Urteil
Berücksichtigung geringer Funktionsbehinderungen bei der Bildung eines Gesamt-GdB

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat


Aktenzeichen:

L 13 SB 47/08


Urteil vom:

12.05.2011


Grundlage:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Januar 2008 wird zurückgewiesen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des beim Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).

Für den 1946 geborenen Kläger stellte der Beklagte 1999 einen GdB von 20 fest. Auf einen Neufeststellungsantrag des Klägers vom November 2001 stellte der Beklagte mit bestandskräftigen Bescheid vom 29. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. August 2002 neben den bereits anerkannten Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und einem Magenleiden zusätzlich eine rezidivierende Bronchitis, ein Prostataleiden sowie Hämorrhoiden mit Fettstoffwechselstörung als weitere den Gesamt-GdB nicht erhöhende Funktionsbeeinträchtigungen fest.

Auf einen weiteren Neufeststellungsantrag vom 13. November 2003 holte der Beklagte ein versorgungsärztliches Gutachten des ärztlichen Gutachter vom 23. Februar 2004 ein, der unter Anerkennung von weiteren Funktionsbeeinträchtigungen durch eine Sehbehinderung sowie eine Hörbehinderung und Ohrgeräusche, die er jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet, einen Gesamt-GdB von 20 feststellte. Dem folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 07. April 2004 den Antrag ab und verwies darauf, dass die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen mit dem Gesamt-GdB von 20 hinreichend berücksichtigt worden seien. Auf den dagegen vom Kläger am 05. Mai 2004 eingelegten Widerspruch holte der Beklagte ein weiteres versorgungsärztliches Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie - Sozialmedizin - G vom 12. August 2004 ein. Die Fachärztin stellte eine weitere Funktionseinschränkung durch chronische Kopfschmerzen und Depressionsneigung fest, die sie mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete und unter Berücksichtigung dessen einen Gesamt-GdB von 30 ansetzte. Dem folgend gab der Beklagte dem Widerspruch des Klägers unter Zurückweisung im Übrigen mit Widerspruchsbescheid vom 09. September 2004 teilweise statt und stellte einen Gesamt-GdB von 30 fest. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde (verwaltungsintern jeweils die zugeordneten Einzel-GdB):

a) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (20)
b) seelische Störung, chronische Kopfschmerzen (20)
c) chronische Magenschleimhautentzündung (10)
d) Prostataleiden (10)
e) Hämorrhoidenleiden, Fettstoffwechselstörung (10)
f) Beeinträchtigung des Sehvermögens (10)
g) Ohrgeräusche /Tinnitus (10)
h) rezidivierende Bronchitis (10).

Der Kläger hat am 07. Oktober 2004 dagegen beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben, mit der er die Gewährung eines GdB von 50 geltend machte. Nach Einholung diverser Befundberichte und einer vom Beklagten veranlassten augenärztlichen Begutachtung durch Dr. , der in seinem Gutachten vom 17. Oktober 2005 für die Beeinträchtigung des Sehvermögens einen Einzel-GdB von 10 feststellte, hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. Januar 2008 unter Auswertung der aktenkundigen Befundberichte gestützt auf die dazu erfolgten versorgungsärztlichen Begutachtungen und Stellungnahmen abgewiesen. Die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers seien mit dem zuerkannten Gesamt-GdB von 30 hinreichend bemessen.

Gegen den am 12. Februar 2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 01. März 2008 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung verweist der Kläger darauf, dass ein Gesamt-GdB von 50 bereits unter Berücksichtigung der folgenden Einzelkomplexe festzustellen wäre:
1. Wirbelsäulenleiden anzusetzen mit einem Einzel-GdB von 30,
2. seelischen Leiden anzusetzen mit einem Einzel-GdB von 40 sowie
3. eine Hirnleistungsminderung, welche unter Verweis auf ein im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg erstelltes Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K vom 17. Januar 2007 mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 anzusetzen sei. Darüber hinaus kämen ferner noch die weiteren aktenkundigen Beeinträchtigungen hinzu.

Der Beklagte hat nach Einholung weiterer versorgungsärztlicher Stellungnahmen zum Vorbringen des Klägers und den vom Senat zur Sachaufklärung eingeholten Befundberichten mit Bescheid vom 09. Juli 2009 ab 01. November 2008 einen GdB von 40 anerkannt und dem die im Widerspruchsbescheid vom 09. September 2004 festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen unverändert zugrunde gelegt. Die Anhebung des GdB resultierte aus einem für die seelische Störung, chronische Kopfschmerzen angesetzten Einzel-GdB von nunmehr 30 statt 20. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen und verfolgt sein Begehren auf Zuerkennung eines GdB von 50 weiter.

Mit Beweisanordnung vom 28. Dezember 2009 hat der Senat zur weiteren Sachaufklärung Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrisch-psychosomatischen Gutachtens der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. L, die im Gutachten vom 2. Mai 2010 auf ihrem Fachgebiet eine mittelgradige depressive Episode F 32.1 feststellt und dafür einen Einzel-GdB von 30 ansetzt. Unter Berücksichtigung der weiteren Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 20 sowie der chronischen Magenschleimhautentzündung, des Prostataleidens, des Hämorrhoidenleidens / Fettstoffwechselstörung, der Beeinträchtigung des Sehvermögens, der Ohrgeräusche und der rezidivierenden Bronchitis jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 stellt die Sachverständige einen Gesamt-GdB von 40 fest.

Unter dem 08. Juli 2010 hat der Kläger beim Beklagten insbesondere unter Verweis auf ein Prostatakarzinom einen Neufeststellungsantrag gestellt. Er hat insoweit den an die Deutsche Rentenversicherung gerichteten ärztlichen Entlassungsbericht der M Klinik vom 11. August 2010 eingereicht. Der Beklagte holte daraufhin eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme der Ärztin vom 11. Februar 2011 ein, die einen Gesamt-GdB von 80 feststellte, dem sie neben den bereits anerkannten Funktionsbeeinträchtigungen zusätzlich die Erkrankung der Prostata in Heilungsbewährung mit einem Einzel-GdB von 80 zugrunde legte. Ferner setzte sie für die Ohrgeräusche und eine Schwerhörigkeit links einen Einzel-GdB von 20 statt 10 an. Nach Einholung einer weiteren Stellung der Prüfärztin Dr. vom 21. Februar 2011 zur Höhe des Gesamt-GdB hob der Beklagte mit Bescheid vom 21. März 2011 den GdB ab 01. Juli 2010 auf 90 an.

Der Kläger hat das weitere Teilanerkenntnis angenommen und verfolgt sein Begehren auf Feststellung eines GdB von 50 beschränkt auf den Zeitraum vom 01. November 2006 bis 30. Juni 2010 weiter. Er verweist auf einen nur mangels Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft mit Abschlägen versehenden Rentenbezug ab 01. November 2006. Ein entsprechendes Verfahren zur Rentenhöhe sei angesichts des hiesigen Verfahrens ruhend gestellt worden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. Januar 2008 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 07. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09. September 2004 in der Fassung der Bescheide vom 07. Juli 2009 und 21. März 2011 zu verpflichten, für die Zeit vom 01. November 2006 bis 30. Juni 2010 einen GdB von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine Entscheidung unter Berücksichtigung der Anhebung des GdB ab November 2008 von 30 auf 40 sowie ab Juli 2010 auf 90 für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz - SGG - zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben, jedoch unbegründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. Januar 2008 für den noch streitbefangenen Zeitraum vom 1. November 2006 bis 30. Juni 2010 abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 07. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09. September 2004 in der Fassung der Bescheide vom 09. Juli 2009 und 21. März 2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat für den noch streitgegenständlichen Zeitraum keinen Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 50.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als 6 Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipiertes Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 2005 und - zuletzt - 2008. Seit dem 01. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412) festgelegten "versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP - ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre - abgelöst haben.

Der Kläger ist danach durch den seitens des Beklagten im streitbefangenen Zeitraum vom 01. November 2006 bis 30. Juni 2010 zuerkannten Gesamt-GdB von 40 nicht in seinen subjektiven Rechten verletzt. Die Voraussetzungen für die Feststellung des begehrten GdB von 50 lassen sich nicht nachweisen. Das Sozialgericht hat für den noch streitbefangenen Zeitraum mit Recht die begehrte Zuerkennung eines GdB von 50 insbesondere gestützt auf die Feststellungen der versorgungsärztlichen Gutachter und G sowie Dr. D abgelehnt. Auf die insoweit zutreffende Begründung des angefochtenen Gerichtsbescheides vom 30. Januar 2008 wird nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen.

Im Berufungsverfahren hat der Beklagte den sich nach der erstinstanzlichen Entscheidung geänderten gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers mit Anhebung des GdB von 30 auf 40 zum 01. November 2008 und auf 90 zum 01. Juli 2010 hinreichend Rechnung getragen. Die danach noch begehrte Zuerkennung eines GdB von 50 für den Zeitraum vom 01. November 2006 bis 30. Juni 2010 kann der Kläger indes nach den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen Dr. nicht beanspruchen. Die Sachverständige Dr. L hat in ihrem Gutachten vom 02. Mai 2010 den vom Beklagten mit Bescheid vom 07. Juli 2009 ab 01. November 2008 festgestellten Gesamt-GdB von 40 bestätigt. Nach den Ausführungen der Sachverständigen liegt beim Kläger ab November 2008 eine mittelgradige depressive Episode F 32.1 vor, die einem Einzel-GdB von 30 entspricht und unter Berücksichtigung eines festgestellten Einzel-GdB für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule von 20 zu einer Anhebung des Gesamt-GdB von 30 auf 40 ab diesem Zeitpunkt führt. Die übrigen von der Sachverständigen festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen wie die chronische Magenschleimhautentzündung, das Prostataleiden, das Hämorrhoidenleiden/Fettstoffwechselstörung, die Beeinträchtigung des Sehvermögens, der Ohrgeräusche und der rezidivierenden Bronchitis werden von ihr mit einem den Gesamt-GdB nicht erhöhenden Einzel-GdB von jeweils 10 bewertet. Für die Zeit von November 2003 bis Oktober 2008 und somit mithin auch für die ab 01. November 2006 bis 31. Oktober 2008 streitbefangene Zeit bestand nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. L beim Kläger lediglich eine leichte depressive Episode, so das angesichts dessen für die psychiatrische Funktionsbeeinträchtigung kein höherer als der vom Beklagten insoweit angenommenen Einzel-GdB von 20 anzusetzen ist (vgl. AHP 2005 und 2008 S. 48 sowie VersMedV S. 27).

Unter Berücksichtigung der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen ist die vom Kläger begehrte Bildung eines Gesamt-GdB von 50 nicht möglich. Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach § 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3 c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Für den Zeitraum vom 01. November 2006 bis 31. Oktober 2008 ist danach unter Berücksichtigung eines Einzel-GdB von jeweils 20 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und für die psychiatrische Beeinträchtigung ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden. Für den folgenden Zeitraum vom 01. November 2008 bis zum 30. Juni 2010 ist unter Berücksichtigung eines Einzel-GdB von 30 für das psychiatrische Leiden und eines Einzel-GdB von 20 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule ein Gesamt-GdB von 40 angemessen. Die im gesamten streitbefangenen Zeitraum vom 01. November 2006 bis 30. Juni 2010 ferner vorliegenden weiteren Funktionsbehinderungen sind nicht geeignet, den jeweiligen Gesamt-GdB von 30 bzw. 40 zu erhöhen, da sie jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind. Denn nach § 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3 d der Anlage zu § 2 VersMedV führen zusätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaße der Gesamtbeeinträchtigung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst, wobei zu berücksichtigen war, dass der Beklagte den geänderten gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers durch Anhebung des GdB mit Bescheiden vom 07. Juli 2009 und 21. März 2011 von selbst hinreichend Rechnung getragen hat.

Die Revision war mangels Vorliegen der Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht zuzulassen.

Referenznummer:

R/R3748


Informationsstand: 09.12.2011