Urteil
Arbeitsunfall - Posttraumatische Belastungsstörung - Verursachungsbeiträge mehrerer Raubüberfälle - Vorschaden - MdE-Bewertung

Gericht:

LSG Berlin 2. Senat


Aktenzeichen:

L 2 U 100/11


Urteil vom:

26.04.2012


Grundlage:

  • SGB VII § 5 |
  • SGB VII § 8

Leitsatz:

Erleidet ein Versicherter mehrere Arbeitsunfälle - hier: Raubüberfälle -, die Folgen auf psychiatrischem Sachgebiet hinterlassen - hier: eine reaktivierte Posttraumatische Belastungsstörung -, sind trotz erheblicher Beweisschwierigkeiten die gesundheitlichen Folgen der Versicherungsfälle bei der MdE-Bewertung gegeneinander abzugrenzen. Dabei können sich die Folgen vorangegangener Unfälle auch dann als Vorschaden darstellen, wenn sie nicht mit einer MdE von mindestens 10 v. H. zu bewerten sind.

Rechtsweg:

SG Berlin Urteil vom 15.03.2011 - S 68 U 614/08

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. März 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Verletztenrente aufgrund eines als Arbeitsunfall anerkannten Unfallereignisses vom 21. Oktober 2006 sowie die Übernahme von Heilbehandlungskosten (psychiatrische Behandlung) über den 06. März 2008 (Datum der letzten von der Beklagten veranlassten Begutachtung durch Prof. Dr. S) hinaus.

Die 1954 geborene Klägerin ist bereits viermal Opfer eines Raubüberfalls in immer derselben Filiale ihres Arbeitgebers, der Firma S, geworden.

Der erste Überfall fand im Jahre 2004 statt. Beim Kassiervorgang bedrängte ein Kunde die Klägerin, schlug ihre Hand auf die Kasse und entnahm dieser Geld. Behandlungen und unmittelbar eingetretene gesundheitliche Folgen dieses Ereignisses sind nicht aktenkundig.

Ein weiterer Überfall fand am 15. März 2006 statt. Nach der Unfallanzeige vom 20. März 2006 und den Angaben im Durchgangsarztbericht vom 16. März 2006 wurde die Klägerin mit Waffengewalt ins Büro gezwungen, um den Tresor zu öffnen. Da der Sicherheitstresor nicht zu öffnen war, floh der Täter. Die Beklagte veranlasste eine psychotherapeutische Behandlung vom 11. April bis 23. Mai 2006 in der Klinik am R in B. Dem klinisch-psychologischen Abschlussbericht vom 29. Mai 2006 ist u. a. Folgendes zu entnehmen: Bei der Eingangsdiagnostik zeigte sich die Notwendigkeit einer traumatherapeutischen Suizidprophylaxe, die auch deshalb für notwendig gehalten wurde, weil die Klägerin von einem einige Jahre zurückliegenden Suizidversuch berichtete. Die Klägerin berichtete, sich durch ihren Lebenspartner eingeengt zu fühlen, der an ihr und ihrer Tochter "zerren" würde. Sie habe daher schon gedroht, sich das Leben zu nehmen. Weiter berichtete sie, darunter zu leiden, dass sie zu Hause von ihrer Mutter wenig geliebt worden sei. Diese habe die Geschwister bevorzugt und sich nur wenig um sie gekümmert, sie dann sogar in ein Heim gegeben. Deshalb habe sie vor zwei Jahren den Kontakt zur Mutter abgebrochen. Weiter leide sie unter den Auseinandersetzungen mit ihrem früheren Ehemann um Unterhaltszahlungen. Diesem könne sie nicht verzeihen, dass dieser 1982 einen Verkehrsunfall verursacht habe, in dessen Folge sie gegen einen Baum gefahren seien. Sie sei danach als Schwerbehinderte anerkannt worden. Als Ergebnis der Therapie wurde festgehalten, dass es angesichts der Tatsache, dass die Klägerin bereits dreimal überfallen worden sei, in relativ kurzer Zeit gelungen sei, sie emotional zu stabilisieren. Eine ambulante Weiterbehandlung wurde empfohlen.

Diese Weiterbehandlung führte Frau Dipl.-Psychologin K durch. In ihrem Abschlussbericht nach Ende der Psychotherapie vom 16. August 2006 führte sie aus, als abschließende Diagnose sei eine sonstige spezifische Angststörung (vor einem erneuten Überfall) fast abgeklungen, das heiße: zurzeit nicht mehr behandlungsbedürftig, festzuhalten (F41.8). Die Klägerin sei fast symptomfrei entlassen worden. Es liege noch eine gering ausgeprägte Angstneigung sowie eine sporadische Schreckhaftigkeit vor, die klinisch jedoch nicht relevant sei.

Am 21. Oktober 2006, dem Tag des hier streitigen Unfallereignisses, wurde die Filiale, in der die Klägerin weiter als Verkäuferin tätig war, erneut überfallen. Nach dem Durchgangsarztbericht vom 22. Oktober 2006 und der Unfallanzeige vom 25. Oktober 2006 befand sich die Klägerin im hinteren Bereich der Filiale, als der Täter auf sie zukam und ihr eine Waffe in den Rücken hielt. Sie habe darauf hingewiesen, dass kein Geld im Tresor sei. Nachdem sie diesen geöffnet habe und dieser tatsächlich leer gewesen sei, sei der Täter geflohen. Die Beklagte veranlasste eine psychologische Krisenintervention nach Gewaltereignis durch die N GmbH & Co. KG. Im Abschlussbericht vom 08. Januar 2007 ist ausgeführt, dass eine wesentliche Verbesserung der körperlichen und psychischen Verfassung nicht habe erreicht werden können. Die Klägerin sei körperlich schwer erschöpft, eine Aufnahme der Arbeit könne nicht erfolgen. Bei der Klägerin liege eine starke depressive Verstimmung vor, bei der evtl. an eine medikamentöse Behandlung zu denken sei.

Im Januar 2007 begab sich die Klägerin in die Behandlung der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B. Diese diagnostizierte im psychischen Befundbericht (Erstbericht bei Beginn probatorischer Sitzungen) vom 09. Januar 2007 eine reaktivierte posttraumatische Belastungsstörung nach Retraumatisierung (ICD-10 F43.1). Im Abschlussbericht nach Ende der probatorischen Sitzungen vom 02. Februar 2007 führte Frau Dr. B aus, die Arbeitsunfähigkeit ende voraussichtlich Ende März 2007.

Im Bericht vom 30. November 2007 führte Frau Dr. B zum weiteren Verlauf der Behandlung aus, die Klägerin habe Ende März ihre Tätigkeit wieder vollschichtig aufgenommen. Zeitgleich sei es zu einer Erkältung gekommen, die sich zu einem chronischen Reizhusten entwickelt und zur Arbeitsunfähigkeit vom 09. bis 23. Mai 2007 geführt habe. Eine intensive Diagnostik habe zur Diagnose eines psychogenen Reizhustens geführt, der im Zusammenhang mit der objektiv überfordernden Leistungshaltung der Klägerin verstanden worden sei. Nach Ende der Arbeitsunfähigkeit sei es zu einem deutlichen Rückgang der Angst und weiterer Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung gekommen. Danach habe sich die psychische Befindlichkeit im Zusammenhang mit der Arbeit weiterhin stabilisiert, stattdessen seien die Partnerschaftsprobleme der Versicherten stärker in den Vordergrund gerückt. Am 31. August 2007 habe die Klägerin unter Tränen berichtet, dass sie am Ende ihres zweiwöchigen Urlaubes einen Brief der Firma S vorgefunden habe, in dem ihr mehrere von einem Testkunden beobachtete Verfehlungen zur Last gelegt und mit Kündigung gedroht worden sei. Die Klägerin habe angegeben, es sei Allgemeinwissen, dass die Firma S die älteren Verkäuferinnen, die ursprünglich von der K gekommen seien, mit allen Mitteln loswerden wolle. Weiter führte Frau Dr. B aus, in Gesprächen vom 31. August, 10. September und 24. Oktober 2007 sei es nicht gelungen, mit der Klägerin eine distanzierte und realitätsadäquate Sicht auf die aktuellen Ereignisse zu erarbeiten. Hier habe sich deutlich die vorbestehende neurotische Selbstwertschwäche gezeigt. Die ängstliche, hilflose Symptomatik im Zusammenhang mit dem Arbeitgeber habe inzwischen dazu geführt, dass wieder deutliche Ängste bei der Arbeit hinsichtlich eines neuen Überfalls geweckt worden seien. Es handele sich um die Aktualisierung der vorbestehenden und zwischenzeitlich remittierten posttraumatischen Belastungsstörung durch ein unfallfremdes Ereignis. Die Klägerin sei eine übermotivierte Mitarbeiterin, die weiterhin als Verkäuferin arbeiten möchte, aber aufgrund einer neurotischen Persönlichkeitsstruktur nicht in der Lage sei, auf eigene Bedürfnisse realitätsadäquat zu achten und sich somit psychisch und physisch überfordere. Alternative Lösungsstrategien wie z. B. ein Wechsel des Arbeitgebers seien mit der Klägerin nicht zu erarbeiten.

Daraufhin holte die Beklagte ein psychiatrisches Zusammenhangsgutachten des Prof. Dr. S vom 06. März 2008 ein. Dieser führte aus, bei der Klägerin bestehe in erster Linie eine ausgeprägte Anpassungsstörung mit vorwiegend ängstlich-phobischer, vegetativer und depressiver Symptomatik. Entsprechend dem bisherigen Verlauf sei eine Anpassungsstörung im Sinne des ICD-10 F43.22 (Angst und depressive Reaktion gemischt) zu diagnostizieren. Die ursprünglich diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung sei weitgehend abgeklungen. Zusammenfassend sei festzustellen, dass die Klägerin eine vulnerable, in eigenen Worten "dünnhäutige" Persönlichkeit sei. Dies habe auch während der Untersuchung zu einer auffälligen Symptomatik mit Affektlabilität, rascher Irritabilität, depressiven Einbrüchen, vegetativen Reaktionen und angstvollen Äußerungen geführt. Es handele sich um eine dauerhafte Verfassung im Rahmen einer Persönlichkeitsproblematik, die stets bezogen auf Umweltereignisse verbleibe und entsprechend zwischen Zeiten der Kompensation und Dekompensation je nach aktuellem Belastungsgrad schwanke. Diese Dauerverfassung sei nicht unfallbedingt.

Mit Bescheid vom 27. März 2008 lehnte die Beklagte einen Verletztenrentenanspruch aufgrund des Ereignisses vom 21. Oktober 2006 ab. Heilbehandlung sei über den 06. März 2008 hinaus nicht zu erbringen. Dem hiergegen gerichteten Widerspruch blieb mit zurückweisendem Widerspruchsbescheid vom 23. Mai 2008 der Erfolg versagt.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht Berlin nach Einholung von Befundberichten ein psychiatrisches Gutachten des Dr. A vom 13. Juli 2010 eingeholt. Dieser führte aus, bei der Klägerin bestehe ein depressiv-ängstliches Syndrom (chronische Anpassungsstörung) im Sinne des ICD-10 F43.22. Diese könne nicht auf das Unfallereignis vom 21. Oktober 2006 zurückgeführt werden. Eine unfallabhängige Symptomatik im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung sei im März 2007 abgeklungen gewesen. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27. September 2010 hielt Dr. A an seiner Auffassung fest.

Mit Urteil vom 15. März 2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Kammer stütze sich bei ihrer Beurteilung auf das überzeugende Sachverständigengutachten des Dr. A vom 13. Juli 2010 sowie auf das eingeholte Gutachten des Prof. Dr. S vom 06. März 2008 und die Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärztin Dr. B. Im Befundbericht vom 06. Juni 2007 habe diese beschrieben, dass am 31. Mai 2007 keine Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung mehr nachweisbar gewesen seien. Vor diesem Hintergrund sei es für die Kammer schlüssig und nachvollziehbar, dass sowohl Prof. Dr. S als auch Dr. A eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ab 04. März 2007 abgelehnt hätten. Zu einer Verschlechterung des psychischen Befundes sei es erst wieder Ende August 2007 gekommen, nachdem die Klägerin eine Abmahnung mit Kündigungsandrohung von ihrem Arbeitgeber erhalten habe. In Übereinstimmung mit allen behandelnden Ärzten sei die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht im Sinne der Theorie von der wesentlichen Bedingung auf den Überfall vom 21. Oktober 2006 zurückzuführen sei. Die Kammer verkenne nicht, dass der Überfall vom 21. Oktober 2006 auf der ersten Stufe der Theorie der wesentlichen Bedingung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit jedenfalls als Mitursache für die ab Ende August 2007 wieder auftretenden psychischen Probleme der Klägerin anzusehen sei. Dies folge aus der Sicht der Kammer insbesondere daraus, dass sich nach der Befunderhebung von Frau Dr. B wieder Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung gezeigt hätten. Aus der Sicht der Kammer sei der Überfall auf der zweiten Stufe der Theorie der wesentlichen Bedingung jedoch nicht mehr als wesentliche Ursache anzusehen. Es sei insofern vielmehr zu einer Verschiebung der Wesensgrundlage gekommen. Wesentliche Ursache für die Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin ab Ende August 2007 sei aus Sicht der Kammer vielmehr die von Dr. A und Prof. Dr. S diagnostizierte unfallunabhängige vulnerable Persönlichkeit der Klägerin, die sie nicht in die Lage versetzt habe, mit der vom Arbeitgeber ausgesprochenen Abmahnung adäquat umzugehen. Nicht überzeugend seien die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin, die Unfallunabhängigkeit der vulnerablen Persönlichkeit sei nicht hinreichend belegt. Aus der Akte gehe hervor, dass die Klägerin zirka 1990 einen Selbstmordversuch nach Scheitern der Ehe hinter sich habe. Durch das von der Beklagten eingeholte Vorerkrankungsverzeichnis werde zudem eine elftägige Arbeitsunfähigkeit im Jahr 1997 wegen einer psychischen Reaktion in Form einer Belastungsreaktion belegt. Vor diesem Hintergrund sei es auch nicht zu beanstanden, dass die Beklagte die Kosten der Heilbehandlung nicht über den 06. März 2006 hinaus übernommen habe.

Gegen das ihr am 22. März 2011 zugegangene Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung vom 21. April 2011. Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen erster Instanz und bezieht sich auf eine ärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. J vom 25. März 2011. Diese führt aus, die Krankheitssymptome der Klägerin seien eindeutig auf die am Arbeitsplatz erlebten Überfälle zurückzuführen. Hinzu sei ein weiterer Überfall vom 18. Oktober 2010 gekommen, bei dem es zu äußerst gewalttätigen Übergriffen durch eine Kundin gekommen sei.


Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. März 2011 und den Bescheid der Beklagten vom 27. März 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Mai 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr aufgrund des Arbeitsunfalls vom 21. Oktober 2006 eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v. H. seit dem 04. März 2007 zu gewähren sowie die Beklagte zu verpflichten, ihre psychotherapeutische Behandlung über den 06. März 2008 hinaus zu tragen.


Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Inhalt ihrer Bescheide und das Ergebnis der bisherigen Ermittlungen.

Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte ein Gutachten der Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie - Psychoanalyse - Dr. F vom 30. Mai 2011 zur Klärung der Zusammenhangsfrage zwischen Gesundheitsstörungen und dem Überfallereignis vom 18. Oktober 2010 eingeholt. Am 18. Oktober 2010 sei die Klägerin alleine in der Filiale tätig gewesen. Es habe sich nur noch eine Kundin im Raum befunden. Die Klägerin habe der Kundin mitgeteilt, dass sie doch bitte zur Kasse kommen solle. Dabei sei ihr aufgefallen, dass die Kundin erheblich gezittert habe. Sie habe dann gebeten, dass diese ihre Tasche leere. Dabei sei deutlich geworden, dass sie einige Produkte, in der Absicht sie zu stehlen, in die Tasche gelegt hatte. Sie habe die Kundin dann gebeten, sich in einen rückseitig gelegenen Raum zu begeben, um dort auf die Polizei zu warten. Die Klägerin habe die Gefahr völlig unterschätzt, denn plötzlich sei die junge Frau, die gerade aus dem Gefängnis entlassen worden sei und Drogenerfahrungen gehabt habe, auf sie losgegangen. Die Frau habe ihr ins Gesicht geschlagen und dann versucht, an ihren Hals zu gelangen. Die Täterin habe ihr Teile der Haare ausgerissen. Am schlimmsten sei gewesen, dass die Täterin der Klägerin in die Hand gebissen habe. Sie habe daraufhin Angst vor einer AIDS-Infektion gehabt. Die Sachverständige führte aus, die Kumulation der Überfallereignisse von 2004 bis 2010, aber auch das Unfallereignis von 2010 für sich allein, seien als Ursache nicht ersetzbar durch die alltäglichen Belastungen und durchaus geeignet, die anhaltende psychische Überfallfolgestörung kausal hervorzurufen. Es bestünden eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), eine mittelgradige depressive Episode (F32.1) und ein chronifiziertes neurasthenisches Syndrom (F48.0) sowie eine differenzialdiagnostisch anhaltende affektive Störung (F34.8). In der durchgeführten psychodynamischen Exploration seien durchaus Belege für vulnerable Entwicklungsetappen in den Phasen der Persönlichkeitsreifung und Persönlichkeitsstrukturentwicklung bestätigt worden. Ausreichend sichere Hinweise für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung hätten sich dagegen nicht ergeben. Die appellative Suizidreaktion im Jahre 1990 habe lediglich zu zweitägiger stationärer und kurzfristiger ambulanter Krisenintervention geführt. Die zum Zeitpunkt der aktuellen gutachterlichen Untersuchung zu benennenden psychischen Störungsbilder seien durchgängig als Überfallfolge anzusehen. Das aktuell zu beurteilende Überfallereignis vom 18. Oktober 2010 wäre auch für sich allein genommen sowohl in Art als auch in Schwere geeignet gewesen, sowohl eine posttraumatische Belastungsstörung als auch unfallreaktive depressiv-ängstliche Anpassungsstörungen hervorzurufen. Es sei vielmehr den stabilen prämorbiden Persönlichkeitsanteilen zuzuordnen, dass die Klägerin vor dem letzten Unfallereignis überhaupt noch einmal eine berufliche Reintegration habe favorisieren können, die sie ohnehin an ihre Leistungsgrenzen gebracht haben dürfte. Durch das vierte Überfallereignis sei die Klägerin nicht nur nachhaltig traumatisiert, sondern auch aus ihrem beruflichen Lebenskonzept gerissen, ihrer geliebten Berufstätigkeit als Verkäuferin nicht mehr nachgehen zu können. Die MdE betrage 30 v.H.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Sachdarstellung und der Rechtsausführungen wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und auf die Gerichtsakten Bezug genommen. Diese haben im Termin vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Denn sie hat keinen Anspruch auf die Bewilligung einer Verletztenrente und die Übernahme der Heilbehandlungskosten der psychiatrischen Behandlung über den 06. März 2008 hinaus, weil spätestens zu diesem Zeitpunkt keine Unfallfolgen mehr vorgelegen haben, die behandlungsbedürftig gewesen wären oder eine Rentenzahlung rechtfertigten.

Streitgegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist allein der Unfall vom 21. Oktober 2006, denn die Bescheide hinsichtlich des Unfalls vom 15. März 2006 sind im vorliegenden Verfahren nicht angefochten. Auch eventuell schon ergangene Bescheide bezüglich des Unfalls vom 18. Oktober 2010 werden nicht Gegenstand des Verfahrens nach § 96 SGG, denn sie würden den Inhalt der Bescheide ergangen zum hier streitigen Unfall vom 21. Oktober 2006 nicht abändern. Dies gilt auch dann, wenn es wegen der hier vorliegenden Sachverhaltskonstellation von 4 Raubüberfällen mit gesundheitlichen Folgen insbesondere für die Psyche der Klägerin schwierig erscheint, die Folgen der Unfälle gegeneinander abzugrenzen. Denn das Bundessozialgericht (BSG) hat im Urteil vom 19. August 2003 (B 2 U 50/02 R, zitiert nach juris) unter Bezugnahme auf Rechtsprechung und Literatur darauf hingewiesen, dass es einhellige Meinung sei, dass Gesundheitsschäden, die auf mehreren Arbeitsunfällen beruhten, jeweils getrennt zu beurteilen seien und die Bildung einer Gesamt-MdE insoweit nicht in Betracht komme, auch wenn durch mehrere Unfälle dasselbe Organ betroffen worden sei. Dies gilt nach dem zitierten Urteil auch dann, wenn der Sachverhalt es nahe legt, dass eine Zuordnung von Gesundheitsstörungen dasselbe Organ betreffend zu verschiedenen Unfallereignissen äußerst schwierig ist. So betraf die Entscheidung des BSG vom 19. August 2003 einen Fall, in dem ein bestehendes zerviko-enzephales Syndrom mit Kopfschmerzen und Schwindel mit Seh- und Hörstörungen auf zwei unterschiedliche Gewalteinwirkungen auf den Kopf zurückgeführt werden sollte. Eine Trennung der Unfallereignisse war dem Gutachter im Hinblick auf die Folgen nicht gelungen, was das BSG lediglich zur Zurückverweisung und der Forderung weiterer Sachaufklärung veranlasst hat.

Rechtsgrundlage der Bewilligung einer Verletztenrente ist § 56 Sozialgesetzbuch/Siebtes Buch (SGB VII). Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit aufgrund mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf eine Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalles sind nur dann zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10.v.H. mindern.

Für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist erforderlich, dass sowohl zwischen der unfallbringenden Tätigkeit und dem Unfallereignis als auch zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsschädigung ein innerer ursächlicher Zusammenhang besteht. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, der Arbeitsunfall und die Gesundheitsschädigung im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung für die Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit- ausreicht (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 2. Mai 2001, Az.: B 2 U 16/00 R = SozR 3-2200 § 551 Reichsversicherungsordnung Nr. 16 m.w.N.). Eine solche Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Faktoren ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass die richterliche Überzeugung hierauf gestützt werden kann (BSG, Urteil vom 6. April 1989, Az.: 2 RU 69/87 zitiert nach juris).

Grundsätzlich ergeben sich mehrere Möglichkeiten, mehrere Unfälle, die dasselbe Organ betroffen haben - hier die Psyche -, rechtlich zu bewerten.

Zunächst kommt in Betracht, dass jedes Ereignis auch medizinisch losgelöst voneinander zu betrachten ist und ihm eine MdE zugeordnet werden kann. Diese Fallgestaltung, in der sich die Unfallfolgen im Hinblick auf die verschiedenen Ereignisse nicht überschneiden würden, brächte keinerlei juristische Schwierigkeiten. Vorliegend bestreitet jedoch keiner der gehörten Gutachter eine Bedeutung der vorangegangenen Unfälle/Raubüberfälle für die gesundheitlichen Folgen der nachfolgenden Ereignisse.

Des Weiteren wäre denkbar, dass ein weiteres Ereignis die Folgen eines vorangegangenen Ereignisses im Sinne des § 48 SGB X verschlimmerte. Beispielhaft hierfür kann genannt werden, dass die unfallunabhängige Abmahnung die Unfallfolgen hier nach der Auffassung der Frau Dr. B verschlimmert hat, was bedeutungslos bleibt, weil die Abmahnung kein unfallversicherungsrechtlich versichertes Ereignis ist. Vorliegend kann nach den Sachverständigengutachten aber nicht davon ausgegangen werden, dass der jeweils auf das Ereignis folgende weitere Überfall die Unfallfolgen des ersteren verschlimmert hätte. Denn so steht ohne weiteres fest, dass das Ereignis von 2004 jedenfalls zunächst überhaupt keine Folgen hinterlassen hat, nicht einmal aktenkundig geworden ist. Auch nach dem Überfall vom 15. März 2006 muss von einer Ausheilung der Folgen ausgegangen werden, was Dipl.-Psych. K mit dem Bericht über den Abschluss ihrer Behandlung nach dem stationären Aufenthalt in der Klinik am R festgestellt hat. Dies wurde auch von der Klägerin selbst so bestätigt. Schließlich sind die Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung nach dem Unfallereignis vom 21. Oktober 2006 im März 2007 abgeklungen gewesen, was sich aus dem Befundbericht der Frau Dr. B ergibt und von den Gutachtern Dr. A und Prof. Dr. S bestätigt wurde. Ob das Ereignis vom 18. Oktober 2010 Unfallfolgen verschlimmert hat, steht schon deshalb nicht fest, da die Beklagte ihre Ermittlungen nach Kenntnis des Gerichts insoweit noch nicht abgeschlossen hat.

Als weitere Möglichkeit kommt in Betracht, dass vorliegend auch die vorangegangenen Unfälle aus dem Jahre 2004 und dem März 2006 zusammen mit dem Unfallereignis vom 21. Oktober 2006 zu dem jetzt festzustellenden Gesundheitsschaden geführt haben und insoweit mit Wahrscheinlichkeit (teil-) ursächlich für den Gesundheitszustand geworden sind. Nach der oben zitierten Rechtsprechung des BSG ist diese Fallgestaltung rechtlich jedenfalls nicht so lösbar, als dass die drei Unfälle als wesentliche Ursache der nun bestehenden Gesundheitsstörung angesehen werden und die von allen drei Unfällen mitverursachte Gesundheitsstörung ab dem letzten Unfall mit einer bestimmten MdE bewertet wird. Denn die Rechtsprechung des BSG verlangt die Zuordnung einer MdE zu jedem Unfall.

Danach ist die Lösung zu favorisieren, dass die Unfälle von 2004 und 15. März 2006 angesichts abgeschlossener Behandlung und Wiederaufnahme der Tätigkeit zwar mit einer MdE von Null zu bewerten sind, sich aber dennoch als Vorschaden darstellen können, der eine höhere Bewertung der MdE aus einem weiteren Unfall im Vergleich zu einer gedachten Versicherten erlaubt, die nur einen Unfall erlitten hat. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG, Urteil vom 5. September 2006, B 2 U 25/ 05 R, zitiert nach juris) ist der Versicherte bei der Bewertung der Funktionsbeeinträchtigungen zur MdE-Bildung in dem Zustand versichert, in dem er sich befand. Folglich sind Funktionseinschränkungen so zu bewerten, wie sie sich für einen bereits beeinträchtigten Versicherten tatsächlich auswirken. Dies wirkt sich z.B dann aus, wenn Versicherte bereits einen Vorschaden erlitten haben und das Zusammenwirken der Beeinträchtigungen zu einer höheren MdE führt. Dabei kann ein Schaden, der für sich genommen mit einer MdE von Null bewertet wird, durchaus geeignet sein, die MdE für einen weiteren Gesundheitsschaden zu erhöhen (vgl. das Beispiel bei Schmitt, SGB VII, Kommentar, 4. Auflage. § 56, Rn 25). Angesichts von vorausgegangenen Unfällen, die die Psyche vorgeschädigt haben, ist es auch ohne weiteres einsehbar, dass Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund eines weiteren Unfalles dann stärker ausfallen, wenn bereits Unfälle vorausgegangen sind. Deshalb kann die MdE des jeweils letzten Unfalles dann wegen des Vorschadens auch höher bewertet werden, selbst wenn dieser Vorschaden noch nicht mit einer MdE als selbständige Unfallfolge bewertet worden war.

Daraus ergibt sich jedoch für den hier zu beurteilenden Versicherungsfall vom 21. Oktober 2006, dass aufgrund dieses Ereignisses weder Verletztenrente zu gewähren noch Heilbehandlung über den 06. März 2008 hinaus zu bewilligen ist. Denn nach einhelliger Auffassung aller befassten Ärzte waren die Unfallfolgen spätestens zu diesem Zeitpunkt abgeklungen. Frau Dr. B als behandelnde Therapeutin hat ein Abklingen der unfallbedingten Gesundheitsstörungen schon im März 2007 beschrieben. Dies ist nachvollziehbar, zumal die Klägerin zu diesem Zeitpunkt auch ihre Arbeit wieder aufgenommen hat. Dass sich ihr Zustand aufgrund von Abmahnungen verschlechtert hat, hat mit einer unfallbedingten Verschlimmerung der Gesundheitsstörungen nichts zu tun. Diese Verschlimmerung kann daher nicht berücksichtigt werden. Diese Auffassung von Frau Dr. B hat sich durch die Sachverständigengutachten des Prof. Dr. S und des Dr. A als richtig herausgestellt. Soweit Frau Dr. F davon gesprochen hat, dass sämtliche vier Unfälle ursächlich zu dem jetzigen Gesundheitszustand der Klägerin beigetragen haben, so ist dies nach den eben getätigten Ausführungen des Senats bei der Bewertung der MdE aufgrund der Folgen des vierten Unfalls zu berücksichtigen.

Weitere Unfallfolgen als die der abgeklungenen posttraumatischen Belastungsstörung bestehen nicht. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann ihre vulnerable Persönlichkeit nicht auf die Unfälle als wesentliche Teilursache zurückgeführt werden. Nicht nur Dr. A und Prof. Dr. S, sondern auch die behandelnde Therapeutin Dr. B haben neurotische Persönlichkeitsstrukturen bei der Klägerin festgestellt, die vor dem Unfall bestanden und unfallunabhängig sind. Dies ergibt sich zum einen aus dem Suizidversuch von 1990, der psychischen Reaktion, die zur Arbeitsunfähigkeit geführt hat, aus dem Jahre 1997 und letztlich auch aus der Reaktion auf die Abmahnungen des Arbeitgebers. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Klägerin in der fachärztlichen Behandlung der Dr. B, so dass deren Urteil, dass hier neurotische Persönlichkeitsstrukturen in Erscheinung getreten sind, besonders schwerwiegend ist. Es ist auch nicht recht einsichtig, warum die Unfähigkeit der Klägerin, mit einer Abmahnung des Arbeitgebers adäquat umgehen zu können, gerade auf dem Unfall/Raubüberfall beruhen soll. Dies würde letztlich bedeuten, dass die Klägerin unfallbedingt gerade an dem Beschäftigungsverhältnis festhält, in dem sie viermal Opfer eines Raubüberfalls geworden ist. Auch dies erhellt aus der Sicht des Senats die Einschätzung, dass die Unfähigkeit, realitätsbezogen mit einer Abmahnung umgehen zu können, nichts mit den Raubüberfällen zu tun hat. Neben den gesundheitlich auffälligen Ereignissen des Suizidversuchs und der Arbeitsunfähigkeit wegen einer psychischen Reaktion hat die Klägerin selbst jedenfalls als von ihr so eingeschätzte schwerwiegende Lebensumstände beschrieben, die persönlichkeitswirksam sein können und nach ärztlichem Urteil hier auch geworden sind. So beschreibt sie die mangelnde Liebe der Mutter, die zur Abgabe ins Heim geführt haben soll, die Schwierigkeiten mit dem Ehemann, den Vorwurf an diesen, er habe schuldhaft einen Autounfall verursacht, sowie letztlich Probleme mit ihrem Lebensgefährten, die schon Frau Dipl.-Psych. K nach dem Unfall vom 15. März 2006 beschrieben hatte. Dies alles sind entscheidende Umstände in der Lebensentwicklung der Klägerin, die der Beurteilung entgegenstehen, ihre vulnerable Persönlichkeit sei wahrscheinlich und zumindest teilursächlich durch die Überfälle bedingt. Vielmehr ist, wie Prof. Dr. Stoffels dies ausgeführt hat, von einer Persönlichkeitsproblematik auszugehen. Bezogen auf die jeweiligen äußeren Belastungen kommt es je nach Belastungsgrad zu Kompensationen oder Dekompensationen. Diese auch vorbestehende Dauerverfassung ist nicht unfallbedingt.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R3949


Informationsstand: 06.07.2012