Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Beteiligten streiten - noch um die Höhe des Grades der Behinderung (
GdB) im Sinne des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (
SGB IX) und um die Feststellung des Nachteilsausgleichs "H" (Hilfslosigkeit) für die Zeit ab der Geburt des Klägers bis zum 31.10.2008. Soweit zunächst auch die Feststellung der Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr - erhebliche Gehbehinderung -) und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) ab Geburt sowie die Höhe des
GdB über den 31.10.2008 hinaus im Streit standen, hat der Kläger diese Begehren in der mündlichen Verhandlung am 15.02.2013 nicht mehr aufrecht erhalten.
Der am 10.06.1994 geborene Kläger erhält vom Jugendamt der Stadt K. seit dem Jahr 2009 Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - (
SGB VIII) u.a. in Form einer Schulbegleitung. Er stellte am 01.08.2011 beim Landratsamt K. (LRA) den Antrag, eine Autismus-Erkrankung als Behinderung anzuerkennen und deren Grad festzusetzen. Hierzu trug er vor, er leide seit Geburt an dieser Gesundheitsstörung. Zur Stützung seines Antragsbegehrens legte er ein Attest des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Dr. Ke. vor, der den Kläger seit dem 18.11.2008 wegen eines Asperger-Syndroms behandelt, außerdem den Hilfeplan der Stadt K. als Träger der Jugendhilfe vom April 2010 sowie eine ärztliche Stellungnahme zur Planung von Eingliederungshilfe nach dem Kinder- und Jugendhilferecht des
Dr. Ke. vom März 2009. Danach bestanden eine unauffällige Schwangerschaft und Geburt sowie motorische Entwicklung und Sauberkeit bei verzögerter sprachlicher Entwicklung mit logopädischer Betreuung für drei Jahre und Ausgrenzung und Hänseleien des Klägers im Kindergarten infolge der Entwicklungsverzögerung. Das LRA zog über die Stadt K. die Behandlungsunterlagen des Psychologischen Psychotherapeuten Se., Praxis Autismus, vom August 2009 und März 2010 bei, holte einen Befundbericht des Allgemeinmediziners
Dr. F., der den Kläger seit September 2008 hausärztlich betreut, und eine Auskunft des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Dr. Ki. ein. Dieser fügte einen eigenen Arztbrief vom Juli 2005 bei. Gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von
Dr. Fe. setzte das LRA den
GdB für die Zeit ab dem 01.01.1998 bis zum 31.10.2008 auf 40 und seither auf 60 fest. Außerdem anerkannte es beim Kläger den Nachteilsausgleich "H" ab dem 01.11.2008. Als Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigte es:
- Autismus, Verhaltensstörungen (Bescheid vom 26.10.2011).
Mit seinem dagegen erhobenen Widerspruch begehrte der Kläger über seine Mutter die Feststellung eines
GdB von wenigstens 70 sowie die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "G", "B" und "H" seit Geburt. Zur Begründung trug er vor, seine behandelnden Ärzte hätten seine Autismus-Erkrankung fälschlicherweise erst am 01.11.2008 diagnostiziert. Bereits im Jahr 1998 habe er sich auf Anraten des Kindergartens in der Frühförderstelle K. erstmals wegen erheblicher sozialer Probleme vorgestellt. Seinerzeit habe er den Eindruck vermittelt, in einer eigenen Welt zu leben. Soweit hierüber keine Unterlagen mehr vorhanden seien, könne dies nicht zu seinem Nachteil gereichen.
Dr. Ki. habe im Jahr 2005 fälschlich lediglich die Diagnose eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADHS) gestellt. Auch dies sei nicht sein Verschulden. Für sämtliche Freizeitaktivitäten benötige er eine Begleitung, da er sich aufgrund von Orientierungsproblemen im Straßenverkehr schlecht zurecht finde. Ohne Begleitung verlaufe er sich häufig oder wisse nicht, an welcher Haltestelle er aussteigen müsse. Wegen seiner Wahrnehmungsprobleme sei er auch nicht in der Lage, kritische Situationen in der Interaktion mit Menschen richtig einzuschätzen. Bei seiner Autismus-Erkrankung handele es sich um eine angeborene, genetisch bedingte Hirnschädigung. Er habe deshalb Anspruch auf entsprechende Feststellungen rückwirkend seit dem Zeitpunkt seiner Geburt. Der Beklagte wies den Widerspruch nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von
Dr. C. zurück (Widerspruchsbescheid vom 21.02.2012).
Deswegen hat der Kläger am 20.03.2012 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben, mit der er sein Begehren zunächst in vollem Umfang weiter verfolgt hat. Zur dessen Stützung legt er den Bericht über seinen tagesklinischen Aufenthalt in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Städtischen Klinikums K. vom Juni 2012 vor.
Das Gericht hat die den Kläger behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen gehört:
Die Allgemeinmedizinerin
Dr. L.. hat mitgeteilt, den Kläger zwischen dem 30.06.1997 und dem 16.02.2007 behandelt zu haben. Die Erstbehandlung sei u.a. wegen einer verzögerten Sprachentwicklung erfolgt. Nach dem beigefügten Ausdruck der Patientenkartei hat
Dr. L. wegen einer multiplen Dyslalie wiederholt Logopädie verordnet, letztmals im Mai 2000. Ihrer Auskunft hat sie weitere Arztunterlagen, u.a. den Entlassungsbericht der Kinderchirurgischen Klinik des Städtischen Klinikums K. vom Januar 1998 sowie Behandlungsberichte der Logopädin Jü., beigefügt.
Dr. Ke. hat über die von ihm bei der Erstuntersuchung am 18.11.2008 und im weiteren Verlauf erhobenen Befunde und Krankheitsäußerungen berichtet. Die vom Beklagten vorgenommene
GdB-Bewertung erachte er als angemessen. Der Kläger sei in seinem Gehvermögen weder erheblich beeinträchtigt noch wegen seiner Behinderung auf ständige Begleitung angewiesen. Er benötige regelmäßig fremde Hilfe allein in neuen Situationen mit spontanen, kreativen und/oder unberechenbaren sozialen Anforderungen. Auch Hilfen für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens bedürfe der Kläger nicht. Allerdings sei eine tägliche Anleitung, Hilfe und ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich. Seiner Auskunft hat
Dr. Ke. den Entlassungsbericht der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Städtischen Klinikums K. vom Dezember 2011 und u.a. eine ärztliche Bescheinigung von
Dr. Ki. vom Juli 2005 beigefügt.
Dr. F. hat bekundet, er betreue den Kläger seit September 2008 hausärztlich, und die von ihm erhobenen Befunde und Krankheitsäußerungen mitgeteilt. Zur Höhe des
GdB und den streitigen Nachteilsausgleichen hat sich der sachverständige Zeuge nicht geäußert.
Dr. Ki. hat im Wesentlichen die in seinem Arztbrief vom Juli 2005 enthaltenen Befunde und Krankheitsäußerungen bestätigt. Ergänzend hat er darauf hingewiesen, die Symptomatik eines Autismus- oder Asperger-Syndroms könne sich häufig erst mit Beginn der Pubertät in ihrem Vollbild darstellen. Die gesundheitliche Entwicklung des Klägers sei deshalb als nicht ganz ungewöhnlich einzuschätzen. Sowohl die Aufmerksamkeitsdefizit-Störung als auch die Autismus-Erkrankung bestünden mit Sicherheit seit der Geburt. Den
GdB bewerte er mit Blick auf die Notwendigkeit einer sozialen Integrationsförderung mit 80.
Außerdem hat die Kammer eine telefonische Auskunft des Jugendamts der Stadt K. eingeholt.
Der Kläger beantragt - zuletzt noch -,
den Bescheid vom 26. Oktober 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2012 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, den
GdB seit dem 10. Juni 1994 bis zum 31. Oktober 2008 mit 50 festzusetzen und ihm für dieselbe Zeitspanne die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "H" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von
Dr. A. erachtet er die angefochtenen Bescheide für zutreffend.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte des Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54
Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG)) zulässig, aber unbegründet. Die angefochtenen Bescheide, soweit der Kläger diese zuletzt - noch - angegriffen hat, sind rechtmäßig und verletzen ihn nicht in seinen Rechten (§54
Abs. 2 Satz 1
SGG). Weder hat der Kläger für die Zeitspanne vom 10.06.1994 bis zum 31.10.2008 Anspruch auf Feststellung eines
GdB bereits ab dem Zeitpunkt seiner Geburt noch auf Feststellung eines höheren
GdB als vom Beklagten im Zeitraum vom 01.01.1998 bis zum 31.10.2008 bereits zuerkannt (
vgl. dazu nachfolgend unter I.). Er erfüllt darüber hinaus vor dem 01.11.2008 auch nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleichs "H" (dazu nachfolgend unter II.).
I.
1. Nach
§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellt auf Antrag des behinderten Menschen der Beklagte das Vorliegen einer Behinderung und den
GdB fest, für den die im Rahmen des § 30
Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der aufgrund des § 30
Abs. 17 BVG erlassenen
Rechtsverordnung festgesetzten Maßstäbe entsprechend gelten (§ 69
Abs. 1 Satz 5
SGB IX). Menschen sind behindert im Sinne des
SGB IX, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (
§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Menschen sind schwerbehindert, wenn bei ihnen ein
GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des
§ 73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben (§ 2
Abs. 2
SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als
GdB nach Zehnergraden abgestuft, von 20 bis 100 festgestellt (§ 69
Abs. 1 Sätze 4 und 6
SGB IX).
Bei mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist deren Gesamtauswirkung unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen für die Feststellung des
GdB maßgebend (§ 69
Abs. 3 Satz 1
SGB IX). Dabei ist zu beachten, dass die Auswirkungen einzelner Funktionsbeeinträchtigungen einander verstärken, sich überschneiden, aber auch gänzlich voneinander unabhängig sein können (
vgl. BSG v. 24.04.2008 -
B 9/9a SB 10/06 R -,
BSG SozR 3-3870 § 4 Nrn. 5 und 19 sowie BSGE 48, 82, 84). Gleichgültig ist, auf welche Ursachen die Auswirkungen zurückzuführen sind (
§ 4 Abs. 1 SGB IX); entscheidend ist, dass sie Krankheitswert haben.
Für die Feststellung des
GdB sind für die Verwaltung und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gleichermaßen seit dem 01.01.2009 die Bewertungsmaßstäbe der Anlage zu § 2 der aufgrund der Ermächtigung in § 30
Abs. 16 (bis zum 30.06.2011:
Abs. 17) des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VMV) vom 10.12.2008 (BGBl. I Seite 2412) in der Fassung der Fünften Änderungs-Verordnung vom 11.10.2012 (BGBl. I Seite 2122), gültig ab dem 17.10.2012, maßgebend (§ 69
Abs. 1 Satz 5
SGB IX). In den
Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) ist ebenso wie in den bis zum 31.12.2008 gültig gewesenen "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", die als antizipierte Sachverständigengutachten beachtlich waren und normähnliche Wirkung entfalteten (
vgl. BSG SozR 3-3100 § 30
Nr. 22, SozR 3-3870 § 4
Nr. 19 und SozR 4-3250 § 69 Nrn. 2 und 9 sowie
BVerfG SozR 3-3870 § 3
Nr. 6), der medizinische Kenntnistand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (
vgl. BSG vom 02.12.2010 -
B 9 SB 4/10 R - (juris)). Dadurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des
GdB ermöglicht (
vgl. LSG Baden-Württemberg vom 23.07.2010 - L 8 SB 1372/10 - (unveröffentlicht)). Die
VG bezwecken darüber hinaus eine möglichst gleichmäßige Anwendung der Bewertungsmaßstäbe im Bundesgebiet und dienen so auch dem Ziel des einheitlichen Verwaltungshandelns und der Gleichbehandlung (
vgl. Bay.
LSG, Breithaupt 2011, 68ff).
Behinderung im Sinne des § 2
Abs. 1 Satz 1
SGB IX ist nach der Legaldefinition eine nicht nur vorübergehende körperliche, geistige oder seelische Funktionsbeeinträchtigung, die von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Handelt es sich bei dem behinderten Menschen um ein Kind, kann folglich als regelwidrig nur der Zustand angesehen werden, der von dem Zustand gleichaltriger nicht behinderter Kinder abweicht (
vgl. BSG SozR 3-3870 § 4
Nr. 18 und
LSG Rheinland-Pfalz, MeSo B 340/73). Damit stellen Funktionsstörungen, die durch das jugendliche Alter selbst bedingt sind, keine Behinderung im Sinne des Gesetzes dar, weil sie nicht Folge eines regelwidrigen Zustands sind (
vgl. Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen,
SGB IX, 12. Auflage 2010, § 2, Rand-
Nr. 14). Unter einem abweichend von dem für das jeweilige Lebensalter typischen Zustand ist der Verlust oder die Beeinträchtigung von normalerweise vorhandenen körperlichen, geistigen oder seelischen Fähigkeiten zu verstehen.
2. Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Gegebenheiten sowie bei Anwendung dieser Maßstäbe hat der Beklagte den
GdB zutreffend (erst) ab dem 01.01.1998 und für die Zeit bis zum 31.10.2008 mit 40 bewertet. Für diese Überzeugung stützt sich die Kammer auf die zutreffenden versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Dres. Fe. und C. sowie die damit - im Ergebnis - übereinstimmenden Bekundungen des sachverständigen Zeugen
Dr. Ke.. Diesen ärztlichen Äußerungen zu folgen, bestehen keine Bedenken. Denn der Feststellung des
GdB, die das Gericht im Rahmen seiner tatrichterlichen Aufgabe aufgrund freier richterlicher Beweiswürdigung und richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von ärztlichen Stellungnahmen vornimmt (
vgl. hierzu BSGE 4, 147, 149 und 62, 209, 212;
BSG SozR 4-3250 § 69
Nr. 10 und
BSG SozR 4-2700 § 56
Nr. 2, ferner
LSG Baden-Württemberg vom 28.09.2012 - L 8 SB 3950/11 - (nicht veröffentlicht)), liegen im Wesentlichen medizinische Befunde und Krankheitsäußerungen zugrunde.
a) Der Kläger leidet nach den glaubhaften Bekundungen der sachverständigen Zeugen Dres. Ke. und Ki. an einer Autismus-Erkrankung.
Autismus als regelwidrige Funktionsbeeinträchtigung geistiger Art äußert sich in Verhaltensstörungen und/oder Verhaltensauffälligkeiten in Form schwerer Kontakt- und Kommunikationsstörungen, einer aufgehobenen oder verzögerten Sprachentwicklung, repetitiven, restriktiven oder stereotypen Verhaltensmustern, häufig in einer Intelligenzminderung und in unspezifischen Symptomen wie Wut, Angst, Aggressivität und/oder Selbstverletzung (
vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 262. Auflage 2011, Stichwort "Autismus"). Bei autistischen Erkrankungen liegt
gem. Teil B Nr. 3.5 VG eine Behinderung
i.S.d. SGB IX erst ab dem Beginn der Teilhabebeeinträchtigung vor. Die pauschale Festsetzung des
GdB nach einem bestimmten Lebensalter ist nicht möglich.
Bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (insbesondere frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus, Asperger-Syndrom) sind danach folgende
GdB anzusetzen:
- ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten 10-20
- mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten 30-40
- mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 50-70
- und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80-100
Die Kriterien der Definitionen der
ICD-10-GM Version 2010 müssen erfüllt sein.
Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen danach insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie
z.B. Regel-Kindergarten, Regel-Schule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (
z.B. durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen. Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereichen nicht ohne umfassende Unterstützung (
z.B. einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist. Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist. Das erkennende Gericht legt die vorgenannten versorgungsmedizinischen Grundsätze deshalb dahingehend aus, dass auch bei angeborenen Störungen wie einem Asperger-Syndrom der
GdB nicht automatisch ab der Geburt
bzw. ab einem bestimmten Lebensalter festzustellen ist. Maßgebend ist vielmehr, ab welchem Zeitpunkt die Autismus-Erkrankung manifest geworden, d.h. diese Erkrankung tatsächlich in Erscheinung getreten ist (
vgl. SG Aachen vom 22.02.2011 -
S 17 SB 1031/10 - und SG Kassel vom 19.12.2011 -
S 6 SB 87/10 - (jeweils Juris)). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Diagnose einer Autismus-Erkrankung regelmäßig nicht vor dem 18. Lebensmonat gestellt werden kann, weil frühestens ab diesem Lebensalter Entwicklungsvoraussetzungen bestehen, die die für das Krankheitsbild typischen Symptome ermöglichen (
vgl. insoweit nochmals SG Kassel, a.a.O.). Ein frühkindlicher Autismus manifestiert sich regelmäßig vor dem dritten Lebensjahr (
vgl. Pschyrembel, a.a.O., Stichwort "Autismus, frühkindlicher").
b) Vorliegend hat erstmals der sachverständige Zeuge
Dr. Ke. aufgrund der Untersuchung des Klägers am 18.11.2008 ein Asperger-Syndrom als Gesundheitsstörung diagnostiziert, wie sich aus seinem Attest vom 21.06.2011 und seinen glaubhaften Bekundungen als sachverständiger Zeuge ergibt. Zuvor, d.h. ab Juni 2005, stand der Kläger bei dem sachverständigen Zeugen
Dr. Ki. in ärztlicher Behandlung. Dieser Arzt diagnostizierte indes als Gesundheitsstörung allein eine hyperkinetische Störung im Sinne eines ADHS bei weit überdurchschnittlicher Intelligenz des Klägers und Defiziten im Bereich von Aufmerksamkeit und Impulsivität. Gegenüber den Dres. Ke. und Ki. gab die Mutter des Klägers darüber hinaus jeweils eine normale Geburt und Entwicklung von Motorik und Sprache des Klägers an, wie sich aus den auch insoweit glaubhaften Bekundungen der sachverständigen Zeugen ergibt. Mit der weiteren sachverständigen Zeugin
Dr. L. bestand zwar schon Ende Juni 1997 eine Sprachentwicklungsverzögerung, aufgrund derer bis Mai 2000 - zu diesem Zeitpunkt hat die Mutter des Klägers die Therapie beendet - wiederholt logopädische Behandlungen erforderlich waren. Sowohl
Dr. L. als auch die Logopädin Jü. diagnostizierten als Ursache der Sprachentwicklungsstörung jedoch ebenfalls keine Autismus- oder Asperger-Erkrankung, sondern eine multiple Dyslalie in Form einer eingeschränkten Zungen-Mund-Motorik, einer reduzierten auditiven Wahrnehmung sowie eines inkonstanten Chitismus, d.h. einer fehlerhaften Aussprache des Lautes des "Ch", eines seitlichen Schetismus, d.h. einer fehlerhaften Aussprache des Lautes "Sch" und eines Sigmatismus interdentalis, d.h. einer fehlerhaften Aussprache des Lautes "S". Anhaltspunkte für eine Erkrankung des Klägers aus dem neurologisch-psychiatrischen Formenkreis im Sinne einer Autismus- oder Asperger-Erkrankung ergaben sich mithin weder hieraus noch aus den sonstigen aktenkundigen medizinischen Unterlagen für die Zeit vor dem 18.11.2008. Solche finden sich auch nicht in den von
Dr. L. beigefügten ärztlichen Entlassungsberichten der Kinderchirurgischen Klinik des Städtischen Klinikums K. vom Januar 1998 noch des Kreiskrankenhauses V. vom Juni 1999. Vielmehr wurde der Kläger dort jeweils als klinisch unauffällig beschrieben und gaben die Eltern insbesondere gegenüber den Ärzten des Kreiskrankenhauses V. anamnestisch "keine Krankheiten" an. Gleiches gilt für die Stellungnahme des
Dr. Ke. zur Planung der Eingliederungshilfe nach dem
SGB VIII vom März 2009 wie auch den Bericht über die Fortschreibung des Hilfeplans nach dem
SGB VIII der Stadt K. vom Juli 2010. Sonstige medizinische Unterlagen, die eine Manifestation des Asperger-Syndroms bereits im Zeitpunkt der Geburt, jedenfalls aber schon vor dem 01.01.1998, dem Zeitpunkt, zu dem nach den Angaben der Mutter des Klägers erstmals ein Kontakt mit einer Frühförderstelle stattfand, belegen, sind nicht aktenkundig und sowohl nach den Angaben des Familienzentrums K. vom 15.08.2011 gegenüber dem LRA als auch der telefonischen Auskunft des Jugendamts der Stadt K. gegenüber dem Kammervorsitzenden vom 15.02.2013 nicht mehr vorhanden.
Soweit der Kläger und seine Mutter zuletzt gegenüber den Ärzten der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Städtischen Klinikums K. auditive Wahrnehmungsprobleme bereits seit der Kindergartenzeit angegeben haben, lässt sich deshalb das Ausmaß dieser Störungen mangels gerichtsfester Unterlagen aus dieser Zeit nicht mehr exakt beurteilen, zumal auch die Mutter des Klägers das Untersuchungsheft über die Frühuntersuchungen des Klägers nach den "Richtlinien über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres" nicht mehr vorlegen kann. Gegen eine wenigstens mittelgradige Ausprägung sozialer Anpassungsschwierigkeiten bereits seit der Geburt des Klägers, spätestens aber seit dem 01.01.1998, spricht zur Überzeugung des erkennenden Gerichts insbesondere der Umstand, dass der Kläger zunächst einen Regel-Kindergarten und jedenfalls bis zur Beendigung seines 9. Schuljahres die Regelschule - zuletzt das Fi.-Gymnasium, Karlsruhe - besucht und im Sommer 2010, d.h. "planmäßig" mit 16 Jahren, an der Montessori-Schule, La., den Realschul-Abschluss erworben hat. Dies steht fest aufgrund des Behandlungsberichts des Psychologischen Psychotherapeuten Se. vom August 2009, des Hilfeplans der Sozial- und Jugendbehörde der Stadt K. vom 21.07.2010 und des Berichts der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Städtischen Klinikums K.. Aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens ist auch weder nachgewiesen noch zumindest ersichtlich, dass bereits wegen des Besuchs des Kindergartens und der Schule bereits vor dem 01.11.2008 besondere Förderungs- und/oder Unterstützungsmaßnahmen,
z.B. durch Eingliederungshilfe, erforderlich waren. Erwiesen ist insoweit aufgrund des Attestes von
Dr. Ki. vom 22.07.2005, der Bekundungen des sachverständigen Zeugen
Dr. Ke. und des Hilfeplans der Sozial- und Jugendbehörde der Stadt K. allein eine erstmals im Juni 2005 erhobene hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens des Klägers im Sinne vermehrter innerer Unruhe, vermehrter Ablenkbarkeit und mangelnder Aufmerksamkeit, eine mangelnde Frustrationstoleranz, eine Hyperaktivität mit vielem Reden, mangelnde Sozialkontakte sowie ein - vorübergehender - unregelmäßiger Schulbesuch nach den Herbstferien 2008 (so
Dr. Ke.).
All diese Umstände belegen indes auch zur Überzeugung des erkennenden Gerichts keine wesentliche Verhaltensstörung im Sinne einer Autismus-Erkrankung und keine gesundheitlich bedingte Teilhabebeeinträchtigung des Klägers bereits ab dem Zeitpunkt der Geburt bis zum 01.01.1998 und keine mehr als leichtgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vor dem 01.11.2008 durch ein Asperger-Syndrom. Wenn deshalb der Beklagte den
GdB erst ab dem Monat der Erstdiagnose dieser Gesundheitsstörung, mithin ab dem 01.11.2008, mit 60 und für die Zeit davor ab dem 01.01.1998 im Hinblick auf die seit der Kindergartenzeit bestehende auffällige Sprachentwicklung und Verhaltensauffälligkeiten sowie das von
Dr. Ki. erst im Juli 2005 diagnostizierte ADHS mit 40 bewertet, ist dies auch für das erkennende Gericht nachvollziehbar und überzeugend. Diese Beurteilung teilt - im Ergebnis - auch der sachverständige Zeuge
Dr. Ke.. Der
GdB von 40 für die Zeitspanne vom 01.01.1998 bis zum 31.10.2008 entspricht den Bewertungsmaßstäben in
Teil B Nr. 3.4.1 und Nr. 3.4.2 VG für eine globale Entwicklungsstörung im Kleinkindalter mit geringen Auswirkungen und einer Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit im Schul- und Jugendalter im Rahmen einer kognitiven Teilleistungsschwäche. Ein höherer
GdB scheidet vorliegend schon angesichts der von
Dr. Ki. festgestellten überdurchschnittlichen Intelligenz des Klägers (IQ 127) aus. Aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens besteht zudem keine besonders schwere Ausprägung der kognitiven Teilleistungsschwächen des Klägers, die ohnehin nur selten auftritt. Auch bei Würdigung der Gesundheitsstörung des Klägers als tiefgreifende Entwicklungsstörung bereits ab dem 01.01.1998 ergibt sich angesichts allenfalls leichter sozialer Anpassungsschwierigkeiten bis zum 31.10.2008 kein höherer
GdB als 40 (Teil B
Nr. 3.5
VG).
Vor diesem Hintergrund hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren
GdB als 40 für die Zeit ab dem 01.01.1998 bis zum 31.10.2008. Insbesondere aber besteht kein Anspruch auf Feststellung eines
GdB von 50 bereits ab dem Zeitpunkt seiner Geburt am 10.06.1994.
Anders ist auch nicht aufgrund der Bekundungen des sachverständigen Zeugen
Dr. Ki. zu entscheiden; denn dessen Einschätzung des
GdB mit 80 stimmt mit den Bewertungsmaßstäben der
VG nicht überein - hierauf hat der Versorgungsarzt
Dr. A. zu Recht hingewiesen - und überzeugt das Gericht deswegen nicht.
II.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "H" für die Zeit vor dem 01.11.2008.
Nach § 69 Absatz 4 des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (
SGB IX) hat der Beklagte über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleichs "H" zu entscheiden. Im Schwerbehindertenausweis ist der Nachteilsausgleich "H" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes (EStG) oder entsprechender Vorschriften ist (
§ 3 Absatz 1 Nr. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung). Gemäß § 33b Absatz 6 Satz 3 EStG in der ab 20.12.2003 geltenden Fassung des
Art. 1
Nr. 13 des Gesetzes vom 15.12.2003 (
BGB I
S. 2645) ist eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages dauernd fremder Hilfe bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 3 dieser Vorschrift genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (§ 33b Absatz 6 Satz 4 EStG). Dabei hat sich der Gesetzgeber bewusst nicht an den Begriff der Pflegebedürftigkeit
i.S.d. Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Pflegeversicherung (
SGB XI) angelehnt. Die in § 33b
Abs. 6 EStG normierten Voraussetzungen der Hilflosigkeit entsprechen denen, die auch für die Pflegezulage nach § 35
Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gelten.
Bei den gemäß § 33 Absatz 6 EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren. Dazu zählen zunächst die auch von der Pflegeversicherung (
vgl. § 14 Absatz 4
SGB XI) erfassten Bereiche der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Diese Bereiche werden unter dem Begriff der sogenannten Grundpflege zusammengefasst (
vgl. § 4 Absatz 1 Satz 1, § 15 Absatz 3
SGB XI;
§ 37 Absatz 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V)). Hinzu kommen nach der Rechtsprechung des
BSG (
vgl. BSGE 72, 285) Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistige Anregungen und Kommunikation (Sehen, Hören, Sprechen und Fähigkeit zu Interaktionen). Vom Begriff der Hilflosigkeit nicht umfasst ist der Hilfebedarf bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen (
vgl. z.B. zu § 35 BVG:
BSG SozR 3-3100 § 35
Nr. 6).
Die tatbestandlich vorausgesetzte "Reihe von Verrichtungen" kann regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erforderlich machen (
vgl. BSG SozR 3-3100 § 35
Nr. 6 und vom 02.07.1997 - 9 RVs 9/96 - (juris);
vgl. auch BT-Drucks. 12/5262 S 164). Die Beurteilung der Erheblichkeit orientiert sich an dem Verhältnis der dem Betroffenen nur noch mit fremder Hilfe möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann. In der Regel ist dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen. Mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben in der sozialen Pflegeversicherung (
vgl. § 15
SGB XI) ist die Erheblichkeit des Hilfebedarfs in erster Linie nach dem täglichen Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen zu beurteilen. Danach ist nicht hilflos, wer nur in relativ geringem Umfange, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist (
vgl. BSG SozR 3-3870 § 4 Nrn. 1 und 12;
BSG SozR 3-3100 § 35
Nr. 6 und vom 10.09.1997 - 9 RV 8/96 - (juris)). Daraus ergibt sich jedoch nicht schon, dass bei einem Überschreiten dieser Mindestgrenze in jedem Fall Hilflosigkeit zu bejahen ist. Ein täglicher Zeitaufwand ist - für sich genommen - vielmehr erst dann erheblich, wenn dieser mindestens zwei Stunden erreicht. Da die Begriffe der Pflegebedürftigkeit (
vgl. §§ 14, 15
SGB XI) und der Hilflosigkeit (
vgl. § 35 BVG, § 33b EStG) nicht völlig übereinstimmen (
vgl. dazu
BSG SozR 3-3870 § 4
Nr. 12), können die zeitlichen Grenzwerte der sozialen Pflegeversicherung zwar nicht unmittelbar übernommen werden, sie lassen sich jedoch als gewisse Orientierungspunkte nutzen. Zusätzlich sind noch die Bereiche der geistigen Anregung und Kommunikation und - ebenfalls anders als grundsätzlich in der Pflegeversicherung (
vgl. BSG SozR 3-3300 § 14
Nr. 8) - Anleitung, Überwachung und Bereitschaft zur Hilfe zu berücksichtigen. Da im Hinblick auf den insoweit erweiterten Maßstab bei der Prüfung von Hilflosigkeit leichter ein größerer Zeitaufwand für fremde Betreuungsleistungen erreicht wird als im Bereich der Grundpflege bei der Pflegeversicherung, ist von einer Zwei-Stunden-Grenze auszugehen, was dem Grundpflegeerfordernis für die Pflegestufe II der Pflegeversicherung entspricht (
vgl. § 15 Absatz 3
Nr. 2
SGB XI).
Um den individuellen Verhältnissen eines Behinderten Rechnung tragen zu können, ist es notwendig, bei der Beurteilung von Hilflosigkeit nicht allein auf den zeitlichen Betreuungsaufwand abzustellen. Vielmehr kommt dabei auch weiteren Umständen der Hilfeleistung, insbesondere ihrem wirtschaftlichen Wert, Bedeutung zu. Dieser Wert wird wesentlich durch die Zahl und die zeitliche Verteilung der Verrichtungen mitbestimmt, bei denen fremde Hilfe erforderlich ist. Denn eine Hilfsperson kann regelmäßig nur für zusammenhängende Zeitabschnitte, nicht jedoch für einzelne Handreichungen herangezogen
bzw. beschäftigt werden. Dieser Umstand rechtfertigt es, Hilflosigkeit im hier geforderten Sinne bereits bei einem täglichen Zeitaufwand für fremde Hilfe zwischen einer und zwei Stunden dann anzunehmen, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege (wegen der Zahl der Verrichtungen
bzw. ungünstiger zeitlicher Verteilung der Hilfeleistungen) besonders hoch ist (
vgl. zum Vorstehenden auch
BSG SozR 4-3250 § 69
Nr. 1).
Bei einer Reihe schwerer Behinderungen, die aufgrund ihrer Art und besonderen Auswirkungen regelhaft Hilfeleistungen in erheblichem Umfang erfordern, kann im Allgemeinen ohne nähere Prüfung angenommen werden, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen von Hilflosigkeit erfüllt sind. Dies gilt stets bei Blindheit und hochgradiger Sehbehinderung, Querschnittslähmung und anderen Behinderungen, die auf Dauer und ständig - auch innerhalb des Wohnraums - die Benutzung eines Rollstuhls erfordern, in der Regel auch bei Hirnschäden, Anfallsleiden, geistiger Behinderung und Psychosen, wenn diese Behinderungen allein einen
GdB von 100 bedingen, und beim Verlust von zwei oder mehr Gliedmaßen, ausgenommen Unterschenkel oder Fußamputation beiderseits, bei der immer eine individuelle Prüfung erforderlich ist (
vgl. Teil A Nr. 4 Buchstaben e) und f) Seite 11, 12 der Anlage zu § 2 VMV).
Diese Definition des Begriffs des Hilflosigkeit ist auch bei Kindern maßgebend (
vgl. BSG SozR 3-3870 § 4
Nr. 1). Allerdings sind bei der Beurteilung der Hilflosigkeit von Kindern und Jugendlichen nicht nur die bei der Hilflosigkeit genannten "Verrichtungen" zu beachten. Auch die Anleitung zu diesen "Verrichtungen", die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung (
z.B. durch Anleitung im Gebrauch der Gliedmaßen oder durch Hilfen zum Erfassen der Umwelt oder zum Erlernen der Sprache) sowie die notwendige Überwachung gehören zu den Hilfeleistungen, die für die Frage der Hilflosigkeit von Bedeutung sind (
vgl. Teil A Nr. 5 Buchstabe a) VG). Bei der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern ist stets nur der Teil der Hilflosigkeit zu berücksichtigen, der wegen der Behinderung den Umfang der Hilflosigkeit eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreitet. Der Umfang der wegen der Behinderungen zusätzlichen notwendigen Hilfeleistungen muss erheblich sein (
vgl. Teil A
Nr. 5 Buchstabe b)
VG). Bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, die angeboren oder im Kindesalter aufgetreten sind, und für sich allein einen
GdB von wenigstens 50 bedingen und bei anderen gleichschweren, im Kindesalter beginnenden Verhaltens- und emotionalen Störungen mit langandauernden erheblichen Einordnungsschwierigkeiten ist regelhaft Hilflosigkeit bis zum 18. Lebensjahr anzunehmen (
vgl. Teil A
Nr. 5 Buchstabe d) Doppelbuchstabe bb)
VG).
Diese Voraussetzungen liegen auch zur Überzeugung der Kammer - wie bereits des Beklagten - aus den oben unter I. dargelegten Gründen vor dem 01.11.2008 nicht vor, weshalb der Beklagte zu Recht auch erst ab diesem Zeitpunkt den Nachteilsausgleich "H" zuerkannt hat. Soweit der sachverständige Zeuge
Dr. Ke. in diesem Zusammenhang ausgeführt hat, der Kläger sei durch seine Autismusspektrums-Störung von Ausgrenzung, mangelnder sozialer Teilhabe trotz guter Intelligenz und weiter bedroht von der Entwicklung einer seelischen Behinderung und Chronifizierung, wenn er nicht für soziale Anforderungen angeleitet und unterstützt werde, und deshalb eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung vorhanden sein müsse, ergibt sich aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein Anhalt dafür, dass eine solche Ausprägung seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch schon vor dem 01.11.2008 bestanden hat. Insoweit wird nochmals auf die Darlegungen unter I. Bezug genommen. Langandauernde erhebliche Einordnungsschwierigkeiten sind hier indes erst ab dem 01.11.2008 erwiesen.
III.
Aus eben diesen Gründen sind die angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden und musste das Begehren des Klägers, soweit er es in der mündlichen Verhandlung am 15.02.2013 noch aufrecht erhalten hat, erfolglos bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193
Abs. 1 und 4
SGG.