Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 und 151 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht Landshut hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 04.04.2007 zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung L. vom 01.02.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 21.07.2005 ist zutreffend ergangen. Dem Kläger steht für den streitgegenständlichen Zeitraum 01.10.2002 bis 31.12. 2003 keine Bescheinigung zur Vorlage bei den Steuerbehörden gemäß § 33b des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu.
Menschen sind gemäß
§ 2 Abs.1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Menschen sind gemäß § 2
Abs.2
SGB IX im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein
GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des
§ 73 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den
GdB fest. Das KOV-VfG ist entsprechend anzuwenden, soweit nicht das
SGB X Anwendung findet. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als
GdB nach 10-er Graden abgestuft festgestellt. Die im Rahmen des § 30
Abs.1 BVG festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein
GdB von wenigstens 20 vorliegt (
§ 69 Abs.1 SGB IX).
Die eingangs zitierten Rechtsnormen werden durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996
bzw. 2004 und 2005" ausgefüllt. Wenngleich diese Verwaltungsvorschriften, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, für das Gericht nicht zwingend bindend sind, werden sie dennoch regelmäßig zur Gesetzesauslegung und als wertvolle Entscheidungshilfe herangezogen. Das Gebot der Gleichbehandlung, wie es in
Art. 3
Abs. 1 des Grundgesetzes (
GG) normiert ist, erfordert es auch in diesem Fall, keinen anderen Bewertungsmaßstab als den üblichen anzulegen (
vgl. Urteil des 9a Senats des
BSG vom 29.08.1990 -
9a/9 RVs 7/89 in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1991,
S.227
ff. zu "Anhaltspunkte 1983").
Mit Urteilen vom 23.06.1993 -
9/9a RVs 1/91 und 9a/9 RVs 5/92 (ersteres publiziert in BSGE 72, 285 = MDR 1994
S. 78, 79) hat das
BSG wiederholt dargelegt, dass den "Anhaltspunkten 1983" keine Normqualität zukommt; es handelt sich nur um antizipierte Sachverständigengutachten. Sie wirken sich in der Praxis der Versorgungsverwaltung jedoch normähnlich aus. Ihre Überprüfung durch die Gerichte muss dieser Zwitterstellung Rechnung tragen. - Die "Anhaltspunte 1983" haben sich normähnlich entwickelt nach Art der untergesetzlichen Normen, die von sachverständigen Gremien kraft Sachnähe und Kompetenz gesetzt werden. Allerdings fehlt es insoweit an der erforderlichen Ermächtigungsnorm sowie an klaren gesetzlichen Vorgaben und der parlamentarischen Verantwortung hinsichtlich der Besetzung des Gremiums sowie der für Normen maßgeblichen Veröffentlichung. - Hinsichtlich der richterlichen Kontrolle der "Anhaltspunkte 1983" ergeben sich Besonderheiten, ungeachtet der Rechtsqualität der "Anhaltspunkte 1983". Sie sind vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben zu messen. Sie können nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden; die Gerichte sind insoweit prinzipiell auf eine Evidenzkontrolle beschränkt. Eine solche eingeschränkte Kontrolldichte wird in der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Regelungsbereiches und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber begründet (
vgl. Papier, DÜV 1986,
S.621
ff. und in Festschrift für Ule, 1987,
S.235
ff.). Eine solche Beschränkung in der gerichtlichen Kontrolle ist auch für die "Anhaltspunkte 1983" geboten, weil sonst der Zweck der gleichmäßigen Behandlung aller Behinderten in Frage gestellt würde.
Das Bundesverfassungsgericht (
BVerfG) hat mit Beschluss vom 06.03.1995 -
1 BvR 60/95 (
vgl. NJW 1995,
S. 3049, 3050) die Beachtlichkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983" im verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren als "antizipierte Sachverständigengutachten" bestätigt. Der in
Art.3 des Grundgesetzes (
GG) normierte allgemeine Gleichheitssatz gewährleistet innerhalb des § 3
SchwbG nur dann eine entsprechende Rechtsanwendung, wenn bei der Beurteilung der verschiedenen Behinderungen regelmäßig gleiche Maßstäbe zur Anwendung kommen. - Entsprechendes gilt auch für die neu gefassten "Anhaltspunkte 1996", die die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse und Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen, die Rechtsprechung des
BSG, zwischenzeitliche Änderungen der Rechtsgrundlagen sowie Erfahrungen bei der Anwendung der bisherigen "Anhaltspunkte 1983" eingearbeitet haben (
BSG mit Urteil vom 18.09.2003 -
B 9 SB 3/03 R in SGb 2004
S.378)
bzw. nunmehr die "Anhaltspunkte 2004 und 2005".
Ergänzend ist auf § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren (
SGB X) hinzuweisen, der die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes regelt.
Hiervon ausgehend ist auf Rz.26.18 der "Anhaltspunkte 1996" zu verweisen: Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurzdauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) bedingen einen
GdB von 10. Ein
GdB von 20 ist vorgesehen für Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome). Bei schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsyndrome) bedingen einen
GdB von 30. Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten bedingen einen
GdB von 40.
Das BayLSG verkennt nicht, dass der Kläger aufgrund des Autounfalles im August 2000 Frakturen im Bericht BWK 12,
LWK 1 und
LWK 2 erlitten hat (
vgl. Arztbericht von
Dr.S. vom 07.11.2003).
Dr.S. hat jedoch mit ärztlichem Attest vom 16.11.2003 ausgeführt, dass es bei dem Kläger durch den Unfall zu einer vermehrten Kyphosierung am lumbo-sakralen Übergang gekommen ist. Röntgenologisch hat sich noch eine leichte Keilwirbelbildung bei L 2 mit ventraler Höhenminderung etwa 1/4, eine deutliche Osteochondrose in allen Segmenten sowie eine deutliche Höhenminderung L 2 und L 1 ventral gefunden, jedoch kein Bandscheibenvorfall. Entsprechend Rz.26.18 der "Anhaltspunkte 1996" ist die Funktionsstörung der Wirbelsäule zu dem damaligen Zeitpunkt zutreffend mit einem
GdB von 20 bewertet worden.
Erstmalig die Gemeinschaftspraxis
Dr.G.E. hat mit Arztbericht vom 04.03.2004 zusätzlich auf deutliche Veränderungen der Halswirbelsäule im oberen HWS-Anteil hingewiesen, vornehmlich im Atlantooccipital- und Atlantoaxialgelenk. Nach dem nunmehr Funktionsbeeinträchtigungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten nachweislich bestanden haben, ist der
GdB ab dem Antragsdatum 16.01.2004 mit 30 zutreffend festgestellt worden.
Auch die mit Schriftsatz vom 25.10.2007 eingereichten weiteren Unterlagen der radiologischen Praxis "M." und des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder R. stützen das Klagebegehren nicht. Wenn dort auf klinische Angaben des Kläger Bezug genommen wird (Zustand nach HWS- Trauma in 2000; Densfraktur Anderson Typ II), bedingen diese aktuellen Angaben des Klägers nicht zwingend auch das Vorliegen entsprechender Funktionsstörungen oder Funktionsausfälle in den Jahren 2002 und 2003. Nach Auffassung des erkennenden Senats kommt den zeitnahen Arztbriefen von
Dr.S. vom 07.11.2003,
Dr.S. vom 16.11.2003 und der Gemeinschaftspraxis
Dr.G.E. vom 04.03.2004 wesentlich mehr Gewicht zu. Der Vergleich der vorstehend genannten zeitnahen ärztlichen Unterlagen ergibt vielmehr, dass sich über den Jahreswechsel 2003/ 2004 eine wesentliche Zunahme der Funktionseinbußen im Bereich der Wirbelsäule insoweit eingestellt hat, als neben den Folgen des Autounfalles 2000 vor allem im LWS-Bereich sich nunmehr auch eine relevante Funktionsstörung im Bereich der HWS manifestiert hat. Dieser Sachverhaltsänderung im Sinne von § 48
Abs.1
SGB X hat der Beklagte zutreffend mit einer Anhebung des
GdB von 20 einschließlich des Jahres 2003 auf 30 beginndend ab Januar 2004 Rechnung getragen.
Die Folgen der Dekompressionsoperation vom 13.11.2003 im Bereich der linken Schulter haben auf Dauer eine Funktionsbehinderung des Schultergelenks links mit sich gebracht, welche gemäß Rz.26.18 der "Anhaltspunkte 1996, 2004 und 2005" mit einem
GdB von 10 zutreffend berücksichtigt worden ist. Eine Anhebung des Gesamt-
GdB resultiert hieraus jedoch nicht. Denn nach Rz.19
Abs.4 der "Anhaltspunkte 1996, 2004 und 2005" führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen
GdB-Grad von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem
GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Es ist somit nicht veranlasst, den bestandskräftigen Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung L. vom 10.12. 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 18.02.2003 gemäß § 44
Abs.2 des
SGB X aufzuheben. Das Bundessozialgericht (
BSG) hat bereits mit Urteil vom 29.05.1991 -
9a/9 RVs 11/89 (BSGE 69, 14-20) grundlegend ausgeführt: Die Sonderregelungen des § 44
Abs.1 und 4
SGB X, die zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte auch für die Vergangenheit verpflichten, beschränken sich auf Verwaltungsakte, die ausschließlich über die Gewährung von Sozialleistungen entscheiden. Andere Feststellungen nach dem
SchwbG (
z.B. rückwirkende Anerkennung zwecks einkommensteuerrechtlicher Vergünstigungen) sind auch in Verbindung mit der Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheides zu Gunsten des Betroffenen grundsätzlich nur für die Zukunft zu treffen; die Rückwirkung liegt im Ermessen der Verwaltung. Bei der Feststellung des Schwerbehindertenstatus ist die Beschränkung der Rückwirkung auf vier Jahre nicht ermessensfehlerhaft, wenn das Finanzamt eine mehr als vier Jahre zurückreichende
MdE (nunmehr:
GdB) anerkennen würde.
Nachdem hier bereits die Voraussetzungen von § 44
Abs.1
SGB X nicht gegeben sind, ist es unschädlich, wenn der Beklagte das ihm gemäß § 44
Abs.2
SGB X obliegende Ermessen nicht ausgeübt hat. Dem Kläger steht eine Steuerbescheinigung im Sinne von § 33b EStG für den streitgegenständlichen Zeitraum 01.10.2002 bis 31.12.2003 somit nicht zu.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193
SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160
Abs.2 Nrn.1 und 2
SGG).