Greiffunktion). Ihm ist ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen H und G zuerkannt.
Nach Abschluss der Hauptschule absolvierte er bis vom 27. September 1978 bis zum 29. Juni 1991 eine schulische Ausbildung zum Nachrichtengerätemechaniker; anschließend war der Kläger arbeitslos. Vom 1. Juli 1982 bis zum 31. Oktober 1982 war der Kläger dann als Telefonist/ Schreibkraft beschäftigt und anschließend erneut arbeitslos. Vom 12. März 1984 bis zum 14. April 1986 absolvierte der Kläger eine schulische Umschulung/ Fortbildung zum Informationselektroniker. Nach einer erneuten Arbeitslosigkeit bis 30. Juni 1997 war der Kläger im Rahmen eines Behindertenprogramms befristet vom 1. Juli 1997 bis zum 7. August 1999 bei Siemens versicherungspflichtig beschäftigt. Er war mit der Prüfung und Fehlersuche auf Baugruppen der elektronischen Vermittlung betraut. In der Folge war der Kläger arbeitslos, lediglich im Jahr 2007 war der Kläger im Rahmen eines Ein-Euro-Jobs stundenweise (vormittags und nachmittags jeweils eine Stunde) als Beifahrer bei einem Schülertransport des ASB eingesetzt. Gelegentlich half der Kläger an einer Minigolfanlage stundenweise aus. Zuletzt bezog der Kläger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Vom 23. Februar 1999 bis zum 30. März 1999 befand sich der Kläger auf Kosten der Beklagten in einer stationären medizinischen Rehabilitation in der Rehabilitationsklinik Sonnenhalde in Donaueschingen. Der Entlassungsbericht vom 6. April 1999 teilt mit, der Kläger klage weiterhin über fehlende Ausdauerbelastbarkeit. Deshalb sei er für weitere Zeit arbeitsunfähig entlassen worden. Trotz erheblicher Körperbehinderung bestehe aber ein Restleistungsprofil mit entsprechender behindertengerechter Qualifikation. Der Kläger könne vollschichtig leichte körperliche Tätigkeiten durchführen ohne Anforderungen an die Hände, ohne Hebe-/Tragebelastung, nicht in häufig stehender sowie in häufig gebückter Haltung.
Ein Gutachten des MDK vom 23. November 1999 führt u.a. aus, dass beide Arme und Hände praktisch nicht funktionsfähig seien. Eine Vermittlung in eine Arbeit mit wirtschaftlichem Wert sei nicht möglich. Eine frühere (vollschichtige) Leistungseinschätzung werde revidiert.
Einen Rentenantrag vom 22. April 1999 lehnte die Beklagte unter Hinweis darauf, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit nicht erfüllt seien, mit Bescheid vom 6. Oktober 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. März 2000 ab.
Vom 30. Mai 2000 bis zum 16. Juni 2000 gewährte die Beklagte dem Kläger eine Berufsfindung und Arbeitserprobung im BfW Heidelberg. Der Abschlussbericht vom 3. Juli 2000 führt aus, dass aufgrund der behinderungsbedingten Einschränkungen berufsrehabilitative Maßnahmen im Sinne einer Weiterbildung nicht möglich seien. Trotz Einsatzes technischer Hilfsmittel habe der Kläger den Erprobungstag nicht
bzw. nur mit häufigen Entlastungspausen durchgehalten. Die diskutierten Berufe im Bereich Wirtschaft und Verwaltung auf Kammerebene sowie der Beruf des Fachinformatikers und Mediengestalters für Digital- und Printmedien seien nicht erfolgsversprechend. Auch eine Weiterbildung zum Jugend- und Heimerzieher sei nicht behinderungsadäquat. Es könnten daher keine konkreten Vorschläge zur beruflichen Wiedereingliederung gegeben werden. Aufgrund der bestehenden Gelenk- und Rückenbeschwerden und der damit verbundenen Schmerzsymptomatik sei auch eine leidensgerechte Einarbeitung
bzw. Anlernung kaum zu realisieren.
Einen weiteren Rentenantrag vom 18. Juli 2000 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2001 ab; der Kläger sei noch in der Lage, eine der letzten Tätigkeit vergleichbare Arbeit vollschichtig auszuüben. Er sei daher weder erwerbs- noch berufsunfähig. Auch bestehe kein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 1. Januar 2001 geltenden Recht. In dem hiergegen geführten Klageverfahren beim Sozialgericht Karlsruhe (SG; S 9 RJ 381/01) haben
Prof. Dr. Schm. und
Dr. Sch. in ihrem gemeinsamen arbeitsmedizinischen Gutachten vom 6. Dezember 2002 ausgeführt, dass der Kläger für eine klassische Tätigkeit als Informationselektroniker mit der Anforderung von diffiziler manueller Kleinarbeit von vornherein eigentlich nie geeignet gewesen sei. Bedenke man aber den Wandel der Anforderungsprofile in vielen Berufsfeldern durch neuere, möglicherweise vollautomatisierte, computergestützte Montage- und Prüfverfahren, lasse sich theoretisch eine für Informationselektroniker spezifische Prüftätigkeit vorstellen, bei welcher zwar der berufsspezifische Sachverstand für bestimmte Entscheidungen gebraucht werde, aber nicht die manuelle Geschicklichkeit. Entsprechendes gelte mit Blick auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Körperlich leichte Tätigkeiten seien zumutbar, sofern insbesondere keine Zwangshaltung des Oberkörpers,
z.B. durch ausgedehnte manuelle Betätigung ohne Spezialausrüstung, aufträten. Der Kläger müsse die Gelegenheit für häufigere (
ca. einmal pro 30 bis 60 Minuten) kurze Unterbrechungen für Lockerungsübungen oder Entspannungsgymnastik haben. Heben und Tragen von Lasten, Akkordarbeit oder fremdgesteuerter fester Arbeitstakt seien ausgeschlossen. Unter diesen Voraussetzungen sei eine vollschichtige Tätigkeit möglich. Jedoch habe der Kläger beim An- und Auskleiden beim Öffnen des Hosenknopfes Hilfe benötigt. Der Kläger hat die Klage in der mündlichen Verhandlung vom 22. Mai 2003 zurückgenommen.
Mit Beschluss vom 13. Dezember 2001 stellte der Rehabilitations-Beratungsdienst Mannheim fest, nachdem auch das BfW Heidelberg keine erfolgsversprechenden beruflichen Ansatzmöglichkeiten gefunden habe und realistische Vermittlungschancen wohl nicht bestünden, wolle der Kläger das Rentenverfahren betreiben.
Dr. Gr. hat in einem im Auftrag des SG (S 11 P 1976/01) erstellten orthopädischen Pflegegutachten vom 19. Dezember 2003 ausgeführt, dass dem Kläger der Toilettengang nicht alleine möglich sei, auch das Entkleiden gelinge mühsam und nur mit der Hilfe der Ehefrau.
Am 12. November 2007 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zu seinem Antrag gab der Kläger an, sich wegen seiner Conterganschädigung seit 2003 für erwerbsgemindert zu halten.
Die Beklagte beauftragte den Arzt für Orthopädie
Dr. K. mit der Erstellung eines Gutachtens. In seinem Gutachten vom 9. Januar 2008 führte
Dr. K. aus, der Kläger könne noch unter Berücksichtigung bestimmter qualitativer Leistungseinschränkungen täglich eine leichte Arbeit in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden und mehr ausüben. Die Hygienereinigung führe seine Mutter durch.
Mit Bescheid vom 8. Februar 2008 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab; der Kläger sei nicht erwerbsgemindert. Mit seinem am 4. März 2008 erhobenen Widerspruch machte der Kläger u.a. geltend, er sei gesundheitlich nicht mehr in der Lage, täglich mindestens sechs Stunden zu arbeiten. Jedenfalls scheide eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes aus. Es liege eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, sodass er nicht einfach auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 9. September 2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zwar liege beim Kläger eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Trotzdem könne der Kläger aber noch mindestens sechs Stunden täglich als Mitarbeiter in einem Call-Center (mit Headset), als Museumsaufsicht und als Pförtner an der Nebenpforte tätig sein.
Hiergegen hat der Kläger am 26. September 2008 beim SG Klage erhoben. Zur Begründung hat er u.a. ausgeführt, er könne nicht lange Zeit sitzen und müsse seine Haltung regelmäßig wechseln, sich sogar zwischenzeitlich hinlegen. Auch sei er ohne fremde Hilfe nicht in der Lage, seine Hose an- und auszuziehen; er benötige für das Aufsuchen einer Toilette eine Hilfsperson. Zu Hause unterstützten ihn dabei seine Ehefrau und seine Mutter; außerdem sei es ihm dort möglich, eine Jogginghose mit Gummizug zu tragen, der er sich zur Not selbst entledigen könne.
Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der den Kläger behandelnden Ärzte; wegen des Inhalts der Auskünfte wird auf Bl. 36 bis 51 der SG-Akte Bezug genommen. Der Arzt für Chirurgie/ Sprotmedizin
Dr. Br. hat dem SG unter dem Datum des 9. März 2009 mitgeteilt, eine körperlich leichte Berufstätigkeit sei möglich, sofern sie aufgrund der biomechanischen Einschränkungen durchführbar sei. Der Facharzt für Innere Medizin/ Rheumatologie
Dr. Be. hat dem SG mit Schreiben vom 10. März 2009) mitgeteilt, er könne die Leistungsfähigkeit des Klägers aktuell nicht beurteilen. Der Arzt für Allgemein- und Sportmedizin
Dr. Häussler hat gegenüber dem SG mit Schreiben vom 13. März 2009 angegeben, die von ihm erhobenen Befunde schlössen die vollschichtige Verrichtung auch einer leichten körperlichen Tätigkeit aus. Der Nervenarzt
Dr. U. hat dem SG unter dem Datum des 23. März 2009 mitgeteilt, die Kontakte zum Kläger hätten jeweils unter dem Gesichtspunkt "Canabis" gestanden. Die Leistungsfähigkeit sei nicht thematisiert worden.
Das SG hat des Weiteren Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens bei
Dr. W ... Wegen des Inhalts des Gutachtens wird auf Blatt 64 bis 93 der SG-Akte Bezug genommen.
Dr. W. hat in seinem Gutachten vom 22. September 2009 ausgeführt, der Kläger könne noch leichte körperliche Tätigkeiten, ausführen. Unter Berücksichtigung eines optimalen, behindertengerechten Arbeitsplatzes, sowie einer Hilfsperson, die bei der Toilettenhygiene, beim An- und Auskleiden und
ggf. auch bei der Essenszubereitung helfe, könne der Kläger aus rein orthopädischer Sicht im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche acht Stunden täglich maximal tätig sein. Beim Kläger ergäben sich bei einer Berufsausübung jedoch zwei Hauptprobleme: Aus orthopädischer Sicht müsse ein Arbeitsplatz gefunden werden, der mit den starken Funktionsbeeinträchtigungen der Arme ausgeführt werden könne. Aus allgemeinärztlicher Sicht sei der Kläger bei der Toilettenhygiene und beim An- und Auskleiden auf eine Hilfsperson angewiesen. Nur wenn eine solche Hilfestellung gewährleistet sei, sei der Kläger vollschichtig arbeitsfähig. Fehle eine entsprechende Hilfsperson, sei der Kläger nur noch in der Lage, drei bis vier Stunden täglich eine leichte körperliche Tätigkeit mit qualitativen Einschränkungen auszuüben. Diese festgestellte Leistungsfähigkeit bestehe seit 2007.
Mit Urteil vom 23. November 2009 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 8. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. September 2008 verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. November 2007 bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze zu gewähren. Beim Kläger bestehe eine schwere spezifische Leistungsbehinderung. Die von der Beklagten zuletzt noch benannte Tätigkeit eines Pförtners an der Nebenpforte lasse sich mit der schweren spezifischen Leistungsbehinderung des Klägers nicht vereinbaren. Ausgeschlossen sei die Tätigkeit eines (Neben-)Pförtners jedenfalls auch deshalb, weil der Kläger aufgrund der Verkürzung seiner Arme seine Hose nicht allein öffnen und schließen könne; auch zur Entgegennahme von Schriftstücken oder Gegenständen benötige der Kläger Hilfe Dritter. Zum Aufsuchen einer Toilette benötige er Unterstützung durch eine Hilfsperson. Das Tragen einer Jogginghose - derer er sich
ggf. selbst entledigen könne - komme wegen der Wahrung des äußeren Erscheinungsbildes bei einer Tätigkeit als Pförtner nicht in Betracht. Es sei vom Kläger nicht zu erwarten, einen Arbeitstag als Pförtner mit einer Dauer von mindestens sechs Stunden ohne Aufsuchen einer Toilette zu bestreiten. Benötige er hierfür aber eine Hilfsperson, so handele es sich um eine Bedingung, die nicht arbeitsmarktüblich sei. Die Rente sei nicht zu befristen, sie beginne gemäß § 99
Abs. 1 Satz 2
SGB VI in dem Kalendermonat, in dem die Rente beantragt werde.
Gegen das ihr am 2. Dezember 2009 zugestellte Urteil des SG hat die Beklagte am 9. Dezember 2009 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (
LSG) Berufung eingelegt. Die Entscheidung des SG, der Kläger sei voll erwerbsgemindert, werde akzeptiert. Allerdings ergebe sich aus dem Urteil nicht, wann der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung eingetreten sei. Weder aus dem Gutachten des
Dr. W. noch aus dem Urteil gehe hervor, in welchem Monat des Jahres 2007 Erwerbsminderung eingetreten sei. Das SG gehe wohl von einer verspäteten Rentenantragstellung aus, sodass das SG vermutlich einen Leistungsfall vor dem 1. August 2007 annehme. Ohne eine entsprechende Präzisierung des Leistungsfalles sei das Urteil jedenfalls nicht ausführbar. Auch könne nur abhängig vom Leistungsfall geprüft werden, ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung erfüllt seien. Der Kläger habe die allgemeine Wartezeit zwar am 1. Januar 1998 erfüllt, die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung lägen jedoch nur vor, wenn der Leistungsfall ab dem 2. Juni 2000 eingetreten wäre. Zwar führe
Dr. W. aus, die festgestellte Leistungsfähigkeit bestehe seit 2007. Demgegenüber sei bei Betrachtung des gesamten medizinischen Beweisergebnisses seit der erstmaligen Rentenantragstellung im Jahr 1999 festzustellen, dass sich bereits in der Vergangenheit immer wieder Hinweise darauf ergeben hätten, dass der Kläger insbesondere beim Toilettengang eine Hilfsperson benötige. Es stelle sich die Frage, ob der Kläger nicht bereits vor dem Zeitpunkt der erstmaligen Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen am 2. Juni 2000 oder gar vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit am 1. Januar 1998 außer Stande gewesen sei, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein, da er bereits im Jahr 1999 auf die Notwendigkeit einer Hilfsperson hingewiesen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23. November 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hat ausgeführt, er könne sich der Auffassung der Beklagten nicht anzuschließen. Das SG stütze sich auf das Gutachten des
Dr. W., der ausgeführt habe, dass die Leistungsfähigkeit seit 2007 gemindert sei. Da die Rente am 12. November 2007 beantragt worden sei, habe das SG
gem. § 99
Abs.1
SGB VI einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung erst zu Beginn des Monates November festsetzen können.
Der Senat hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der den Kläger behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen sowie einer ergänzenden Befragung des Gutachters
Dr. W ... Wegen des Inhalts der Auskünfte wird auf Bl. 30 bis 45 der Senatsakte Bezug genommen.
Dr. U. hat dem Senat mit Schreiben vom 1. Juni 2010 mitgeteilt, dass er zur Leistungsfähigkeit keine Auskünfte geben könne. Dasselbe hat auch
Dr. Be. angegeben.
Dr. Br. hat unter dem Datum des 10. Juni 2010 mitgeteilt, er schließe sich dem ihm überlassenen Gutachten von
Dr. W. an; das geminderte Leistungsvermögen bestehe schon seit Ende 2007.
Dr. Ho. hat dem Senat am 14. Juni 2010 mitgeteilt, schon die normalen Alltagstätigkeiten, wie Hygiene, Ankleiden und Nahrungsaufnahme führten zu so starken Belastungen, dass kein positives Leistungsbild erstellt werden könne. Erschwerend komme eine Depression (z.Zt. in Form einer mittelgradigen depressiven Episode) hinzu. Beim Kläger liege Erwerbsunfähigkeit vor. Im Laufe der letzten zwei Jahre habe sich der Gesundheitszustand des Klägers deutlich verschlechtert, sodass kein genauer Zeitpunkt des negativen Leistungsbildes,
bzw. des Leistungsunvermögens festgestellt werden könne.
Dr. W. hat mit Schreiben vom 16. Juni 2010 mitgeteilt, die aus der Armschädigung resultierenden Leistungseinschränkungen seien seit Geburt vorhanden. Das von ihm in seinem Gutachten festgestellte Leistungsvermögen bestehe zumindest seit Beantragung einer Rente im November 2007. Konkret - unter Berücksichtigung der aktenkundigen Vorbefunde - bestehe das eingeschränkte Leistungsvermögen jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit in dieser Form bereits seit Februar 1999.
Zur Beweisaufnahme hat die Beklagte ausgeführt, unabhängig von der Fähigkeit zum selbständigen An- und Ausziehen der Hose habe der Kläger bereits im Jahr 1999 fremde Hilfe bei der Hygiene nach dem Toilettengang benötigt.
Der Kläger hat dagegen ausgeführt, die Auskünfte belegten, dass zusätzlich zu der schweren Contergan-Schädigung an beiden oberen Extremitäten zunehmend weitere orthopädische gesundheitliche Beeinträchtigungen aufgrund einer überdurchschnittlich hohen Beanspruchung der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie der Hüfte und der Knie hinzugekommen seien. Seit November 2007 sei er auf eine Dauertherapie mit Schmerztabletten angewiesen. Ergänzend komme noch hinzu, dass er zwar im Jahre 2000 noch eine Trainingshose ohne Reißverschluss und Hosenknopf selbständig habe an- und ausziehen können, dies jedoch seit 2006 auch nicht mehr selbständig erledigen könne. Dementsprechend sei er für jede Art von Tätigkeit bei einem Toilettengang auf eine Hilfsperson angewiesen mit der Folge, dass eine weitere nicht arbeitsmarktübliche Leistungseinschränkung vorliege. Folgerichtig sei er spätestens ab November 2007 erwerbsgemindert; der Leistungsfall sei erst nach dem 2. Juni 2000 eingetreten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akte des Senats sowie die beigezogenen Akten des SG und der Beklagten Bezug genommen.
Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.
Die
gem. §§ 143, 144
Abs. 1
SGG statthafte Berufung ist zulässig, sie ist form- und fristgerecht § 151
Abs. 1
SGG eingelegt. Sie ist begründet.
Mit der Berufung wendet sich die Beklagte gegen die Aufhebung ihres Bescheids vom 8. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. September 2008 sowie die Verurteilung zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. November 2007 auf die zulässige und vom Kläger erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54
Abs. 1
i.V.m. Abs. 4
SGG) hin.
Das SG hat bei seiner Entscheidung nicht beachtet, dass für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung im Urteil nicht nur die Art der Rente (hier: Rente wegen voller Erwerbsminderung) und der Beginn der Rente (hier nach SG: 1. November 2008) festzustellen ist. Es ist auch der zeitliche Eintritt des Leistungsfalles (Versicherungsfall), der mit dem Beginn der Rente nicht übereinstimmen muss, festzustellen. Nur aufgrund dieser Feststellung kann der Rentenversicherungsträger überhaupt in die Lage versetzt werden, eine Rente zu berechnen (
vgl. § 59 (
vgl. dort insbesondere:
Abs. 2
Nr. 1)
SGB VI, § 75
Abs. 2
Nr. 1
SGB VI, letztlich auch § 71
SGB VI). Des Weiteren hat die zeitliche Feststellung des Eintritts der Erwerbsminderung auch nicht nur Bedeutung für den Beginn der Rente (
vgl. § 99
Abs. 1
SGB VI) - was das SG gesehen hat - sondern auch für das Entstehen des Leistungsanspruchs überhaupt. Denn nach § 43
Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 und
Nr. 3
bzw. Abs. 2 Satz 1
Nr. 2
Nr. 3
SGB VI, § 240
SGB VI setzt ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente voraus, dass zum Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung bestimmte versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt sind. Alleine der Hinweis des SG "Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Rente wegen voller Erwerbsminderung (sog. 3/5-Belegung und Erfüllung der allgemeinen Wartezeit) liegen hier unstreitig vor." genügt hierzu nicht.
Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach den §§ 43
Abs. 1 und
Abs. 2, 240
SGB VI haben nur solche Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit frühestens ab dem Zeitpunkt der Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§§ 43
Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 und 3,
Abs. 2 Satz 1
Nr. 2 und 3,
Abs. 4, 240
Abs. 1 Satz 1
SGB VI) unter das nach §§ 43
Abs. 1 bis 3, 240
SGB VI zu bestimmende Maß herabgesunken ist. Maßgeblich ist daher, ob spätestens im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles der Erwerbsminderung der Versicherte in den letzten davor liegenden fünf Jahren drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Dabei kommt es auf das Vorliegen von Pflichtbeitragszeiten im Umfang von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nach § 43
Abs. 5
SGB VI nicht an, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist. Insoweit setzt die Rentengewährung - entsprechend dem in § 43
SGB VI verwirklichten Versicherungsprinzip - voraus, dass zuerst Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden und der rentenberechtigende Versicherungsfall dann später eintritt.
Versicherte, bei denen der Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung bereits zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, in dem die allgemeine Wartezeit des § 50
Abs. 1
SGB VI noch nicht erfüllt war, also die versicherungsrechtlichen Voraussetzung einer Rentengewährung nach § 43
Abs. 2 Satz 1
Nr. 3
SGB VI noch nicht erfüllt sind, haben nach § 43
Abs. 6
SGB VI - als Ausnahme zu dem in §§ 43
Abs. 1 und 2, 240
SGB VI verwirklichten Versicherungsprinzip - dann Anspruch auf eine volle Rente wegen Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben (§ 43
Abs. 6
SGB VI). Die Vorschrift ermöglicht es Versicherten - im Besonderen profitieren schwerbehinderte Menschen -, die bereits bei Eintritt in die gesetzliche Rentenversicherung oder vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, eine Rente zu erhalten, die auf Beiträgen beruht, die erst nach dem Eintritt des Versicherungsfalles der vollen Erwerbsminderung entrichtet wurden (dazu
vgl. Gabke in jurisPK-SGB VI, § 43
Rdnr. 69). Voraussetzung ist auch, dass die volle Erwerbsminderung seit ihrem Eintritt ununterbrochen vorgelegen hat (Grabke a.a.O.
Rdnr. 70).
Der Kläger war nach Überzeugung des Senats zu keinem Zeitpunkt erwerbsfähig, denn er war zu keinem Zeitpunkt in der Lage, unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes selbst einen auf seine Behinderung im Wege von Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben nach den §§ 9
Abs. 1, 16
SGB VI eingerichteten Arbeitsplatz auch nur drei Stunden täglich wettbewerbsfähig zu verrichten. Diese volle Erwerbsminderung bestand durchgängig.
Der Kläger hat nur extrem verkürzte Arme und nur wenige Finger, mit denen er nur sehr eingeschränkt greifen kann. Sämtliche Tätigkeiten, bei denen Greifen und Halten oder sonst ein Einsatz der Finger erforderlich ist, kann der Kläger nicht ausüben. Dies konnte er noch nie. Auch war der Kläger im Hinblick auf seine Wirbelsäulenbeschwerden, die vorhanden Schmerzen und das allgemeine Durchhaltevermögen zu keinem Zeitpunkt auch nur in geringem Umfang erwerbsfähig. Denn insoweit ist aus dem Abschlussbericht des BfW Heidelberg zu entnehmen, dass der Kläger auch Arbeiten unter angepassten Bedingungen eines Erwerbslebens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht
bzw. nur mit häufigen Entlastungspausen durchführen konnte. Es konnten auch keine konkreten Vorschläge zur beruflichen Wiedereingliederung gegeben werden, da auch aufgrund der bestehenden Gelenk- und Rückenbeschwerden und der damit verbundenen Schmerzsymptomatik eine leidensgerechte Einarbeitung
bzw. Anlernung kaum zu realisieren war. Auch
Prof. Dr. Schm. und
Dr. Sch. haben in ihrem Gutachten vom 6. Dezember 2002 ausgeführt, dass der Kläger für eine klassische Tätigkeit als Informationselektroniker mit der Anforderung von diffiziler manueller Kleinarbeit von vornherein eigentlich nie geeignet gewesen sei. Dies hat auch der Sozialmediziner der Beklagten,
Dr. Schl., in einer ärztlichen Stellungnahme vom 16. Oktober 2001 zutreffend ausgeführt: Denn der Kläger - so
Dr. Schl. - habe zwar in entsprechenden Rehabilitations- u. Berufsbildungseinrichtungen Ausbildungen
bzw. Umschulungen durchlaufen, dann behinderungsbedingt jedoch lange keine Gelegenheit gehabt die Leistung wirklich an einem konkreten Arbeitsplatz umzusetzen. Da auch die Ausbildungen nicht betrieblich durchgeführt worden waren, sei es somit bis zur Aufnahme der Tätigkeit als Prüfer von Telefonplatinen im Juli 1997 und bis zur Arbeitsunfähigkeit im März 1999 nie zu einer konkreten Arbeitsbelastung unter üblichen Bedingungen eines berufsspezifischen Arbeitsplatzes gekommen. Durch die Arbeitsaufnahme und nachfolgend hätten sich Rücken- und Gelenkbeschwerden gezeigt, die als Überlastungserscheinungen aufgrund der Missbildung des Bewegungsapparates gedeutet wurden. Auch wenn
Dr. Schl. keine degenerativen knöchernen Veränderungen festgestellt hat, ist aus diesem Gutachten zu schließen, dass auch er den Kläger nicht in der Lage gesehen hat, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes eine konkurrenzfähige Beschäftigung auszuüben. Denn er führt weiter aus, dass die Problematik der Überlastung des Bewegungsapparates zur Kompensation der Einschränkung der Arme zwar seit dem Vorhandensein der Behinderung bestünde, jedoch nur "dank" der fehlenden Inanspruchnahme - gemeint ist wohl eine Beanspruchung durch eine berufliche Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes - nie in Erscheinung getreten sei.
Dr. Schl. führt dann aus, dass es schon immer eines speziellen Arbeitsplatzzuschnittes bedurft habe, denn der Kläger sei nie in der Lage gewesen, sämtliche Arbeitsbereiche eines Nachrichtengerätemechanikers oder Informationselektronikers in voller Breite auszuführen.
Dr. Schl. gibt dann auch an: "Hätte der Versicherte eine ähnliche Tätigkeit 10 Jahre früher ausgeführt, wäre bei der jetzt bekannten Neigung zu rascher Dekompensation und Überlastung des Bewegungsapparates auch damals davon auszugehen gewesen, dass diese Dekompensation innerhalb weniger Monate eingetreten wäre. Ein stabiles Leistungsvermögen für eine Tätigkeit wie die zuletzt durchgeführte über einen längeren Zeitraum konnte nie angenommen werden. Ein stabiles Leistungsvermögen bestand immer nur für Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung mit behindertengerechter Zurichtung des Arbeitsplatzes, d.h. zum Beispiel einer Anpassung an den sehr kleinen Greifraum (ohne Vorbeugung)."
Aus der Zusammenschau der medizinischen Unterlagen, insbesondere aus den gerade dargestellten Aussagen, leitet der Senat seine Überzeugung ab, dass der Kläger zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd in der Lage war, unter arbeitsmarktüblichen Bedingungen wettbewerbsfähig - auch nur stundenweise - tätig sein zu können. Der Senat sieht sich im Ergebnis durch den Hinweis des Gutachters
Dr. W. auf die beim Kläger bestehenden "zwei Hauptprobleme" bestätigt. Denn daraus kann nur abgeleitet werden, dass dem Kläger schon immer eine wettbewerbsfähige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verschlossen war. Auch konnte die Beklagte keine geeignete Verweisungstätigkeit benennen, sodass zu keiner Zeit Erwerbsfähigkeit angenommen werden konnte; dieser Zustand bestand durchgängig.
Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger bei Siemens gearbeitet hatte. Denn im Rahmen eines Behindertenprogramms war er nur vergönnungsweise beschäftigt worden. Aus einer derartigen, angepassten Beschäftigung kann nicht abgeleitet werden, dass der Kläger wettbewerbsfähig und unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes hatte tätig werden können. Insoweit ist der Senat auch nicht an die Selbsteinschätzung des Klägers, der sich ursprünglich als erwerbsfähig gesehen hat, gebunden.
War der Kläger also noch nie erwerbsfähig, kommt eine Rentengewährung nach §§ 43
Abs. 1 und 2, 240
SGB VI nicht in Betracht. Auch ist damit Erwerbsminderung nicht im Sinne des § 43
Abs. 5
SGB VI aufgrund eines Tatbestandes eingetreten, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist, denn der Kläger hat - bei nie vorhandener Erwerbsfähigkeit - auch keinen der Tatbestände des § 53
SGB VI verwirklicht.
Eine Rentengewährung - insoweit beschränkt sich ein Rentenanspruch ausschließlich auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung - kommt daher nur unter den Voraussetzungen des § 43
Abs. 6
SGB VI in Betracht. Da der Kläger derzeit die Wartezeit von 20. Jahren (§ 50
Abs. 2
SGB VI i.V.m. § 51
Abs. 1 und
Abs. 4, § 54
Abs. 1
Nr. 1 und
Abs. 2, § 55 ) noch nicht erfüllt hat - er verfügt derzeit nur über 215 anrechenbare Monate -, kommt eine Rentengewährung nach dieser Vorschrift derzeit noch nicht in Betracht.
Damit war das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG. Dabei hat der Senat im Rahmen seines Ermessens berücksichtigt, dass auch die Berufung im Ergebnis erfolgreich war und zur Abweisung der Klage geführt hat.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160
Nr. 1 und 2
SGG).