Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Anerkennung eines Grades der Behinderung (
GdB) von 80 bereits ab dem 17.10.1990 anstatt, wie von dem Beklagten festgestellt, ab Januar 1999.
Die in Rumänien geborene Klägerin wurde mit Zivilurteil des Kreis-Tribunals X./Rumänien von ihren gesetzlichen Vertretern adoptiert; die Adoption nach deutschem Recht erfolgte mit Beschluss des Amtsgerichts X. vom 02.03.1993.
Nach einem Gutachten der Therapieambulanz "Hilfe für das autistische Kind" Regionalverband X. e.V. leidet die Klägerin an einem Hospitalismus-Syndrom infolge frühkindlicher Erfahrungen, wobei der Hauptschwerpunkt der Problematik in einer gestörten Wahrnehmung liegt. Am 23.12.1999 stellten die Eltern der Klägerin für diese erstmals einen Antrag auf Anerkennung von Behinderungen nach den Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes (
SchwbG). Auf diesen Antrag stellte der Beklagte nach Beiziehung verschiedener medizinischer Befundberichte und Gutachten mit Bescheid vom 20.06.2000 einen
GdB von 50 ab Januar 1999 fest.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch mit der Begründung ein, dass bei ihr nicht nur ein
GdB von 50 vorliege und außerdem der
GdB nicht erst seit Januar 1999 nachgewiesen sei. Im Widerspruchsverfahren holte der Beklagte ein nervenfachärztliches Gutachten von
Dr. N. X (erstattet am 05.08.2000) ein.
Dr. X führte in der Zusammenfassung seines Gutachtens aus, dass bei der Klägerin eine komplexe psychische Behinderung mit sozialen Anpassungsstörungen, Lernbehinderung sowie einer apraktischen Störung vorliege. Der
GdB hierfür betrage 80. Weiterhin seien die Voraussetzungen für die Gewährung der gesundheitlichen Merkzeichen H und B erfüllt. Nach Auswertung dieses Gutachtens durch die Versorgungsärztin
Dr. X.-X ( mit Stellungnahme vom 30.11.2000) bewertete der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07.12.2000 den
GdB mit 80 und erkannte die Voraussetzungen für das Vorliegen der Merkmale G und B an; der weitergehende Widerspruch wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Anerkennung des
GdB von 80 bereits ab dem Zeitpunkt der Geburt am 19.02.1989 nicht gerechtfertigt sei, da keinerlei ärztliche Unterlagen aus rückliegender Zeit vorlägen, die die Schwerbehinderung ab einem früheren Zeitpunkt als dem 01.01.1999 nachweisen würden.
Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 12.01.2001 Klage erhoben. Den im Klageverfahren gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) hat das Sozialgericht für das Saarland (SG) mit Beschluss vom 16.08.2001 mit der Begründung abgelehnt, dass die Klage keine Aussicht auf Erfolg habe.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (
BSG) seien die "Leistungen" nach dem
SchwbG (jetzt: 9. Buch des Sozialgesetzbuchs, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (
SGB IX)) keine Sozialleistungen, die von der zuständigen Behörde erbracht würden. Vielmehr handele es sich in einem weiteren Sinne um verfahrensmäßige "Dienstleistungen" zugunsten der Behinderten mit Außenwirkung gegenüber anderen. Vom Inhalt und von den Rechtswirkungen her seien solche "Leistungen" und damit auch die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nur ab Antrag mit Wirkung für die Zukunft zu treffen. Denn die Rechtsstellung als Schwerbehinderter mit einem bestimmten
GdB könne sich nur in der Zukunft auf die Gestaltung verschiedener Rechtsverhältnisse auswirken. Deshalb fehle es regelmäßig bei Klagen auf rückwirkende Feststellung eines
GdB an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Wenn die Klägerin vortrage, ihren gesetzlichen Vertretern könnten möglicherweise rückwirkend Steuervorteile zufließen, indem eine neue steuerliche Veranlagung beim Finanzamt erreicht werden könne, führe dies nicht dazu, dass ausnahmsweise doch ein rechtliches Interesse an der vorliegenden Klage bejaht werden könnte. Grundsätzlich seien Steuervorteile lediglich eine der möglichen Folgen des feststellenden Verwaltungsaktes. Sie prägten das sozialrechtliche Statusverfahren nicht, das auf die Gesamtheit der Berechtigungen und Nachteilsausgleiche von Schwerbehinderten ausgerichtet sei. Unabhängig von diesem Grundsatz bestünden im vorliegenden Fall schon keine Anhaltspunkte dafür, dass gerade die Klägerin Steuervorteile durch die Anerkennung eines
GdB noch vor Antragstellung haben könne. Denn nach dem ausdrücklichen Vortrag der Klägerin habe sie selbst keine steuerlichen Vorteile; allenfalls ihre gesetzlichen Vertreter könnten eine neue steuerliche Veranlagung beim Finanzamt erreichen. Damit könne die Klägerin selbst nicht geltend machen, ihr persönlich stehe ein rechtliches Interesse an der Feststellung des
GdB ab dem 17.10.1990 zu.
Gegen den am 28.08.2001 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 28.09.2001 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat. Zur Begründung der Beschwerde trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, dass nach einem vorgelegten Schreiben des Steuerberaters X. X. im Falle einer rückwirkenden Anerkennung des
GdB rückwirkend ein Behindertenpauschalbetrag zuerkannt werden könne, der auch zu einer Steuererstattung führen könne. Für den Fall einer Steuererstattung könnte
z.B. das therapeutische Reiten, das nicht von der Krankenkasse bezahlt werde, in erhöhtem Maße in Anspruch genommen werden. Weiterhin könnte sie - die Klägerin - an einer Musiktherapie teilnehmen, die durch den entsprechenden Behindertenpauschbetrag bezahlt werden könnte. Bei der rückwirkenden Zuerkennung eines
GdB von 80 wäre mit einem größeren Steuernachzahlbetrag zu rechnen, der ausschließlich ihr - der Klägerin - zugute käme. Die Klägerin beantragt, ihr unter Aufhebung des Beschlusses des SG vom 16.08.2001 PKH für die Durchführung des Klageverfahrens zu bewilligen und Rechtsanwalt X. X beizuordnen.
Die von der Klägerin eingelegte Beschwerde ist zulässig (
vgl. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz (
SGG) mit Erläuterungen, 6. Aufl. 1998, § 73a Randnr. 12b), aber nicht begründet. Gem. § 73a
Abs. 1
SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (
ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Zu Recht ist das SG im vorliegenden Fall davon ausgegangen, dass die erhobene Klage keine Aussicht auf Erfolg hat, weil die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung eines
GdB von 80 bereits ab dem 17.10.1990 nicht mit Erfolg geltend machen kann. Zwar beginnen der Status des Schwerbehinderten und die Berechtigung zur Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (
vgl. BSG-Urteil vom 07. 11. 2001, Az.: B 9 SB 3/01 R = BSGE 89, 79 = SozR 3-3870 § 59
Nr. 1
m.w.N.) bereits grundsätzlich mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen. Dem entspricht es, dass in § 6
Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 der Ausweisverordnung
SchwbG (
SchwbAwV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.07.1991 (BGBl I Seite 1739), zuletzt geändert durch
Art. 56
SGB IX vom 19.06.2001 (BGBl I Seite 1131), als Beginn der Gültigkeit des Ausweises in der Regel nicht etwa der Tag der behördlichen Feststellung
i.S.d. § 69
Abs. 1 und 4
SGB IX ( zuvor: § 4
Abs. 1 und 4
SchwbG) oder Zeitpunkt der Aushändigung des Ausweises, sondern der Tag des Eingangs des Antrages auf Feststellungen
i.S.d. § 69
SGB IX einzutragen ist, es sei denn, die jeweiligen Voraussetzungen seien zu einem späteren Zeitpunkt eingetreten. Zwar kann nach § 6
Abs. 1 Satz 2
SchwbAwV auf Antrag nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses sogar ein früherer Zeitpunkt als derjenige der Antragstellung eingetragen werden. Ein derartiges besonderes Interesse ist aber in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft allein mit der Begründung begehrt wird, dass für die nachträglichen Anerkennungszeiten noch Steuervorteile gegenüber der Finanzverwaltung geltend gemacht werden könnten, zu verneinen. Denn es ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den Bescheiden, mit denen die Schwerbehinderteneigenschaft festgestellt oder gesundheitliche Merkmale anerkannt werden, nicht um Bewilligungsbescheide über Sozialleistungen
gem. §§ 3ff, 18ff des 1. Buchs des Sozialgesetzbuchs, Allgemeiner Teil (
SGB I) handelt (
vgl. BSG-Urteil vom 29.05.1991, Az.: 9a/9 RVs 11/89 = BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44
Nr. 3). Die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft und des
GdB mag in einem weiten Sinne als verfahrensmäßige "Dienstleistung" zugunsten der behinderten Menschen mit Außenwirkung gegenüber Arbeitgebern, Dienstherrn und Verkehrsunternehmen und verschiedenen Behörden einzuordnen sein. Aber auch durch diese Feststellung entscheidet die Versorgungsbehörde nicht über Sozialleistungen im engeren Sinne; vielmehr beschränkt sich ein Bescheid über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch oder die Höhe des
GdB auf diese feststellende Tätigkeit der Versorgungsbehörde. Soweit es um öffentlich-rechtliche Leistungen geht, auch auf anderen Rechtsgebieten,
z.B. Parkerleichterungen, um die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht oder um Steuererleichterungen, sind andere Behörden als die Versorgungsbehörden für die Gewährungen dieser Leistungen zuständig (
vgl. BSG a.a.O.
m.w.N.).
Auch vom Inhalt und von den Rechtswirkungen her ist die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft oder der Höhe des
GdB grundsätzlich nur ab Antrag mit Wirkung für die Zukunft zu treffen. Das beruht nicht in erster Linie darauf, dass über die erforderlichen gesundheitlichen Voraussetzungen für die Vergangenheit nur schwer Feststellungen zu treffen sind. Denn diesem Gesichtspunkt wird schon dadurch Rechnung getragen, dass ein Antragsteller in jedem Fall das Risiko trägt, dass eine ausreichende Sachaufklärung zu seinen Gunsten nicht mehr möglich ist. Die Rechtsstellung als Schwerbehinderter mit einem bestimmten
GdB kann sich aber nur in der Zukunft auf die Gestaltung verschiedener Rechtsverhältnisse auswirken; der Status verschafft arbeitsrechtliche Vorteile, führt zur Verminderung des Entgelts für zahlreiche Dienst- und Sachleistungen,
z. B. bei der Benutzung von Verkehrsmitteln, eröffnet begleitende Hilfen durch die Bundesanstalt für Arbeit oder das Integrationsamt (früher: Hauptfürsorgestelle) oder vermittelt Kündigungsschutz und längeren Urlaub. Die Klägerin begehrt vorliegend die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nach dem
SGB IX, um die Einkommensteuer ihrer Adoptiveltern zu mindern.
Zum vereinfachten Beweis für das Ausmaß ihrer Behinderungen als Grund für außergewöhnliche Belastungen, die ihre Adoptiveltern gegenüber dem Finanzamt geltend machen wollen, begehrt sie eine entsprechende Entscheidung des Beklagten und einen darauf beruhenden Ausweis (§§ 33, 33b Einkommensteuergesetz (EStG)). Steuerrechtliche Vorschriften würden auch der nachträglichen Berücksichtigung einer Anerkennung als Schwerbehinderter nicht entgegenstehen (§§ 171
Abs. 10, 175
Abs. 1 Abgabenordnung). Denn das Steuerrecht trägt bei sogenannten Grundlagenbescheiden der Tatsache Rechnung, dass sich die Anerkennungsverfahren hinziehen können, besagt aber nichts dafür, ob die Versorgungsbehörden im Anerkennungsverfahren hinter den Zeitpunkt des Antrags zurückzugehen haben. Diese steuerrechtlichen Vorteile stehen auch funktional und systematisch den Sozialleistungen nahe, sodass gerade für sie rückwirkende Berichtigungen nicht ausgeschlossen werden müssten. Steuervorteile sind aber, auch wenn sie Anlass zu einem Feststellungs-, also Statusverfahren gegeben haben, nur eine der möglichen Folgen des feststellenden Verwaltungsaktes. Sie prägen das sozialrechtliche Statusverfahren nicht, das auf die Gesamtheit der Berechtigungen und Nachteilsausgleiche von Schwerbehinderten ausgerichtet ist. Die Statusänderung wirkt daher prinzipiell nur in die Zukunft; eine beschränkte Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung (§ 6
Abs. 1 Satz 1
SchwbAwV) trägt dem Interesse der behinderten Menschen daran Rechnung, dass sie nicht durch die Dauer eines Verwaltungsverfahrens unzumutbar benachteiligt werden. Nach Antragstellung können sie auch bei allen wesentlichen Belangen bereits auf ein laufendes Verfahren zur Anerkennung hinweisen. Die weitere Rückwirkung eines Antrags, wie sie in § 6
Abs. 1 Satz 2
SchwbAwV vorgesehen ist, muss daher auf offenkundige Fälle beschränkt werden (
vgl. BSG a.a.O.). Ein derartiger "offenkundiger Fall" ist vorliegend aber nicht gegeben. Bei der Beurteilung der Hilflosigkeit von Kindern und Jugendlichen ist nach Ziff. 22
Abs. 2 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Neufassung 1996 ("Anhaltspunkte") nämlich stets nur der Teil der Hilfsbedürftigkeit zu berücksichtigen, der wegen der Behinderung den Umfang der Hilfsbedürftigkeit eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreitet, wobei der Umfang der wegen der Behinderungen notwendigen zusätzlichen Hilfeleistungen erheblich sein muss. Im Hinblick darauf könnte die Frage, welcher
GdB in der Zeit vom 17.10.1990 bis 31.12.1998 zutreffend gewesen wäre, nur durch Einholung eines oder mehrerer fachärztlicher Gutachten unter Berücksichtigung und Würdigung sämtlicher von den Klägerbevollmächtigten vorgelegten medizinischen Unterlagen beantwortet werden; jedenfalls ist es anhand der vorgelegten Unterlagen nicht schon offenkundig, dass in dem streitbefangenen Zeitraum durchgehend ein
GdB von 80 zutreffend gewesen wäre. Die Beschwerde war daher zurückzuweisen, ohne dass es, worauf das SG entscheidend abgestellt hat, darauf ankäme, dass die Klägerin selbst keine Steuervorteile geltend machen kann, sondern diese allenfalls ihren Eltern zugute kommen können. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177
SGG).